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Spätrömische Dekadenz im korsischen Hinterland

Der französische Schriftsteller Jérôme Ferrari stellt in seinem neuen Roman die Saufgelage und Eifersuchtsdramen in einer boomenden korsischen Dorfkneipe neben die Zustände im untergehenden Römischen Reich.

Von Christoph Vormweg | 10.03.2013
    Was, fragt man sich, hat der lateinische Kirchenlehrer Augustinus im korsischen Hinterland verloren? Denn nicht nur der Titel von Jérôme Ferraris Roman "Predigt auf den Untergang Roms" verweist direkt auf dessen im Jahr 410 nach Christus verfasste "Sermones". Auch das Roman-Motto und die Kapitelüberschriften sind Zitate aus dem Werk des spätantiken Philosophen. Im Roman selbst jedoch spielt Augustinus lange den Abwesenden. Als erstes tauchen wir ab in die Gedankenwelt des greisen Korsen Marcel Antonetti. Beim Betrachten einer alten Photographie driftet er zurück in vergangene Zeiten – das allerdings in sehr eigenwilliger Manier. Schon in den ersten fünf Sätzen demonstriert Jérôme Ferrari – und mit ihm der Übersetzer Christian Ruzicska - literarische Klasse:

    "Als Bezeugung der Ursprünge – als Bezeugung vom Ende wäre da also diese Photographie, aufgenommen im Sommer 1918, in deren Betrachtung Marcel Antonetti sich sein Leben lang vergeblich verbissen hatte, um das Rätsel der Abwesenheit in ihr zu entschlüsseln. Man sieht seine fünf Geschwister mit seiner Mutter darauf abgebildet. Um sie herum ist alles milchig weiß, weder Wände noch Boden sind auszumachen, und sie scheinen wie Gespenster in dem merkwürdigen Nebel zu schweben, der sie bald schon verschlucken und auslöschen wird. Sie sitzt in Trauer gekleidet da, starr und alterslos, ein dunkles Tuch umhüllt ihren Kopf, die Hände ruhen flach auf den Knien, und sie blickt so intensiv auf einen Punkt jenseits des Objektivs, dass man meinen möchte, sie sei gleichgültig gegenüber allem Anwesenden um sie herum: dem Fotografen samt seinen Instrumenten, dem Licht des Sommers und ihren eigenen Kindern – ihr Sohn Jean-Baptiste, mit Bommelmütze, gezwängt in einen zu eng sitzenden Matrosenanzug, wie er sich ängstlich an sie schmiegt, ihre drei älteren Töchter, in einer Reihe hinter ihr, alle steif und in Sonntagstracht, die Arme dicht an den Körper gepresst, und, allein im Vordergrund, die jüngste, Jeanne-Marie, barfüßig und in Lumpen, die ihr leichenblasses und schmollendes kleines Gesicht hinter den verwirbelten Strähnen ihres schwarzen Haars verbirgt. Und jedes Mal, wenn er den Blick seiner Mutter kreuzt, erfasst Marcel die unumstößliche Gewissheit, dass er ihm gilt und dass sie damals schon bis tief hinein in die Vorhölle nach den Augen des Sohnes Ausschau hielt, den es noch zu gebären galt und den sie nicht kannte."

    Der Greis Marcel Antonetti ist der Joker im Erzählgefüge des Romans "Predigt auf den Untergang Roms". Sein Hirn imaginiert nicht nur in drastischer Weise die eigene Zeugung: den Akt zweier ausgelaugter Körper, die nur noch ein schwächliches, blutspuckendes Kind zustande bringen. Nein, Marcels unkoordinierte Erinnerungsschübe eröffnen auch die Möglichkeit, nach Belieben über den Tellerrand des korsischen Kaffs hinaus zu blicken und die Großereignisse der französischen Geschichte ins Visier zu nehmen. So tritt zum Beispiel einer der Protagonisten aus Jérôme Ferraris zuletzt erschienenem, äußerst düsterem Roman "Und meine Seele ließ ich zurück" wieder auf: André Degorce, der zweite Ehemann von Marcels Schwester. Als Widerstandskämpfer gegen die Nazi-Besatzer wird er gefasst und in ein deutsches Konzentrationslager deportiert. Die Nazi-Methoden, die er dort am eigenen Leib durchleidet, nutzt er später, so die böse Ironie, beim Foltern algerischer Widerstandskämpfer. Und auch Marcels Bruder Jean-Baptiste lädt im Namen der französischen Nation Schuld auf sich. Er macht Karriere als Kolonialoffizier in Indochina.

