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Sozialpolitik
Wie Hartz IV Deutschland verändert hat

Vor zehn Jahren hob die rot-grüne Regierung die Hartz-IV-Gesetze aus der Taufe - mit fundamentalen Folgen für die Bundesrepublik: Die deutsche Gesellschaft ist heute stärker als zuvor in Arme und Reiche gespalten, konstatieren Statistiker und Armutsforscher.

Von Anja Arp | 01.01.2015
    Jobcenter in Leipzig
    Der Gang zum Jobcenter ist für viele Menschen hart. (dpa / Waltraud Grubitzsch)
    Der Sänger Gerd Köster bringt ein vielfach verbreitetes Vorurteil auf den Punkt:
    "Ich bin die verkommene Ratte in der sozialen Hängematte. Dass ihr mich finanziert, nee, das hat mich nie geniert."
    Schaut man sich aber zum Beispiel bei der Tafel in Köln-Buchheim um, dann ergibt sich ein vollkommen anderes Bild. Auf dem Gelände der katholischen Kirchengemeinde St. Mauritius stellen sich Woche für Woche vor allem alte Menschen mit ihren Rollkoffern vor dem weißen Zelt auf dem Hinterhof der Kirche an. Hier warten sie, um ihre Rollkoffer voll Lebensmittel zu laden. Zum Beispiel Luise Müller – die Redaktion hat den Namen geändert:
    "Ich bin 75 und wohne in Buchheim."
    Die Rentnerin war zuvor ein Leben lang als Haushälterin berufstätig. Heute langt ihre kleine Rente hinten und vorne nicht. Deshalb geht die gepflegte alte Dame mit Haardutt jede Woche zur Tafel:
    "Weil meine Rente klein ist. Wir sind damals übergesiedelt, '87, und da wird die Arbeit vom Osten nicht so anerkannt. Und habe eine kleine Rente. Und bekomme den Rest vom Sozialamt."
    Die 75-jährige ehemalige Haushälterin muss ihre Rente mit der Grundsicherung aufstocken. Und immer, wenn ihre Rente ein bisschen steigt, dann schlägt das Jobcenter zu:
    "Das nimmt das Sozialamt mir wieder weg und verrechnet es, sodass ich immer auf die 300 Grundsicherung komme. Ob ich jetzt Rente 100 mehr kriege oder nicht, habe ich es dann wieder weniger. Braucht das Sozialamt weniger zahlen. Sodass ich immer auf meine 800 und noch was komme. Die Miete kostet schon 417."
    Butterwegge: Tiefe Zäsur in der Entwicklung des Wohlfahrtsstaats
    Seit Hartz IV vor zehn Jahren eingeführt wurde, hat sich die Situation für viele Betroffene erheblich verschlechtert. Christoph Butterwegge lehrt Politikwissenschaften an der Universität zu Köln. Er hält Hartz IV für ein Synonym für den Abbau sozialer Leistungen und die tiefste Zäsur in der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates nach 1945:
    Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge von der Universität Köln spricht am 13.03.2013 in der Bundespressekonferenz über die Bilanz zu zehn Jahre Agenda 2010.
    Der Politikwissenschaftler Christoph Butterwegge von der Universität Köln (imago / Metodi Popow)
    "Also diejenigen, die langzeiterwerbslos sind, diejenigen, die als Aufstocker so wenig verdienen, dass sie von Hartz IV mit leben müssen - für die hat sich die Situation verschlechtert durch die Einführung des Arbeitslosengeldes II bzw. des Sozialgeldes für nichterwerbsfähige Familienmitglieder. Sie werden stärker in unserer Gesellschaft stigmatisiert, als das früher bei Arbeitslosenhilfebeziehern bzw. den damaligen Sozialhilfeempfängern der Fall war. Insofern glaube ich, dass man sagen kann, Hartz IV hat für eine Verschlechterung gesorgt."
