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Sozialpolitik adé? Sonderparteitag der SPD

Remme: Hinter der Agenda 2010 verbirgt sich die Reformpolitik von Bundeskanzler Gerhard Schröder. Diese Politik ist an der Basis offenbar umstrittener als zunächst geglaubt. Die Basis hat sich durchgesetzt mit ihrer Forderung nach einem Sonderparteitag. Diese Forderung wird jetzt praktisch von der Parteispitze, vom Vorsitzenden selbst, übernommen. Zur Zeit findet eine SPD-Präsidiumssitzung statt, auf der der Bundeskanzler einen entsprechenden Vorschlagtermin Ende Mai machen will. Inhaltlich will er jedoch nicht abrücken von dem, was er vorhat: eine grundlegende Reform der Sozialsysteme. Ich bin jetzt verbunden am Telefon mit Friedhelm Farthmann, ehemaliger SPD-Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen, auch Sozialminister in diesem Bundesland. Guten Tag, Herr Farthmann. Die Parteiführung wollte ja diesen Sonderparteitag erst nicht und nach Protesten von unten jetzt doch. Verlieren die Genossen in Berlin den Kontakt zur Basis?

    Farthmann: Nein, das kann man so nicht sagen. Sie wollen diesen Parteitag natürlich nicht. Mit ihrer so genannten Agenda 2010 - woher auch immer dieser Name kommt, aber das spielt auch keine Rolle - sind ja erhebliche sozialpolitische Veränderungen verbunden im Sinne von härteren, strammeren Vorschriften. Man kann auch sagen, von sozialpolitischen Verschlechterungen. Die müssen aber sein, das will keiner riskieren, deswegen wollte man einen Parteitag vermeiden. Wenn man aber spürt, dass der Druck an der Basis zu groß ist, dann ist es aus taktischen Gründen natürlich richtig - das kann ich nur begrüßen -, dass dann der Parteitag stattfindet, damit nicht noch der Eindruck entsteht, als ob die Spitzen etwas zu verbergen hätten. Dann wird natürlich der Widerstand eher noch schlimmer.

    Remme: War es aber nicht kurzsichtig, sich um so einen Parteitag herummogeln zu wollen, nur um das Risiko nicht einzugehen? Die Proteste wären ja geblieben.

    Farthmann: Ich muss ganz offen sagen, ich hätte auch nicht erwartet, dass sich noch ein so starker Widerstand organisieren würde. Ich hatte den Eindruck, die Genossen hätten begriffen, was die Stunde geschlagen hat. Dass einige nicht einsehen wollen, was nötig ist im Interesse unseres Landes und auch im Interesse des Überlebens der SPD, daran besteht ja nicht der geringste Zweifel. Dass diese Änderungen kommen müssen, das weiß jeder. Das ist bitter, und auch ich sage das mit Bitterkeit - ich bin ja sozusagen gelernter Sozialpolitiker und habe auch oft für diese Dinge mit heißem Herzen und Wangen gekämpft -, aber die Globalisierung hat uns vor völlig neue Herausforderungen gestellt. Wer das nicht begreift, den wird das Leben bestrafen.

    Remme: Herr Farthmann, gerade melden die Agenturen den Termin. Es soll also der 1. Juni werden für diesen Sonderparteitag in Berlin. Dennoch soll parallel dazu ein Mitgliederbegehren durchgeführt werden. Die Initiatoren warnen davor, diesen Ärger zu unterschätzen. Sie sagen, viele altgediente Mitglieder werfen uns die Parteibücher vor die Füße. Nun mag das vor allem in Regionen gelten, wo auch krasse Wahlniederlagen zu verzeichnen waren, wie Niedersachsen, Hessen, Schleswig-Holstein. Erleben Sie das auch so drastisch?

    Farthmann: Ja, das ist für die SPD natürlich sozusagen die Jahrhundertwende in ihrer Programmatik, denn die SPD ist seit Gründung her eine sozialpolitisch organisierte Partei gewesen. Das ist immer ihre Trumpfkarte gewesen. Auch von den Wählern ist ihr immer die größte Kompetenz auf dem Felde der Sozialpolitik zugeschrieben worden. Damit hat sie auch die größten Erfolge erzielt. Dass sie davon Abschied nehmen muss, dass also mit der Sozialpolitik in Zukunft kein Kampf mehr zu gewinnen sein wird, ist eine ganz bittere Erkenntnis und für die Sozialdemokratie schwerer als für jede andere deutsche Partei. Da müssen wir ihr alle bei helfen, glaube ich, auch die Bürger. Aber anzunehmen, man käme um diese Wende herum, um diesen Knick in der sozialpolitischen und programmatischen Entwicklung- daran darf nicht der geringste Zweifel aufkommen.