    "Alles, was er von seinem Bruder wahrnahm, war ihm unerträglich geworden, sein offensichtlicher Geschmack an Huren, sein imposantes Auftreten, seine Magerkeit und sein Fett, die Unverfrorenheit seiner Haltung, sogar seine Großzügigkeit, denn all das Geld konnte nicht vom Sold eines Hauptfeldwebels weggespart werden und stammte ohne jeden Zweifel aus ekelerregendem Schmuggel mit Piaster, Opium oder Menschenfleisch. Als Jean-Baptiste zur Hochzeit von Jeanne-Marie ins Dorf zurückkam, entsprach sein Leibesumfang exakt demjenigen am Tage seiner Abreise und ein juveniler Ausdruck prägte noch das Gesicht des Mannes, zu dem er dort drüben geworden war, in diesen unvorstellbaren Gegenden, wo die Gischt des Meeres durchschimmernd war und im Sonnenglanz leuchtete wie ein Gebinde aus Diamanten, er war umschwärmt von seiner Frau und seinen Kindern, der goldene Anker der Kolonialtruppen schmückte seine Ärmel und seine Schirmmütze, aber die giftige Einwirkung seiner Heimaterde schickte ihn erneut zu dem zurück, was er nie aufgehört hatte zu sein, ein unkultivierter und ungelenker Bauer, den das Schicksal in eine Welt verfrachtet hatte, die er nicht verdiente, und weder die Champagnerkisten, die er für die Hochzeit seiner jüngeren Schwester bestellt hatte, noch sein groteskes Vorhaben, in Saigon ein Hotel zu eröffnen, wenn er als Militär in Ruhestand treten würde, änderten daran etwas. Sie waren alle elende Bauern, die einer Welt entstammten, die schon seit Langem aufgehört hatte, eine zu sein, und die an ihren Sohlen klebte wie Schlamm, die zähflüssige und formbare Substanz, aus der auch sie gemacht waren und die sie überallhin mit sich nahmen, ob Marseille oder Saigon."

    Manche der fein austarierten Langsätze von Jérôme Ferrari erscheinen fast schon zu kunstvoll und elegant für die Beschreibung von Marcels korsischem Selbstekel. Doch treten im Roman "Predigt auf den Untergang Roms" natürlich auch Korsen auf, die sich nicht für "elende, unkultivierte Bauern" halten. Zum Beispiel Jacques, der einzige Sohn Marcels, den er nach dem frühen Tod seiner Ehefrau in die Obhut seiner Schwester gibt. Dort findet Jacques sein Glück - wenn auch auf Kosten eines familiären Inzestskandals. Denn er verliebt sich in seine Cousine, mit der er später in Paris zwei gesunde Kinder zeugt: Matthieu und Aurélie, die sich neben Marcel als die Protagonisten des figurenreichen Romans entpuppen.

    Am Beispiel Matthieus beschreibt Jérôme Ferrari die Kapriolen, zu der uns unsere Sehnsucht nach Identität verführt. Statt den stolzen Hauptstädter zu mimen, vernarrt sich der Heranwachsende in die alte Heimat der Eltern: die korsische Provinz. Sie wird für ihn zur Verheißung des anderen. Dort findet Matthieu in Libero Pintus seinen großen Jugendfreund.

    "Es gab zwei Welten, vielleicht unendlich viele mehr, aber für ihn nur zwei. Zwei vollkommen voneinander getrennte Welten, hierarchisch geordnet, ohne gemeinsame Grenze, und er wollte sich diejenige, die ihm die fremdeste war, zu eigen machen, als hätte er entdeckt, dass der wesentliche Teil seiner selbst der ihm fremdeste war und dass er diesen nun zu entdecken und zurückzuholen habe, denn er war ihm entrissen worden, schon weit vor seiner Geburt, und man hatte ihn dazu verflucht, das Leben eines Fremden zu leben, ohne dass er sich dessen hätte bewusst werden können, ein Leben, in dem alles, was ihm vertraut erschienen war, verachtenswert geworden ist, eines, das nicht einmal ein Leben genannt werden konnte, sondern eine mechanische Parodie auf das Leben, welche er vergessen wollte, indem er sich zum Beispiel den kalten, von den Bergen kommenden Wind ins Gesicht fegen ließ, während er zusammen mit Libero auf dem Heck eines von Sauveur Pintus holprig über kaputte Fahrbahnen gelenkten Allrads hockte, auf dem Weg hoch zu dessen Schäferei.