    Der Politologe aus Köln hat pünktlich zum zehnjährigen Jubiläum ein Buch geschrieben mit dem Titel: "Hartz IV und die Folgen – Auf dem Weg zu einer anderen Republik?" Eine vernichtende Analyse:
    "Was die Gesellschaft insgesamt angeht, meine ich, dass sich die Armut durch Hartz IV bis in die Mitte der Gesellschaft hinein ausgebreitet hat. Und das gilt jetzt nicht nur durch den Niedriglohnsektor für Menschen, die eben so wenig verdienen, dass sie zusätzlich ergänzend aufstocken, wie man es nennt, Arbeitslosengeld II in Anspruch nehmen müssen. Sondern das gilt natürlich auch für diejenigen, die noch nicht arm sind, aber Angst vor dem sozialen Abstieg haben. Insofern würde ich schon sagen: Bis in die Mitte der Gesellschaft hinein herrscht durch Hartz IV Furcht, in eine Armutssituation hinein zu geraten. Denn man ist ja häufig nur eine schwere Krankheit oder eine Kündigung von der Armut entfernt. Selbst dann, wenn man sich gegenwärtig noch in einer relativ günstigen und möglicherweise auch scheinbar gesicherten materiellen Situation befindet."
    Für den Armutsforscher steht fest: Hartz IV hat die Angst vor der Armut und dem sozialen Abstieg in der Gesellschaft vergrößert:
    "Dann bin ich der Auffassung, dass Hartz IV ein Gesetz der Angst war und ist, durch das wir eine Gesellschaft der Angst bekommen haben. Und wenn Menschen zum Beispiel aus der Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes und weil das Damoklesschwert von Hartz IV über ihnen schwebt, nachts nicht schlafen können, dann ist das natürlich auch eine Veränderung der psycho-sozialen Situation, in der sich viele Hunderttausende oder vielleicht sogar Millionen von Menschen befinden. Und man kann deshalb sagen, dass die Gesellschaft der Bundesrepublik zu einer anderen geworden ist seit Hartz IV am 1. Januar 200 in Kraft trat."
    Alleinerziehend, vier Kinder, kein Job
    Zum Beispiel die 36-jährige gelernte Bäckerei-Fachverkäuferin, die auch schon mal eine Filiale geleitet hat. Inzwischen bezieht die alleinerziehende Mutter von vier Kindern Hartz IV:
    "Im Moment sehr schlecht. Weil ich Mutter von vier Kindern bin. Und davon ist meine Zweitälteste jetzt im achten Monat schwanger. Also, nicht gut. Aus dem Grund auch, weil ich im Januar dieses Jahres in einer Notunterkunft war wegen meinen vier Kindern. Weil ich hatte eine größere Wohnung. Und die habe ich durch Hartz IV, weil die Ämter nicht die Anträge bearbeitet haben, leider verloren."
    Ihre vier Kinder mussten deshalb vorübergehend in einem Heim untergebracht werden – die Familie wurde getrennt.
    "Ich bin dann erst mal bei meinem Freund untergekommen. Der hatte aber leider nur eine Zweizimmerwohnung. Musste meine alte Wohnung räumen innerhalb von zwei Wochen. Sonst hätte ich meine Kinder nicht wiederbekommen. Und musste mir dann eine andere Wohnung suchen."
    Durch die Geburt ihres vierten Kindes vor zehn Jahren konnte die alleinerziehende Fach-Verkäuferin endgültig nicht mehr arbeiten gehen. Der erste Gang zum Jobcenter war für die junge Frau besonders hart:
    "Ganz schlimm. Also, ganz blöde Situation. Du musst dich demütigen, du musst Fragen beantworten: Wo ist der Vater von den Kindern? Und wenn man denen dann sagt, ja, der kümmert sich nicht darum. Ja, warum weshalb, wieso? Ja, ist eben so. Was soll ich da anders ändern? Und leider kann ich mit vier Kindern, konnte ich leider nicht mehr arbeiten gehen."
