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Sozialproteste vor der WM
Zwist am Zuckerhut

Millionen sind im letzten Jahr in Brasilien auf die Straße gegangen und haben gegen die hohen Kosten der WM und gegen die miserable Infrastruktur des Landes protestiert. Zwei brasilianische Dokumentarfilmer haben die Ereignisse zu einem Film verarbeitet, gestern wurde er in Frankfurt gezeigt.

Von Jochanan Shelliem | 04.07.2014
    Eine Demonstrantin hält in Sao Paula eine Fahne Brasiliens mit der Aufschrift "Fifa, fahre zur Hölle!" in die Höhe.
    In Brasilien kritisieren viele Bürger die Kosten für die Austragung der Fußball-WM. (pa/dpa/EFE/Moreira)
    Groß war der Anspruch des Exzellenzclusters, das an diesem Abend Erkenntnisse der Wissenschaft zur "Herausbildung normativer Ordnungen" einer öffentlichen Debatte aussetzen wollte. Die Ausführung aber scheiterte an der Struktur der Veranstaltung, da man vor der Freiluftprojektion des Films über die Protestbewegung sprach, die der Film eindrucksvoll dokumentiert. Lediglich der Rahmen des brasilianischen Protestsommers wurde abgesteckt, die Fahrpreiserhöhungen um 30 Cent waren ihr Auslöser im vergangenen Jahr. Angesprochen wurde die Friedfertigkeit der brasilianischen Gesellschaft, die sich seit dem Jahrzehnt der Militärdiktatur aus einem Gefühl von Machtlosigkeit speist und das Monopol der Medien.
    Längst wird das Verhalten des mächtigen Privatsenders Regis Globo als Demagogie empfunden. Die Diskriminierung der landesweiten Protestbewegung wird in dem Dokumentarfilm drastisch enthüllt. Dieser ist jedoch keine distanzierte Vivisektion einer Sommerrevolte, die Regisseure empfinden sich als Teil dieser anhaltenden Bewegung. Die traditionellen Medien sehen sie diskreditiert. Media Ninjas nennt man in Basilien Online-Journalisten, Periskope einer alternativen Öffentlichkeit, die wächst. Tamur Aimara und Cesar Oiticica Filho zählen sich dazu.
    Innenansicht der Medienrepublik Brasilien
    Am Anfang Bilder, wie man sie kennt, Sprechchöre von jungen Demonstranten, martialisch ausgestattete Polizeikräfte. "Schock Polizei", werden diese Einheiten genannt, Verhaftungen, die Demonstranten rufen "Filmt es, filmt es". Ein junger Mann, die Arme auf dem Rücken, gefesselt mit Kabelbinder - Cesar Oiticica Filho und Tamur Aimara beziehen Position. Aimara, dessen Vater einst vor den Diktatoren in Brasilien floh und der sich in London den Namen des kämpferischen Inka-Prinzen zulegte, Tamur Aimara, der in T-Shirt und Jeans filmt, ohne Helm und Brust- und Rückenpanzer, beeindruckt durch professionelle, ruhige Aufnahmen, die in eklatantem Kontrast stehen zu den Smartphoneclips der Protestierenden. Dieser Film ist etwas Besonderes, nicht nur, weil er uns die Jugendrevolte des vergangenen Sommers jenseits von Samba und der Selecao vor Augen führt, sondern weil er uns eine Innenansicht der Medienrepublik Brasilien liefert. Cesar Oiticica Filho:
    "Als ich die Bilder von Tamur Aimara sah, die er im Juni 2013 aufgenommen hat, beschloss ich, diesen Film zu machen. Diese Aufnahmen waren so stark, sie haben die Gewalt zwischen der Bevölkerung und der Polizei dokumentiert."
    Demonstranten werfen Mülleimer, Gasgranaten werden von der Polizei geschossen. Es sind harte Bilder, die gewaltsame Auseinandersetzungen dokumentieren. Der Film zeigt Übergriffe der Militärpolizei, einer AFP-Reporterin wird ins Gesicht geschossen. Um wenige Millimeter nur verfehlt das Geschoss ihr rechtes Auge. "No violencia", rufen Demonstranten, während eine Spezialeinheit in Ganzkörperrüstung aufmarschiert. Ein japanischer Kameramann versteht nicht, warum er, bereits fixiert, geschlagen und getreten wird. Das Found-Footage-Material, das Oiticica und Aimara zu einem eindrucksvollen Mosaik verarbeitet, wirkt wie eine filmische Schwarmintelligenz und ein antiker medialer Chor.
    Die Macht des filmenden Schwarms
    Als einer der jungen Demonstranten in den Medien als Mörder denunziert wird, erweist sich die Macht des filmenden Schwarms. Cesar Oiticica Filho:
    "Bruno, der Demonstrant, war einer der Ersten bei den Konfrontationen mit der Polizei. Die Polizei hatte ihn im Visier. Polizisten in Zivil hatten sich in den Protestzug gemischt und Molotowcocktails geworfen. Das ist eine Technik, die oft gebraucht wurde, um die Demonstrationen zu radikalisieren. Bruno wurde festgenommen. Am gleichen Tag brachte der Fernsehsender Globo ein Interview mit der Staatsanwaltschaft und dort wurde Bruno als Werfer von Molotowcocktails und Mörder bezeichnet. 'Bitte postet Aufnahmen, auf denen ich zu sehen bin', bat Bruno im Internet. Und durch die Bilder von Tamur konnte bewiesen werden, dass Bruno unschuldig gewesen ist. Er war weder maskiert, noch hatte er etwas bei sich, er demonstrierte vorne und man sieht, wie ihn die Polizei verfolgt, festnimmt und fesselt. Die Aufnahmen aus der Demonstration waren die Beweisgrundlage der Freilassung von Bruno Feheratelis."
    "Vinegar Syndrom – Das Essig Syndrom", so heißt der Film. Der Titel verweist darauf, dass Essig Zelluloid auflösen kann. Dieser von Arto Lindsay, Lee Jeff, Jards Macalé, dem Begründer des "Tropicalismo", und Peter Tosh, dem Produzenten von Bob Marleys Band The Wailers, mit einem treibenden Soundtrack ausgestattete Film stellt einen historischen Meilenstein dar. Nicht allein wegen der Darstellung der von brasilianischen Medien verleugneten und denunzierten Protestbewegung, auch nicht nur wegen seines Einblicks in die Mechanismen der brasilianischen Medienwelt und die Kraft der landesweiten Erhebung, sondern weil Cesar Oiticica Filho und Tamur Aimara die Clips aus dem Internet wieder ins Kino bringen. Die individuellen Clips der jungen Demonstranten werden im kollektiv gedrehten Film zu Zeugenaussagen, bilden die Facetten einer komplexen Realität. Der Dokumentarfilm "Vinegar Syndrom" ist der Vorreiter einer Bewegung von Filmemachern, die sich derzeit in vielen Teilen der Welt formiert.