    Matthieu war sechzehn Jahre alt und verbrachte inzwischen seine gesamten Winterferien im Dorf, und er gedieh in der unentwirrbaren Geschwisterschaft der
    Pintus mit der Gewandtheit eines routinierten Ethnologen."


    Auch wenn Matthieu fast kein Wort Korsisch versteht, bezirzt ihn allein schon der Klang der Sprache. Nicht einmal das brutal Archaische einiger bäurischer Lebensgewohnheiten vermag den Heranwachsenden zu verschrecken, wie Jérôme Ferrari augenzwinkernd beschreibt. So verputzt Matthieu, nachdem vor seinen Augen etliche Schweine kastriert worden sind, die gegrillten Hoden mit größtem Appetit. Das Philosophiestudium dagegen, das er in Paris beginnt, lässt ihn herzlich kalt. Einziger Trost ist die Tatsache, dass sich auch sein hoch begabter Freund Libero an der Sorbonne einschreibt. Der Hass auf das eitle Pariser Treiben erfasst aber bald auch ihn. Und hier kommen endlich Augustinus´ "Predigten auf den Untergang Roms" ins Spiel. Denn ihre Lektüre befeuert ihn in seiner Paris-Aversion. Ein menschliches Miteinander auf hohem kulturellen Niveau, so Liberos Schluß, hat in der dekadenten französischen Metropole keine Zukunft.

    Jérôme Ferrari lässt hier zwei Erzählstränge parallel verlaufen, um sie anschließend mit gehörigem Funkenflug kurzzuschließen: Zum einen beschreibt er die Pariser Tristesse der beiden Jungen, zum anderen die endlosen Bemühungen der Kneipenbesitzerin im Dorf ihrer Herkunft, einen neuen Pächter zu finden. Diese Bemühungen provozieren zunächst zwei Pleiten mit zahllosen komischen Nebeneffekten - bis die Neuigkeit, das schon wieder ein Pächter gesucht wird, nach Paris dringt. Libero entscheidet daraufhin kurzentschlossen: Schluß mit der Sorbonne und ran an den Tresen. Für Matthieu scheint es die Erlösung. Die ehrgeizigen Eltern dagegen laufen Amok. Sie hoffen, dass die offene Frage der Finanzierung die beiden noch zur Vernunft bringt.

    Ausgerechnet Opa Marcel, der seinen Enkel Matthieu, dieses Produkt familiärer Inzucht, nie gemocht hat, spielt hier den "Deus ex machina". Zwei Jahre lang will er die Pacht im Voraus bezahlen. Und siehe da: die Dorfkneipe floriert bald wirklich – dank der vier hübschen Kellnerinnen und der grabschlüsternen Tresendame. Denn die bringen die Phantasien der trinkfreudigen Hinterlandkorsen in Windeseile auf Hochtouren. Auch für den erotisch unbefleckten Matthieu eröffnen sich nun neue Welten. Als er das nächtliche Herumgetigere seines immer wirreren Opas Marcel satt ist, zieht er in die Schlafgemächer der Kellnerinnen über der Kneipe.

    "Er folgte ihnen in die Wohnung. An den Wänden lagen sorgfältig aufgereihte Säcke und Wäschestapel. Ein Räucherstäbchen brannte. Annie hatte ihre Kammer, Rym und Sarah schliefen in der anderen und Matthieu legte sich auf die Matratze, die sich Agnès und Izaskun im Wohnzimmer teilten und die sie hinter einem japanischen Wandschirm versteckt hielten. […] [Stets] schlief [er] den gleichen unschuldigen und friedlichen Schlaf, als wäre das heilige Schwert des Ritters aufs Laken gelegt worden zwischen seinen Körper und die Körperwärme der jungen Mädchen und würde ihnen etwas mitteilen von seiner ewigen Reinheit. Diese himmlische Harmonie war nur am Wochenende gestört, wenn Pierre-Emmanuel Colonna sich zu Annie gesellte und ihr satanisches Treiben ertragen werden musste. Ihre Ausdauer war unvorstellbar. Sie machten grauenhaften Lärm, Pierre- Emmanuel ächzte und stieß manchmal ein unpassendes Lachen aus, Annie stieß Schreie aus und war zudem furchtbar geschwätzig und verkündete lauthals, was man mit ihr machen solle und was man grade eben mit ihr machte und wie sehr sie es genoss, was man grade eben mit ihr gemacht hatte, so deutlich, dass man den Eindruck gewann, einer Radioübertragung eines Spiels beizuwohnen, eines obszönen und unendlichen Spiels, das von einem hysterischen Journalisten kommentiert wurde."