    Langzeitarbeitslosigkeit verringern - ein leeres Versprechen?
    Mit der Hartz-IV-Gesetzgebung vor zehn Jahren hat sich im Bereich der früheren Arbeitslosen- und Sozialhilfe viel verändert. Butterwegge:
    "Was mich vor allen Dingen erschreckt, ist, dass fast die Hälfte aller Bezieher von Arbeitslosengeld II bzw. Sozialgeld, also das, was man normalerweise im Volksmund als Hartz IV bezeichnet, dass die Zahl der Langzeitbezieher so zugenommen hat. Inzwischen ist ungefähr die Hälfte aller Bezieher vier Jahre oder länger im Hartz-IV-Bezug. Und das zeigt, dass mit Hartz IV das Versprechen, die Erwerbslosigkeit, vor allen Dingen die Langzeiterwerbslosigkeit zu verringern, dass das überhaupt nicht eingehalten worden ist. Sondern das war ein leeres Versprechen, das hauptsächlich dazu diente, Hartz IV in der Öffentlichkeit besser zu verkaufen."
    So hat die Agenda 2010 auch das politische Klima in Deutschland verändert, erklärt der Politologe:
    "Damit meine ich, dass nicht nur ein Schaden eingetreten ist für die unmittelbar Betroffenen und für die Gesellschaft, die sich mehr und mehr zu einer Gesellschaft wandelt, von der ich als Fürsorge-, Almosen- und Suppenküchenstaat spreche. Sondern dass auch die Demokratie Schaden genommen hat. Die Armen, insbesondere auch die Bezieher von Leistungen aus Hartz IV, beteiligen sich immer weniger an politischen Prozessen, beispielsweise an Wahlen."
    So sind zum Beispiel in Köln-Chorweiler – einem sozialen Brennpunkt der Millionen-Stadt am Rhein - nur 42,5 Prozent der Bevölkerung bei der letzten Bundestagswahl wählen gegangen, während es im noblen Villenviertel Hahnwald immerhin 89 Prozent waren. Diese Spaltung der Gesellschaft sieht auch Gerd Bosbach, Professor für Mathematik und Statistik, der sich besonders im sozialen Bereich engagiert:
    "Es ist erschreckend, wie viele Leute im ganzen Hartz-IV-System drin sind. Mit den über sechs Millionen hat man genau das, was man eigentlich schaffen wollte, nicht geschafft. Leute aus dieser Armut herauszubringen, in Arbeit reinzubringen. Das, kann man nach zehn Jahren sagen, ist gescheitert. Dazu sehe ich eine erschreckende Spaltung in der Gesellschaft in Ausgegrenzte, die auch oft gar keine Chance mehr sehen, überhaupt ins normale Leben wieder integriert zu werden, und Leute, denen angst und bange ist, dass sie in dieses System auch reinfallen. Und die deshalb auch alles Mögliche in den Betrieben schlucken, nur um nicht über ein Jahr Arbeitslosigkeit anschließend ins Hartz-IV-System abzurutschen."
    Berechnungsgrundlage in der Kritik
    Mit Hartz IV hat sich die soziale Lage vieler Menschen ohne Arbeit erheblich verschärft. Das bestätigen inzwischen auch diverse Gerichte in ihrer Rechtsprechung. So stimmt zum Beispiel die Berechnungsgrundlage für den aktuellen Hartz-IV-Satz von 399 Euro für Alleinstehende im Monat in vielen Bereichen nicht:
    "Sie haben halt unter anderem festgestellt, dass in dem Satz halt drei Euro für Geschirrspüler, Waschmaschine, Kühlschrank und ähnliche Geräte pro Monat drin sind. Und davon kann man, selbst wenn man lange die drei Euro spart, diese Geräte nicht kaufen."
