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"Sozialstaat, wie wir ihn uns vorstellen"

Der SPD-Fraktionschef im niedersächsischen Landtag, Wolfgang Jüttner, verteidigt die Forderung seiner Partei, einen allgemeinen Mindestlohn in Deutschland einzuführen. "Ich glaube, dass das auch wirtschaftlich durchaus interessant ist, weil es zur Binnennachfrage beiträgt", argumentierte der Spitzenkandidat zur Landtagswahl Ende Januar. Auch in anderen Ländern habe der Mindestlohn keine Arbeitsplätze gekostet, sondern stabilisiere eher die Binnenökonomie.

Moderation: Gerd Breker | 27.12.2007
    Gerd Breker: Und am Telefon begrüße ich nun Wolfgang Jüttner, Landesvorsitzender der SPD in Niedersachsen und auch Spitzenkandidat seiner Partei bei der Wahl genau in einem Monat. Guten Tag, Herr Jüttner!

    Wolfgang Jüttner: Guten Tag, Herr Breker!

    Breker: Herr Jüttner, sind Sie Ihrem Parteivorsitzenden Kurt Beck eigentlich dankbar dafür, dass er das Thema Mindestlohn zum Wahlkampfthema gemacht hat?

    Jüttner: Da braucht es keine Dankbarkeit. Das Thema Mindestlohn treibt uns ja seit Monaten um. Und wir haben schon vor einigen Wochen in Niedersachsen eine Unterschriftenaktion gestartet, um für Mindestlöhne in Niedersachsen, in Deutschland zu werben.

    Breker: Erhöht denn die Forderung nach einem gesetzlichen Mindestlohn die Gerechtigkeitskompetenz der Sozialdemokraten?

    Jüttner: Ich denke schon. Es muss für uns selbstverständlich sein, dass jemand, der arbeitet, mehr Geld zur Verfügung hat als der Nachbar, der von Sozialtransfers lebt. Sonst geht der Satz, Leistung muss sich lohnen, vor die Hunde. Und das kann niemand wollen.

    Breker: Die Union präferiert ja ihrerseits das Mindesteinkommen. Und es ist auch eigentlich auch ganz klar, Herr Jüttner, dass nicht jeder Mindestlohn das Mindesteinkommen garantieren kann?

    Jüttner: Das ist ja eine abstruse Debatte zum Mindesteinkommen. Was wir heute haben, ist, dass mehr als eine Million Menschen in Deutschland arbeiten, aber der Lohn sich zusammensetzt aus dem, was der Unternehmer jeweils zahlt und Hartz-IV-Bestandteilen, sogenannte Aufstocker. Das heißt also, wir zahlen mit Steuergeld die Personalkosten, die Unternehmen vorenthalten. Das ist doch überhaupt nicht akzeptabel. Und deshalb muss in Deutschland wie in allen europäischen Ländern, mit Ausnahme Deutschlands und Zypern, ein Mindestlohn her, damit Arbeit sich lohnt. Ich glaube, dass das auch wirtschaftlich durchaus interessant ist, weil es zur Binnennachfrage beiträgt. Auch in anderen Ländern hat es keine Arbeitsplätze gekostet, sondern es stabilisiert eher die Binnenökonomie.

    Breker: Herr Jüttner, Sie haben die Arbeitsplätze angesprochen. Ist es denn wirklich so absurd, dass Mindestlohn Arbeitsplätze vernichtet?

    Jüttner: Wir sind der Meinung, dass das nicht der Fall ist. Und von daher ist mit dem deutschen Arbeitsleben sehr wohl vereinbar, dass solche Regelungen getroffen werden. Das soll ja auch nicht die Tarifautonomie aushebeln. Dort, wo Gewerkschaften mehr durchsetzen können, sollen sie das auch. Aber wir sollten das, was in anderen Bereichen geregelt wird beispielsweise bei Urlaubsregelungen, auch staatlich festlegen, dass es Mindeststandards gibt, die nicht unterschritten werden dürfen. Dafür gibt es auch ein Gesetz von 1952. Das müsste nur zu Anwendung kommen. Und alles, was darüber ist, ist frei aushandelbar. Aber in einem Sozialstaat gelten Mindestbestimmungen, und dazu gehört auch die Entlohnung. Und dort, wo es überhaupt gar keine Tarifvertragsparteien gibt, gilt dies doppelt.

    Breker: Das heißt, Sie wären nicht nur dafür, dass die Tarifparteien untereinander aushandeln, welcher Mindestlohn in den einzelnen Branchen gezahlt wird, sondern Sie möchten schon eine gesetzliche Festlegung, eine Grundlage, was mindestens der Mindestlohn sein soll?