    Es gibt also viel zu Schmunzeln in Jérôme Ferraris Roman "Predigt auf den Untergang Roms". Doch mischt sich in die Euphorie des ersten Sommers bald Skepsis.

    "Das erste Mal seit geraumer Zeit wieder dachte [Matthieu] an Leibniz und
    erfreute sich des Ortes, der nun der seine war, in der besten aller möglichen Welten, und beinahe hätte er Lust gehabt, sich vor der Güte Gottes zu verneigen, dem Herrn der Welten, der jegliche Kreatur an die richtige Stelle setzte. Aber Gott verdiente keinerlei Lobpreisung, denn die einzigen Demiurgen dieser kleinen Welt waren Matthieu und Libero. Der Demiurg ist nicht der Schöpfergott. Er weiß nicht einmal, dass er eine Welt erbaut, er stellt ein Gebilde her von Menschenhand, Stein um Stein, und bald schon entwischt ihm seine Schöpfung und überflügelt ihn, und wenn er sie nicht zerstört, dann ist es sie, die ihn zerstört."


    Ist die Dorfkneipe also doch nicht das erträumte Refugium fernab des Getöses der modernen Welt? In der Konfrontation mit dem Gegenwärtigen laden sich nach und nach auch das Roman-Motto und die Kapitel-Überschriften aus den Predigten des Ausgustinus mit Bedeutung auf.

    "Du, siehe, was Du bist."

    Heißt es da zum Beispiel:

    "Denn unabwendbar kommt das Feuer."

    Jérôme Ferrari stellt die Saufgelage und Eifersuchtsdramen in der boomenden korsischen Dorfkneipe neben die Zustände im untergehenden Rom. Rom ist für ihn dort, wo sich der Hochmut der Erfolgreichen breit macht. Denn auch Matthieu und Libero versteigen sich in eine Art überheblichen Dauerrausch. Geschickt spielt Jérôme Ferrari hier mit den Ambivalenzen der menschlichen Existenz, mit ihren Schieflagen und Abgründen. Das Bestechende an seiner Erzählkunst ist, dass er den Untergängen in der "großen" und der alltäglichen Geschichte ihre Rätselhaftigkeit nie völlig nimmt. Es sind gerade die offenen Deutungsräume, die faszinieren.

    Was mit dem Titel "Predigt auf den Untergang Roms" behauptet wird, bestätigt sich zuletzt: Augustinus ist der heimliche Erzählkitt des Romans. Er liefert auch das Verbindungsglied zu Matthieus Schwester Aurélie, die als Archäologin arbeitet. Im algerischen Hippo nimmt sie an der Suche nach der Basilika teil, in der Augustinus im Jahr 410 seine "Predigten" hielt. Mit Aurélie, die den Entschluß ihres Bruders, eine Kneipe zu führen, für absurd, dekadent und dumm hält, öffnet Jérôme Ferrari einen weiteren Einblick in das widerspruchsreiche Familienleben der Antonettis.