    Seit die Agenda 2010 in Kraft ist, haben die Gerichte mit zahlreichen Widersprüchen zu tun. Die Klagen häufen sich - auch das Bundesverfassungsgericht ist inzwischen involviert. Bosbach:
    "Das Bundesverfassungsgericht hat dann halt jetzt entschieden. Sie haben gesagt, es schrappt noch mal ganz gerade an der Verfassungswidrigkeit vorbei. Aber einige der Berechnungen müssen von den Behörden geändert werden. Weil die ganz deutlich falsch sind. Ja, das ist meines Erachtens eine Ohrfeige für die, die dieses System entwickelt haben. Zeigt aber auch, welche Absichten dahinter waren. Und das war bei den Berechnungsgrundlagen schon völlig klar gewesen. Da hat man Methoden gewählt, um den Satz möglichst niedrig schrauben zu können. Methoden auch, die man überhaupt nicht begründen kann. Chemische Reinigung darf halt ein Hartz-IV-Bezieher, kriegt er kein Geld für."
    Auf der anderen Seite soll ein Hartz IV-Bezieher aber einen guten Eindruck bei der Arbeitssuche machen:
    "Das heißt, sein Jackett darf er nicht in die Reinigung geben. Aber er braucht ein Jackett zur Arbeitssuche. Und das sind Punkte, die waren den Leuten bekannt. Man hat sie darauf hingewiesen. Sie haben sie einfach ignoriert, weil sie nicht in die Öffentlichkeit kommen. Und man darüber wieder Geld für Hartz IV sparen kann."
    Wenn Aufstocker arbeitslos werden
    Auch diese 39 Jahre alte alleinerziehende Mutter aus Köln hat es voll erwischt:
    „Ich bin gelernte Einzelhandelskauffrau. Und habe dann 20 Jahre bei Praktiker gearbeitet. Später wurde er ja Max Bahr. Dann ist er in Insolvenz gegangen. Und seitdem bin ich, seit Ende Januar, dadurch arbeitslos."
    Das Jobcenter kannte sie allerdings schon, obwohl sie bis vor einem Jahr noch Arbeit hatte:
    "Da war ich schon vorher. Weil ich zu wenig verdient habe, habe ich die Aufstockung bekommen. Und jetzt halt Arbeitslosengeld plus Hartz IV - 'Arge' von der Aufstockung her."
    Seit sie arbeitslos ist, reicht das Geld allerdings hinten und vorne nicht:
    "Also, wo ich noch arbeiten war, obwohl das mit diesen Prozenten anders angerechnet wird, da war es okay. Da kam man so hin. Aber jetzt, wo ich richtig arbeitslos bin - das wird dann anders gerechnet als wenn ich arbeiten gehe - ist es schon sehr viel weniger. Da muss ich schon kratzen."
    Als das Gesetz vor zehn Jahren aus der Taufe gehoben wurde, stand der Slogan "Fordern und Fördern" an oberster Stelle. Das heißt, Arbeitslose sollten gezielt gefördert werden, um wieder in reguläre Arbeit zu kommen. Bosbach:
    "Also nach allen Analysen, die es gibt und die gab es jetzt gerade im letzten Jahr, ist genau das nicht passiert. Langzeitarbeitslosigkeit ist ungefähr auf dem gleichen Level geblieben wie früher. Und die verfestigte Armut ist auch nicht aufgebrochen worden. Man hat halt gefordert von diesen Leuten, teilweise einen enormen Verzicht. Aber das mit der Förderung klappt einfach nicht. Und da gibt es auch wieder neue Untersuchungen, die sagen, dass halt die Anzahl der Betreuer für jugendliche Arbeitslose viel, viel zu gering ist. Sogar gegen Gesetze verstößt. Aber das scheint weniger zu interessieren. Lieber holt man die Leute aus der Statistik raus mit irgendwelchen Schikanen. Dann kann man nachher von Erfolgen sprechen."
