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Soziologe über Pegida
"Kein Vertrauen mehr in die etablierte Politik"

Er hat sich sein Forscherleben lang mit sozialen Bewegungen und der Protestkultur in Deutschland befasst: Für den Berliner Soziologen Dieter Rucht handelt es sich bei Pegida vordergründig um ein neues Phänomen. Die Unterscheidung zwischen rechten und linken Demonstranten sei zweifelhaft geworden, sagte er im DLF.

Dieter Rucht im Gespräch mit Christoph Schmitz | 15.12.2014
    Eine Frau, die sich offenbar vor einer "Zwangs-Islamisierung" fürchtet, demonstriert bei einer "PEGIDA"-Kundgebung
    Eine Frau, die sich offenbar vor einer "Zwangs-Islamisierung" fürchtet, demonstriert bei einer "PEGIDA"-Kundgebung (imago)
    Christoph Schmitz: Auf den Markt des öffentlichen Protestes ist eine seltsame Bewegung getreten, initiiert und organisiert von den Patriotischen Europäern gegen die Islamisierung des Abendlandes. So nennen sie sich. Zehntausend Demonstranten brachten sie am vergangenen Montag in Dresden auf die Straße; auch heute Abend werden sie sich dort wieder versammeln. Ableger gibt es bereits in anderen Städten. Ungleich größer als die Zahl der Teilnehmer ist die Zahl derjenigen, die daheim bleiben, die sind teils irritiert. Die Politik ebenfalls. Empirische Untersuchungen zu den neuen Montagsdemonstranten gibt es so gut wie nicht. Weltanschaulich homogen scheinen sie nicht zu sein. Rechtsextreme finden sich allerdings unter ihnen, auch Mitglieder der AfD.
    Wer sich sein Forscherleben lang mit sozialen Bewegungen und der Protestkultur in Deutschland befasst hat, das ist der Berliner Soziologe Dieter Rucht. Viele Jahre lang arbeitete er am Wissenschaftszentrum Berlin und dort im Bereich Öffentlichkeit und soziale Bewegungen. Am WZB leitete er außerdem die Forschungsgruppe "Politische Öffentlichkeit und Mobilisierung". Wie ordnen Sie die Demonstrationen, zu denen Pegida aufruft, in die Geschichte des öffentlichen Protestes in Deutschland ein, habe ich Dieter Rucht zuerst gefragt.
    Dieter Rucht: Es handelt sich zunächst mal vordergründig um ein neues Phänomen. Es gab da keine unmittelbaren Vorläufer. Aber dennoch würde ich sagen, es gibt verwandte Phänomene in der Vergangenheit, insbesondere - das ist jetzt erst vor kurzer Zeit passiert - die sogenannten Montags-Mahnwachen für den Frieden. Da ist ja zunächst mal ein anderes Thema im Vordergrund. Wie gesagt: Es geht um Frieden, es geht um den Konflikt in der Ukraine. Aber es gibt bestimmte Parallelen zu Pegida, nämlich zum einen sind hier viele Leute zugange, die nicht in etablierte Organisationen oder gar Parteien eingebunden sind.
    Prof. Dr. Dieter Rucht, Leiter der Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und Politische Mobilisierung in Europa"
    Prof. Dr. Dieter Rucht, Leiter der Forschungsgruppe "Zivilgesellschaft, Citizenship und Politische Mobilisierung in Europa" (David Ausserhofer)
    Zum zweiten ist die Unterscheidung zwischen rechten und linken Demonstranten oder die Zuordnung einer ganzen Demonstration als eher rechts oder links zum Teil auch zweifelhaft geworden. Das gilt jetzt weniger für Pegida als für diese Montags-Mahnwachen. Aber es gibt eine große Gemeinsamkeit: Hier sind viele Bürger, die sich abgewandt haben von der Politik, zugange, die orientierungslos sind, die enttäuscht sind, die kein Vertrauen mehr in die etablierte Politik haben und die nun glauben, ihre Dinge selbst in die Hand nehmen zu müssen.
    "Ein Misstrauen in die Leistungsfähigkeit der Politik"
    Schmitz: Sie vermuten als Ursache weniger die konkrete Abwehrhaltung zum Islam, sondern Ängste, Unsicherheiten, Unübersichtlichkeiten, verloren gegangene Orientierung im allgemeinen Leben?