    "Und jetzt spähte sie am Seitenfenster nach dem Auftauchen der Balearen,
    die ihr das Versprechen eines nahenden Trostes gaben, demjenigen der Rückkehr in die Sanftmut eines Geburtslandes, das sie gar nicht hatte zur Welt kommen sehen, und ihr Herz begann heftiger zu schlagen, bis sie schließlich die kieselgraue Linie der afrikanischen Küste erblickte und wusste, dass sie endlich heimkehrte. Denn inzwischen war es in Frankreich, wo sie sich im Exil fühlte, als hätte ihr die Tatsache, dass sie nicht mehr tagtäglich die gleiche Luft atmete wir ihre Landsleute, deren Sorgen unverständlich werden lassen, und ebenso waren die Worte, die man an sie richtete, vergeblich gesprochen, eine rätselhafte Grenze war um ihren Körper herum gezogen, eine aus transparentem Glas gemachte Grenze, die zu überschreiten sie weder die Kraft besaß noch den Wunsch. […] - und der Mann, der bald schon nicht mehr das Leben mit ihr teilen würde, war davon ständig verletzt, er machte ihr Vorwürfe, die sie nicht einmal mehr abwehrte, denn sie hatte es aufgegeben, gegen ihre eigene Kälte anzukämpfen, gegen ihre Ungeniertheit und Ungerechtigkeit, die sich in ihrem boshaften Herzen niedergelassen hatten. Erst am Flughafen von Algier, in den Räumlichkeiten der Universität und schließlich in Annaba war es ihr möglich, wieder ganz zu ihrer Güte zu finden."


    Der Roman "Predigt auf den Untergang Roms" führt uns in ganz unterschiedlichen Stimmungs- und Seelenlagen die Suche nach Identität als endlosen Eiertanz vor. Während für Matthieu die Kneipe vorübergehend zur "besten aller möglichen Welten" wird, sucht Aurélie ihr Glück in einer neuen Liebe. Das Gefühl von Ankommen stellt sich jedoch allenfalls in Momenten ein. Meist entpuppt es sich als bloße Illusion, die von den Realitäten langsam aber sicher zerrieben wird. Jérôme Ferrari schildert das Handeln seiner Figuren, ohne es zu beurteilen. Der moralische Zeigefinger ist ihm fremd. Immer wieder gelingen ihm so packende Passagen, die menschliche Verunsicherung oder Erstaunen verdichten, Irritation oder auch banales Glück. So beschreibt er mit großem Einfühlungsvermögen, wie Matthieu nach dem Tod seines Vaters lange vergeblich die Trauer in sich sucht. Oder ihm gelingen Miniaturen der Zärtlichkeit wie am Sterbebett von Großvater Marcel, an dem seine Enkelin Aurélie ausharrt.

    "Im Zimmer sind die Läden halb geschlossen. Sie will nicht, dass das zu grelle Licht die Augen ihres Großvaters verletzt. Sie will aber auch nicht, dass er im Finstern stirbt. Von Zeit zu Zeit öffnet er die Augen und dreht ihr den Kopf zu. Sie nimmt seine Hand.
    Meine Kleine. Meine Kleine.

    Er hat keine Angst. Er weiß, dass sie da ist, dass sie für ihn nach der ruhigen Ankunft des Todes späht, und er sinkt zurück in sein Kissen. Aurélie lässt seine Hand nicht los. Der Tod wird vielleicht vor Matthieu und Claudie kommen, im Schutz ihrer innigen Einheit, und wenn er da sein wird, wird er mit Marcel zugleich jene Welt hinwegtragen, die nur durch ihn noch lebt. Von dieser Welt wird nur eine Photographie zurückbleiben, aufgenommen im Sommer 1918, aber Marcel wird nicht mehr da sein, sie zu betrachten."


    Jérôme Ferraris sprachlich hoch versierte Romanprosa bewegt, ohne je ins Sentimentale abzurutschen. Gleichzeitig scheut er sich nicht, das Banale auch als Banales zu beschreiben. Spannend ist seine "Predigt auf den Untergang Roms" jedenfalls bis zuletzt: sowohl vom dramatischen wie vom philosophischen Plot her. Seine Einblicke in die Zerrissenheit der korsischen Seele, die als multiperspektivisches Geschichtenknäuel daher kommen, halten am Ende viele Türen zum Weiterphantasieren offen. Auch darin liegt die Stärke von Jérôme Ferraris Familensaga. Und den Trost liefert natürlich Augustinus. Denn für ihn steckt in jedem Untergang ein Neuanfang:

    "Die Welt vergeht, die Welt ist alt, die Welt verendet. […] Fürchte jedoch nichts: Deine Jugend wird sich erneuern wie die des Adlers."


    Jérôme Ferrari:
    Predigt auf den Untergang Roms. Aus dem Französischen von Christian Ruzicska.
    Secession Verlag für Literatur 2013, 200 Seiten, 19,95 Euro