    Prekäre Beschäftigung sollte bewusst gestärkt werden
    Das nach dem ehemaligen VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz benannte Gesetzes-Paket hat auch weitreichend in den Arbeitsmarkt eingegriffen. Vor allem der Bereich der prekären Beschäftigung sollte mit dem Gesetz bewusst gestärkt werden. So wurde zum Beispiel die Leiharbeit, die eigentlich nur zum Auffangen von Arbeits-Spitzen gedacht war, weitgehend entfristet. In manchen Branchen und Bereichen gibt es Leiharbeiter, die seit Jahren immer gleich beschäftigt werden. Butterwegge sagt dazu:
    "Man muss ja sehen, dass nicht nur Hartz IV solche Auswirkungen hatte. Sondern dass auch die Deregulierung des Arbeitsmarktes, die Liberalisierung der Leiharbeit schon mit den ersten beiden Hartz-Gesetzen angefangen hat. Und das Ganze insgesamt ein Projekt war von Eliten, die unsere Gesellschaft stärker dem Markt hin orientiert haben und dass die natürlich auf den Sozialstaat immer weniger gesetzt haben. Und das bedeutet auch, dass immer mehr Menschen im Grunde abgehängt werden."
    Früher gab es die sogenannten Bad Jobs nur in den USA. Dort gibt es schon lange viele Menschen, die von einem schlecht bezahlten Job alleine nicht mehr leben können. Sie müssen deshalb gleich mehrere annehmen. Seit einigen Jahren gibt es solche Bad Jobs auch bei uns. Butterwegge:
    "Durch die Hartz-Gesetze hat es eine US-Amerikanisierung des deutschen Arbeitsmarktes gegeben. Der Niedriglohnsektor ist sehr stark expandiert. Fast ein Viertel aller Beschäftigten arbeiten inzwischen in diesem Bereich. Und sind deshalb natürlich zumindest nahe an der Armut dran. Auf der anderen Seite: Die Liberalisierung der Leiharbeit hat dafür gesorgt, dass Menschen auch eher häufig nur noch einen Job haben und von Arbeitsstelle zu Arbeitsstelle geschickt werden. Also in Form einer Tagelöhnerei. Auch das kannte man bis dahin ja hauptsächlich aus den USA. Insofern denke ich, dass die Gesellschaft sich insgesamt auch US-amerikanisiert hat. Und dass Menschen mehrere Jobs annehmen müssen: meinetwegen morgens Zeitungen austragen, mittags im Schnellrestaurant arbeiten und abends noch Pizzen rumfahren. Und trotzdem sich und ihre Familie kaum ernähren können. Dieses Phänomen haben wir inzwischen in der Bundesrepublik Deutschland auch. Und mir scheint, dass sich die Gesellschaft leider auch daran gewöhnt hat."
    Qualifizierte Leute auch im Niedriglohnsektor
    Der Statistiker Gerd Bosbach stößt in das gleiche Horn:
    "Das ist die eine Seite der Medaille. Dass man halt Hartz IV bekommt, um den Lohn aufzustocken. Die andere Seite der Medaille ist, dass viele Leute mittlerweile zwei oder drei Jobs besitzen. Weil sie von einem Job, einem Vollzeitjob, oft nicht mehr leben können. Ja, und in diesem Niedriglohnsektor sind halt sogar deutlich mehr als im Hartz-IV-Bezug qualifizierte Leute. Und das scheint auch eins der Ergebnisse von Hartz-IV zu sein, dass man so viel Druck auf die Menschen ausübt, dass sie bereit sind, halt auch mit akademischem Abschluss zu einem Niedriglohn zu arbeiten. Und das über lange Jahre, um möglichst weit weg von Hartz IV zu bleiben. Ein Teil schafft es nicht. Und muss dann trotzdem noch mit Hartz IV aufstocken."