    Jüttner: So ist es. Auf der einen Seite kann man das Entsendegesetz zur Grundlage machen, wie es verabredet ist in der Koalition. Dann geht es auf Antrag der Tarifvertragsparteien. Aber wir haben ja die Situation insbesondere in den neuen Bundesländern, dass in immer mehr Branchen Tarifvertragsparteien überhaupt nicht zur Verfügung stehen und dort wirklich Hungerlöhne gezahlt werden. Und denen kann doch nicht angelastet werden, dass die üblichen Mechanismen des Sozialstaates und der Tarifautonomie nicht greifen. Und hier gibt es eine gesellschaftliche Verantwortung. Der darf man sich nicht entziehen. Es sei denn, man ist Ordo-Marktwirtschaftler wie Herr Koch, der das, wie ich finde, sauber argumentativ auch rüberbringt, anders als Herr Wulff, der denkt wie Herr Koch, aber redet anders, weil er Opportunist ist. Hier gibt es zwei Welten. Das eine ist Sozialstaat, wie wir ihn uns vorstellen. Das andere sind Konservative, die wollen das nicht aus grundsätzlichen Erwägungen. Und dann muss man in Wahlen solche Entscheidungen durch den Souverän. die Wählerinnen und Wähler, auch zur Abstimmung bringen.

    Breker: Was ja dann auch kommen wird. Herr Jüttner, nun ist es so, dass, wenn man die Mindestforderung vom Gesetzgeber festlegen lassen will, dann muss man auch eine Höhe nennen. Die Wirtschaftsweisen sprechen von einem Mindestlohn von vier bis fünf Euro.

    Jüttner: Dieser Vorschlag ist abwegig, weil er deutlich unter dem gesetzlichen Minimum liegt, was jedem zur Verfügung stehen muss. Das heißt also, wer so einen Mindestlohn festlegt, nimmt billigend in Kauf, dass wir mit Steuermitteln, zurzeit sind das 1,5 Milliarden jedes Jahr, hier Teile der Entlohnung mit öffentlichen Mitteln finanzieren. Das kann doch nicht Sinn der Veranstaltung sein. Deshalb kann ich mir nicht vorstellen, dass Mindestlöhne unter dem sind, was das garantierte Minimum an Existenzsicherung bedeutet. Das heißt, Mindestlöhne unter 7,50 Euro sind aufgrund der Entwicklung in Deutschland überhaupt nicht diskutabel.

    Breker: Wir haben ja ein seltsames Phänomen, Herr Jüttner. Eine Mehrheit der Menschen in diesem Land ist für einen Mindestlohn, doch die Popularität der Sozialdemokratie, diejenigen also, die das fordern, diese Popularität springt einfach nicht nach oben.

    Jüttner: Ich hoffe, wir sind auf dem Wege - nach oben.

    Breker: Wie wollen Sie das erreichen? Indem Sie den Menschen deutlich machen, wir sind es?

    Jüttner: Das Thema Mindestlohn ist nicht alles. Es gibt andere Dinge auch, Recht und Ordnung auf dem Arbeitsmarkt spielt bei mir im Wahlkampf in Niedersachsen eine große Rolle. Aber es geht natürlich gleichzeitig auch um Chancengleichheit. Deutschland braucht die heranwachsende Generation für den Arbeitsmarkt von morgen mit bester Qualifikation. Wir dürfen niemanden hängen lassen. Es gibt genug Themen, die strittig sind zwischen den großen Volksparteien. Und unsere Aufgabe wird darin bestehen, Unmut, beispielsweise in Niedersachsen, mit der gegenwärtigen Regierung in Zustimmung zu uns umzumünzen. Da haben wir noch einige Wochen Zeit. Wir sind zuversichtlich und kämpfen mit aller Kraft.

    Breker: Nun ist das Thema Mindestlohn ja eigentlich von der Linkspartei abgekupfert, Herr Jüttner.

    Jüttner: Das, weiß Gott, nicht, Herr Breker!

    Breker: Die waren die ersten und für so manch einen Wähler sind sie dafür auch die authentischeren.

    Jüttner: Das sehe ich überhaupt gar nicht. Wir haben bei niemanden was abzukupfern. Ich habe über Jahrzehnte aus meinem arbeitnehmerorientierten Politikverständnis überhaupt gar kein Hehl gemacht. Ich muss nirgends abkupfern. Ich habe eine Vorstellung, wie Sozialstaatlichkeit in Deutschland aussieht. Dafür kämpfe ich seit Langem. Und wenn Populisten glauben, sie könnten da Konkurrenz machen, die werden sich wundern.

    Breker: Allerdings fischen die in Ihrem Revier.

    Jüttner: Ich glaube nicht, dass das erfolgreich sein wird. Bei uns gibt es ein klares Profil: Sozialdemokratie, Alleinstellungsmerkmal bei Gerechtigkeit. Und deshalb bin ich ganz zuversichtlich, dass wir mit Wilderern hier nicht so viel am Hut haben.

    Breker: Der SPD-Spitzenkandidat im Land Niedersachsen, Wolfgang Jüttner, war das im Deutschlandfunk. Herr Jüttner, Danke für dieses Gespräch.

    Jüttner: Bitteschön.