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Soziologe: Armee der "dauerhaft Überflüssigen" nimmt zu

Nicht nur die eigene Perspektivlosigkeit treibe viele Jugendliche auf die Straßen, sagt der Soziologe und Sozialphilosophen Oskar Negt. Auch, dass in Finanz- und Wirtschaftskrise mit Geld umgegangen werden, als ob Milliarden keine Rolle spielten, bereite den Boden für Proteste.

Oskar Negt im Gespräch mit Michael Köhler | 21.08.2011
    Michael Köhler: Wir kommen zum Aufstand der Abgehängten oder Krawall ohne Programm. Aufstand der Empörten. So nannten das Tageszeitungen, was in London, in Birmingham, in Madrid oder an anderen Orten passiert. Wie auf englischen Einkaufsstraßen werden Supermärkte und Läden in Brand gesteckt, Unterhaltungselektronikläden geplündert, in Madrid wird protestiert, in Israel zelten junge Menschen gegen Immobilien- und Lebenserhaltungspreise, in Berlin werden seit einer Woche Autos in Brand gesteckt, Hamburg kommt inzwischen dazu. Die Frage ging deshalb an den Soziologen und Sozialphilosophen Oskar Negt: Haben diese Proteste eigentlich irgendwelche Gemeinsamkeiten oder sind sie eine Art Flash-Mob, eine Aktionsform unter anderem, nur teils eben gewaltsam?

    Oskar Negt: Ja sehen Sie, ich meine gemessen an der Verrücktheit, die sich auf den Finanz- und Devisenmärkten abspielt, ist das doch eine natürliche Reaktion. Ich glaube nicht, dass das im Einzelnen ursächlich so zurückzuführen ist, auf die völlige Orientierungslosigkeit unserer Gesellschaften, unserer entwickelten Gesellschaften, vielleicht ist das etwas schwierig. Aber das Klima, in dem hier mit Milliarden und Billionen umgegangen wird, so als ob Geld keine Rolle mehr spielte, ist ja ein Boden, auf dem diese, gerade in den entwickelten Ländern auch, diese Proteste wachsen. Ich glaube, das ist nicht voneinander zu trennen.

    Köhler: Aber muss man nicht doch, Oskar Negt, unterscheiden zwischen marodierenden Banden, die wahllos in Berlin irgendwelche Autos in Brand stecken und, sagen wir einmal, kulturkritischen Zeltlageraktivisten in Tel Aviv?

    Negt: Natürlich! Aber die gibt es doch überall. Ich meine, dass es so Trittbrettfahrer in solchen Gewaltaktionen gibt, die die Gunst der Stunde nutzen, das bestimmt. Ich will nur nicht den Fehler begehen, hier die Jugendlichen aus dem gesellschaftlichen Zusammenhang, in dem es Absurditäten gibt. Zum Beispiel in England die Kürzungen, also von Zuwendungen, die Erhöhung des Schulgeldes um das doppelte oder dreifache. Verstehen Sie, das sind ja gesellschaftliche Klimaveränderungen, gerade der entwickelten Ländern, die so gravierend sind, dass man sagen kann: Wer gehört hier zu denjenigen, die verrückt sind? Ist es die normale Gesellschaft oder sind es die Jugendlichen, die da randalieren?

    Das vollständige Interview mit Oskar Negt können Sie bis mindestens zum 21. Januar 2012 als MP3-Audio in unserem Audio-on-demand-Angebot hören.