    Remme: Jetzt sagt Fraktionschef Müntefering und auch Generalsekretär Scholz, der Sonderparteitag werde natürlich den Kanzler mit einer überwältigenden Mehrheit in seinen Plänen bestätigen. Ist das ein Pfeifen im Walde?

    Farthmann: Das mag ein wenig so sein. Ich glaube aber schon, dass es realistisch ist. Eigentlich war das bisher in der Partei immer so. Ich habe mich früher auch manchmal darüber geärgert, wie autoritätshörig doch unsere biederen Genossen vor Ort sind. Die gehen nach dem Motto: Wenn ihr das sagt, dann wird uns wohl nichts anderes übrigbleiben. Dann müssen wir das wohl tun. Ich glaube, dass das eher die Stimmung ist. Es ist bitter, und viele sind traurig darüber. Viele spüren auch, dass damit ihre künftige Argumentation viel schwerer wird, denn die SPD muss sich natürlich fragen, was denn künftig ihre Trumpfkarte ist, wenn es die Sozialpolitik nicht mehr sein kann. Das ist alles sehr schwierig, und das wird keine fröhliche Veranstaltung sein. Ich glaube aber doch, dass mit ganz großer Mehrheit - das ist meine persönliche Überzeugung - unsere Partei das absegnen wird, weil uns nichts anderes übrig bleibt, und weil das auch begriffen wird.

    Remme: Kommen wir doch mal kurz auf das Inhaltliche, Herr Farthmann. Streichung des Krankengeldes, Verschlechterung bei Arbeitslosengeld und Arbeitslosenhilfe, Abbau Kündigungsschutz - kann denn das alles wirklich ein Rezept für die Binnenkonjunktur sein?

    Farthmann: Ob es das ist, ist gar nicht so entscheidend. Das Entscheidende ist doch - und das ist das, was wir sehen müssen -, seit der Globalisierung ist die Sozialpolitik nicht mehr Bestandteil des innerdeutschen Verteilungskampfes, sondern wir stehen auf dem internationalen Prüfstand. Wenn Daimler-Benz ein neues Automobilwerk baut, dann rechnen die Experten die Investitionsfonds, die das Kapital dafür geben, bis zur Stelle hinter dem Komma, wo die Investition die größte Kapitalrendite hat. Die Kapitalrendite ist sozusagen im Wettbewerb, und da dürfen wir nicht wettbewerbsunfähig werden. Dann wird bei uns nicht mehr investiert, das ist das Entscheidende.

    Remme: Das heißt, die SPD schwenkt in Sachen Sozialpolitik die weiße Fahne?

    Farthmann: Nein, das ist nicht die weiße Fahne - der Eindruck darf auch nicht entstehen -, sondern das heißt, unsere sozialpolitischen Sonderleistungen sind vorbei. Wir müssen uns heute dem internationalen Wettbewerb stellen, was Kosten anbetrifft. In der Sozialpolitik gab es immer Kosten. Dabei ist unsere hohe Arbeitsproduktivität ein positiver Faktor, aber unter dem Strich muss die Rechnung stimmen, und deswegen können wir uns keine sozialpolitischen Extratouren mehr leisten. Das heißt in der Sozialpolitik: Halte, was du hast, wenn es geht. Offensiven sind damit aber nicht mehr zu gewinnen.

    Remme: Herr Farthmann, zum Schluss: In den letzten Jahren hatte es den Anschein, die SPD-Linke sei als einflussreicher Parteiflügel auf einen kleinen Rest zusammengeschmolzen. Könnte diese Debatte eine Art Wiederbelebung auslösen?

    Farthmann: Das Gefährliche an dieser Debatte ist, dass das nicht nur eine Frage der Linken ist. Die Linken springen auf den Zug. Sie sind ja im Grunde nie so besonders sozialpolitisch ausgerichtet gewesen. Eigentlich ist unsere Kerntruppe, die gewerkschaftlich organisierte Arbeitnehmerschaft, diejenige, die jetzt unter Umständen auch irritiert ist und diesen Sprung tun muss. Für die Gewerkschaften eine ungeheuer schwierige Strapaze. Deswegen kann es hier schon zu einem Bündnis kommen zwischen Linken und Altsozialdemokraten, Stammsozialdemokraten. Das macht die Sache etwas gefährlich und riskant. Ich hoffe aber trotzdem auf die Vernunft unserer Partei.

    Remme: Friedhelm Farthmann war das, ehemaliger Sozialminister und SPD-Fraktionschef in Nordrhein-Westfalen. Herr Farthmann, vielen Dank.

    Farthmann: Bitte sehr.