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Soziologin: Viele Muslime fördern ihre Kinder nicht

Die Soziologin und Hochschullehrerin Necla Kelek wirft vielen muslimischen Familien vor, sich nicht um die Entwicklung ihrer Kinder zu kümmern. Dies sei ein kulturelles Problem, das man auch so benennen dürfen müsse. Zwangsheiraten müsse Straftatbestand werden, fordert Kelek - wie es auch ein Straftatbestand sei, wenn junge Mädchen wegen ihres Koptuches nicht wie andere Kinder spielen könnten.

Necla Kelek im Gespräch mit Christoph Schmitz | 27.01.2009
    Christoph Schmitz: Die Soziologin Necla Kelek kennt die sozialen Verhältnisse der türkischen Einwanderer aus privater Anschauung und aus wissenschaftlicher Sicht. Als Hochschullehrerin und Autorin von Büchern wie "Die fremde Braut" und "Die verlorenen Söhne" hat sie manchen Lichtstrahl in ein tabuisiertes Thema gebracht. Haben Sie die Ergebnisse der Integrationsstudie überrascht? Das habe ich Necla Kelek zuerst gefragt.

    Necla Kelek: Nein, die Ergebnisse haben mich nicht überrascht. Wir reden seit drei Jahren über diese Missstände, und ich bin froh, dass hier endlich schwarz auf weiß von einem Institut belegt worden ist, dass es so was wie Parallelgesellschaften gibt und auch andere Ergebnisse, die diese Studie aufzeigt.

    Schmitz: Wer hat denn hier versagt, der deutsche Staat, die deutsche Gesellschaft oder die türkischen Einwanderer?

    Kelek: Von Versagen so direkt können wir natürlich nicht sprechen, es ist ja auch ein Prozess, was gewachsen ist. Wenn wir von Parallelgesellschaften sprechen, hat man jahrzehntelang die Menschen und ihre Kultur, die sie mitgebracht haben, unterstützt, sie dabei vielleicht sogar bestätigt, aber sie auch alleine gelassen, um sich nicht halt einzumischen, und das ist jetzt das Ergebnis.

    Schmitz: Was ist konkret schiefgelaufen? Die Nichteinmischung, also das Überlassen in eigenen Kulturen, das heißt, man hatte der türkischen Einwanderergesellschaft ihren zum größten Teil aus dem türkischen Hinterland, aus Anatolien überkommenen traditionellen Familienvorstellungen überlassen und gesagt, das ist gut, macht ihr, wie ihr das wollt, und anheimgestellt, ob man sich integriert oder nicht?

    Kelek: Ja, das ist ein ganz wichtiger Punkt. Aber ich sehe auch andere Merkmale, die eine ganz wichtige Rolle spielen müssen, wenn wir über dieses Problem sprechen. Zum Beispiel die, die verantwortlich sind mittlerweile in Politik und auch an Instituten, die sind es ja, die eine wirkliche Entwicklung auch verhindern.

    Schmitz: Wen meinen Sie denn konkret in der deutschen Öffentlichkeit, wer so argumentiert, wie Sie es gerade beschrieben haben?

    Kelek: In allen Parteien gibt es mittlerweile türkische Migranten, also Migranten mit türkischem Hintergrund, die einen deutschen Pass haben. Sie sprechen in der Öffentlichkeit jede Kritik, die an die Türken oder Migranten geführt werden, klein. Es heißt – ich habe heute zum Beispiel die türkische Presse gelesen –, da heißt es durchweg, die deutsche Gesellschaft hat versagt. Da gibt es dann türkische Verbände, die sofort dann mehr Geld wollen. Aber das im Konkreten, wie diese Ursachen eigentlich zusammenhängen, wird wieder nicht diskutiert. Das ganze Konzept wird nicht infrage gestellt. Deshalb wehre ich mich dagegen, wenn wir jetzt diese Studie ernst nehmen und diese soziale Realität auch ernst benennen in der Öffentlichkeit, darüber sprechen müssen, dass es nicht die sozialen Ursachen sind und kein Armutsproblem dahintersteckt, sondern ein kulturelles Problem dahintersteckt. Darüber müssen wir sprechen, denn wenn nicht, werden wieder Gelder ausgegeben und wir haben das Problem nicht lösen können.

    Schmitz: Was muss denn dann, wenn es ein kulturelles Phänomen ist, konkret getan werden?

    Kelek: In allererster Linie dieses benennen dürfen. Zum Beispiel, dass es ein anderes Familienkonzept gegenüber vietnamesischen Familien oder anderen Migrantenfamilien hier gibt, wo eine Kernfamilie sich gebildet hat und Vater und Mutter sich für die Bildung der Kinder einsetzen. Das heißt, das Geld, das man in diesem Land verdient, wird für das Kind ausgegeben und für die individuelle Entwicklung der Kinder halt gesorgt. Das tun sehr viele muslimische Familien nicht, sie haben ein anderes Konzept im Kopf. Nur wenn wir das erst so benennen können, wir ja entsprechende Konzepte auch vorbereiten. Ansonsten sehe ich da ganz wenig Unterstützung.

    Schmitz: Gut, wir wissen jetzt, dass es so ist, wie Sie es beschrieben haben. Wie kommt man an die Familien heran? Über die Schulen, ist das der Weg über die Kinder, weil die Eltern sind doch wohl sehr befangen, wenn sie sogar auch in der Türkei geboren worden sind, in ihren traditionellen Familienkonzepten, die Sie ja an erster Stelle als problematisch betrachten?

    Kelek: In allererster Linie muss die Politik die Form der Zwangsverheiratung ernst nehmen und das muss endlich Straftatbestand sein. Und es muss sein, wenn eine Zwangsverheiratung vorliegt, dass auch die Eltern belangt werden. Aber auch über arrangierte Ehen müssen wir offen und ehrlich sprechen. Dann müssen wir darüber sprechen, dass Kinder ein Recht auf Kindheit haben und auch die religiöse Verantwortung zum Beispiel einbeziehen, wenn sechs-, siebenjährige Kinder oder Mädchen bereits Kopftuch tragen müssen und an der gesellschaftlichen Entwicklung, auf die es ja als Kind eigentlich ein Recht hat, nicht wahrnehmen darf, nicht teilnehmen darf. Das ist zum Beispiel für mich auch ein Straftatbestand, wenn ich als sechsjähriges Mädchen auf einem Schulhof nicht wie die anderen Mädchen oder Jungens laufen darf, springen darf, nicht schaukeln darf, weil ich ein Kopftuch aufgesetzt bekommen habe, das mit Stecknadeln festgemacht worden ist. Das sind so viele Details, die ich jetzt hier nicht benennen kann. Aber ein Kind hat ein Recht, in dieser Gesellschaft als Kind aufzuwachsen. Dafür müssen die Schulen, die Behörden, die Jugendinstitute, alle müssen dafür sorgen.

    Schmitz: Die Soziologin Necla Kelek über die Integrationsstudie "Ungenutzte Potenziale" des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung.