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Sozialrichter: Ergebnisse sind unbrauchbar

Falsche Statistiken und auf Fallzahlen gestützte Daten führten dazu, dass die Ergebnisse zur Hartz-IV-Regelung völlig absurd seien, sagt Sozialrichter Jürgen Borchert. Das Gesetz werde "mit Sicherheit wieder nach Karlsruhe wandern".

Jürgen Borchert im Gespräch mit Jürgen Liminski | 11.02.2011
    Jürgen Liminski: Wie geht es nun juristisch weiter mit Hartz IV? Kommt jetzt die große Klagewelle? Das fragen wir den Sozialrichter und Hartz IV-Experten Jürgen Borchert, der das Hartz IV-Urteil vor einem Jahr bewirkt hat. Guten Morgen, Herr Borchert.

    Jürgen Borchert: Guten Morgen, Herr Liminski. – Ich muss gleich was richtigstellen. Es war unser Senat. Es sind fünf Leute beteiligt gewesen, nicht nur ich alleine.

    Liminski: Okay. – Es gibt noch eine kleine Chance für Hartz IV, haben wir eben gehört. Sehen Sie das auch so? Kann das Paket noch den Ansprüchen des Bundesverfassungsgerichts genügen?

    Borchert: Das ist eine andere Frage als die, die heute im Bundesrat im Raume steht. Wir hatten eine Anhörung im Arbeits- und Sozialausschuss des Deutschen Bundestages am 22. November 2010, und da waren einige Sachverständige geladen und sie waren, so weit sie unabhängig waren, übereinstimmend der Meinung, dass das Gesetz, so wie es auf dem Tisch liegt, den Kriterien, die das Karlsruher Urteil aufstellt, nicht genügt. Es fängt an und verdeckt Arme, die man nicht herausgerecht hat, dadurch wird das Niveau der Grundsicherungsleistungen nach unten verzerrt. Es geht weiter mit der Vermischung von Statistikmethode und Warenkorbmethode, das führt zu vollkommen absurden Ergebnissen und entspricht nicht dem, was Karlsruhe verlangt hat, nämlich Methoden-Klarheit und -Wahrheit. Es ist so ungefähr, wenn man versuchen will, das in ein Bild zu übersetzen, als ob sie versuchen, ein Fußballspiel nach Basketball-Regeln zu pfeifen. Das kann nicht klappen. – Und dann haben wir das Problem der Realitätsgerechtigkeit. Wir wissen, dass sehr viele statistische Daten ausreichend durch Fallzahlen gestützt sind, und damit sind die Ergebnisse unbrauchbar. Also eine Fülle von Fehlern, die in dem Gesetz zu finden sind, und deswegen wird es mit Sicherheit wieder nach Karlsruhe wandern.

    Liminski: Das Paket landet in Karlsruhe. Aber wer bringt es denn dahin?

    Borchert: Das wäre zu wünschen, dass die Politik sich mal aufrafft und das Quorum von einem Viertel der Abgeordneten des Bundestages sich zusammenfindet, um das den Bürgern abzunehmen, die hier betroffen sind. Notfalls müsste das ein Sozialgericht machen, und da ist natürlich bekannt, dass wir ohnehin schon über die Oberkante Unterlippe belastet sind durch diese wahnsinnige Verfahrensflut, die Hartz IV über uns geschwemmt hat.

    Liminski: Erwarten Sie nun eine weitere Klagewelle vor den Sozialgerichten?

    Borchert: Also ich weiß gar nicht, wie das darstellbar sein soll. Wir haben jetzt schon Land unter. Das ist so extrem geworden und mir vorzustellen, dass da noch mehr dazu kommt, ist schierer Horror. Ich hoffe wirklich sehr, dass eine Landesregierung oder eben das Viertel der Abgeordneten diese Aufgabe erfüllen und das direkt nach Karlsruhe wieder bringen. Das wäre auch der schnellste Weg.

    Liminski: Der ganze Prozess ist nun wieder gestreckt. Die Hartz IV-Empfänger, heißt es, werden rückwirkend ihr Geld bekommen. Kann man das Ergebnis bis jetzt als zinsloses Darlehen bezeichnen?

    Borchert: Ja, das ist der richtige Begriff. Da haben Sie es auf den Kopf getroffen. Das ist ein zinsloses Darlehen, was sich der Staat bei den Ärmsten der Armen holt, denen er übrigens mit dem Sparpaket die Hauptverantwortung zuweist für die Zockerei der kriminellen Elemente an den Weltfinanzmärkten. Das ist aberwitzig, was hier passiert. Wir wissen, dass die Hartz IV-Empfänger den Löwenanteil schon am Sparpaket tragen müssen, was der Bund aufgelegt hat, damit die Folgen der Finanzmarktkrise bewältigt werden können, also ausgerechnet die Ärmsten der Armen müssen für die kriminellen Zocker ihre Mäuse herausrücken. Es ist absurd, was da passiert.

    Liminski: Bildung gilt als Recht, Herr Borchert. Wie reagieren Sie als Richter, wenn ein Hartz IV-Empfänger kommt und Nachhilfe bezahlt haben will, entsprechend dem Bildungspaket, das es jetzt ja noch nicht gibt?

    Borchert: Also ich persönlich bin der Überzeugung, dass wir als Sozialrichter da eingreifen und helfen können. Wenn eine Familie kommt und sagt, hier auf dem Halbjahreszeugnis ist der Vermerk, dass die Versetzung gefährdet ist, wir brauchen dringend Nachhilfe, sie weisen das nach, dass die Nachhilfe selber qualifiziert ist und angemessen im Preis, dann, meine ich, können die Sozialgerichte da unter die Arme greifen und notfalls im Wege der einstweiligen Anordnung diese Hilfe zusprechen.

    Liminski: Können die Sozialgerichte da frei verfahren?

    Borchert: Man muss schon strenge Anforderungen stellen. Aber es ist richtig, Sie haben es schon erwähnt: Bildung gehört zur Menschenwürde und bei Bildung zählt jeder Tag, jede Minute. Da darf kein Verzug eintreten und deswegen liegt da eine Eilbedürftigkeit vor, denn jeder Tag, der ohne Bildung verstreicht, ist ein Rechtsverlust, der endgültig ist.

    Liminski: Hartz IV wird wieder in Karlsruhe landen, sagt hier im Deutschlandfunk Jürgen Borchert, der Sozialrichter, der zusammen mit seinem Senat das Hartz IV-Urteil vor einem Jahr bewirkt hat. Besten Dank für das Gespräch, Herr Borchert.

    Borchert: Gerne! Schönen Gruß nach Köln! Tschüss!