    Rucht: Ich denke, ja. Es gibt einen diffusen Hintergrund, das hält sich im Grunde schon seit zehn, 15 Jahren in allen westlichen Ländern so, nämlich es gibt Ängste bezogen auf die Zukunft, es gibt konkret auch Abstiegsängste, Verlust des Arbeitsplatzes. Wir wissen alle, dass die Schere zwischen Arm und Reich nicht nur global, sondern auch innerhalb der westlichen Länder einschließlich der Bundesrepublik auseinandergeht. Die Leute haben Angst vor steigenden Mieten, sie wissen nicht mehr, ob ihre Renten noch bezahlt werden können, und das schafft zunächst mal ein Misstrauen in die Leistungsfähigkeit auch in der Politik, auch die Frage, ob wir überhaupt noch (wir jetzt aus Sicht der Demonstranten) ernst genommen werden von den Politikern, und da hat man sich jetzt eigentlich komplett abgewandt. Das bestätigen auch Umfragen, dass große Teile der Bevölkerung inzwischen kein Vertrauen mehr, ich würde nicht sagen, in die Demokratie haben, aber zumindest nicht in die regierenden Parteipolitiker oder überhaupt in die Parteipolitik, und nun müssen sie sich erst mal Gehör verschaffen, sich artikulieren, auf der Straße zeigen, und sie fühlen sich auch bestärkt, weil eine enorme Medienresonanz gegenüber Pegida festzustellen ist.
    Schmitz: Zum Untergang der kommunistischen Diktatur in der DDR haben maßgeblich die Montagsdemos beigetragen: friedliche Proteste der Zivilgesellschaft, und nun die neuen Montagsdemos im Zeichen von Pegida. Wie passt das zusammen, oder passt es überhaupt nicht zusammen?
    Rucht: Inhaltlich passt es, glaube ich, nicht zusammen, selbst wenn es da einen gemeinsamen Slogan gibt, der jetzt auch wieder in Dresden zu hören ist, nämlich "Wir sind das Volk", aber der Hintergrund, der gesellschaftliche Kontext ist ein ganz anderer. Aber man appelliert natürlich mit dieser Benennung "Montagsdemonstration" - und die finden ja auch demgemäß am Montag statt - durchaus an eine ruhmreiche Vergangenheit, wo das Volk sichtbar im Mittelpunkt stand, und da will man sich in diese Tradition, in diese Erfolgsgeschichte im Grunde auch rhetorisch einreihen, obwohl es um was ganz anderes geht.
    Aber das gilt jetzt nicht nur für Pegida, diese Selbstbezeichnung als Montagsdemonstration, sondern das gab es auch im Falle von Hartz IV ab dem Sommer 2004 und das gab und gibt es heute noch bei den Montagsdemonstrationen in Stuttgart und im Übrigen auch bei anderen Gelegenheiten.
    "Demonstranten nicht alle in einen Topf werfen"
    Schmitz: Man kann Pegida ohrfeigen mit Sätzen wie "Eine Schande für Deutschland", so Justizminister Heiko Maas. Gibt es andere Formen der Auseinandersetzung und der Kommunikation mit den Demonstranten, Formen, die vielleicht zielführender sind?
    Rucht: Es gibt auch abwägendere oder differenziertere Stellungnahmen von einzelnen politischen Repräsentanten. Auch auf der Medienseite ist das so. Man muss sogar dazu sagen, dass selbst jetzt prominente Sprecher der AfD, Bernd Lucke, den ich hier jetzt nicht verteidigen will, aber durchaus Differenzierungen vornimmt, zuletzt, glaube ich, gestern Abend in der Talkshow, und da wird immer betont und zurecht betont - dem stimme ich ausdrücklich zu -, dass man nicht alle Demonstrierenden in einen Topf werfen soll, dass man sie nicht pauschal als Muslimfeinde oder als Ausländerfeinde bezeichnen kann. Das heißt, es gibt hier vermutlich Mitläufer, die auf ganz andere Stichwort hin reagieren, aber es gibt erkennbar auch einen Teil von hoch problematischen Figuren, die im rechtsradikalen Spektrum zu verorten sind, die Hooligan-Gruppen zugehören, oder die sich auch schon so exponiert haben - das gilt einschließlich der Riege der Organisatoren; nicht alle, aber einige -, dass sie eine kriminelle Vergangenheit aufweisen.
    Schmitz: ..., sagt der Berliner Soziologe Dieter Rucht über die Proteste von Pegida.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.