    Die gelernte Einzelhandelskauffrau, die als Arbeitslose jetzt von Hartz IV leben muss, hatte zunächst die Befürchtung, sie müsse ihre Wohnung räumen:
    „Da konnte ich bleiben. Da hatte ich am Anfang die Befürchtung, weil ich dachte: Oh, 70 Quadratmeter, nachher meinen die, die wäre zu groß mit Kind, aber das ging. Weil das wurde ja irgendwann geändert. Dann geht es nicht nach Quadratmeter, sondern danach, wie teuer der Mietspiegel ist, der Quadratmeterpreis."
    Das Prinzip "Fordern und Fördern" gilt auch für die alleinerziehende Kölnerin:
    "Man hat ja immer diese Auflagen. Momentan muss ich fünf Bewerbungen schreiben, in einem Monat. Ja, und, ich sag mal so, alle vier bis sechs Wochen muss ich dann dahin und über meine berufliche Situation sprechen."
    Für die alleinerziehende Mutter ist der aktuelle Arbeitsmarkt im Dienstleistungssektor nicht gerade einfach:
    "Also, ich sag mal, wenn ich nicht alleinerziehend wäre, hätte ich mit Sicherheit schon wieder einen Job. Aber das Problem ist halt - da ich Einzelhandel gelernt habe: Ich kann keine Spätschichten mehr machen. Meine Mutter, die ist zu alt zum Aufpassen. Sonst habe ich niemanden. Daher brauche ich Frühschicht, samstags frei. Und da kriegst du so gut wie gar nichts. Und das nagt schon an der Substanz. Da hat man manchmal schon gar keine Lust mehr, eine Bewerbung zu schreiben. Weil man ist einfach gefrustet. Man kriegt überall Absagen. Und mein Lieblingswort: Flexibel. Horror."
    "Und über eine Million arbeiten neben Hartz IV"
    Gerd Bosbach:
    "Es gibt im Hartz-IV-Bezug faule und ungebildete Menschen. Die gibt es übrigens auch in jedem anderen Bereich. Vielleicht sind sie im Hartz-IV-Bereich etwas höher als in anderen Bereichen. Aber es ist nicht generell so. Das sieht man einmal, von der Bildung her: 40 Prozent haben Berufsschulabschluss oder sogar einen Hochschulabschluss. Das sind halt nicht unbedingt die Dummen. Und über eine Million arbeiten neben Hartz IV. Wenn sie faul wären, würden sie diese Arbeit nicht annehmen. Und es sind sogar mehrere Hunderttausend, die arbeiten Vollzeit, verdienen aber so wenig, dass sie Hartz IV bekommen. Und diese als faul zu bezeichnen oder als unfähig für die Gesellschaft, ja, dann hätten sie keine Arbeit."
    Die Politik der Agenda 2010 ist vor zehn Jahren mit dem erklärten Ziel angetreten, vor allem die Langzeitarbeitslosigkeit zu senken. Doch genau das Gegenteil ist in der Realität passiert. Gerd Bosbach:
    "Wenn Leute, die lange gearbeitet haben, teilweise 30 Jahre gearbeitet haben, wissen, dass sie nach eineinhalb Jahren Arbeitslosengeld in ein System abrutschen, von dem man eigentlich nicht leben kann - was selbst das Bundesverfassungsgericht mittlerweile festgestellt hat -, dann ist das eine Entwürdigung dieser Menschen. Und wenn sie etwas älter sind und in diesen Bezug reinkommen, haben sie auch so gut wie überhaupt keine Chance mehr, da rauszukommen. Und werden, in den meisten Fällen, dann ihr gesamtes Alter in Grundsicherung verbringen. Das heißt, sie haben dann einem 50-Jährigen gesagt: Danke für deinen Beitrag in der Gesellschaft. Das war es. Wir lassen dich nicht verhungern, aber du kriegst das Nötigste. Mehr auch nicht."
    Offenbar hat Hartz IV tatsächlich eine andere Republik geschaffen, in der die Gesellschaft stärker als zuvor in Arme und Reiche gespalten ist. Und offenbar herrscht in weiten Kreisen der Bevölkerung große Angst vor dem sozialen Abstieg vor.