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Spagat zwischen Diktatur und Demokratie

Vor 20 Jahren hat ein Pakt zwischen einer Mitte-links-Koalition und den Militärs die Voraussetzung für die demokratischen Verhältnisse in Chile geschaffen. Sie sollten dem Land eine für den Süden Amerikas ungewöhnliche Stabilität bringen.

Von Peter B. Schumann | 14.12.2009
    Chile 1988. Im staatlichen Fernsehen läuft ein Werbespot. Er ruft zu einer "Kampagne des Nein" auf, zu einem Votum gegen die Militärdiktatur. Es ist das erste Mal seit dem Putsch von Pinochet im September 1973, dass sich die demokratische Opposition öffentlich gegen das Regime erklären kann. Der General fühlt sich so fest im Sattel, dass er glaubt, seine Macht durch ein Referendum legitimieren lassen zu können.

    15 Jahre nach dem Putsch sind es die Chilenen leid, von Zensur, Willkürjustiz und brutalen Polizeiaktionen gegängelt zu werden und keinerlei Informationen über den Verbleib von Tausenden von verschleppten Angehörigen zu erhalten. Was lange Jahre undenkbar schien, geschieht: Die Mehrheit der Bevölkerung sagt tatsächlich Nein zur Diktatur. Nur einer scheint das Ergebnis nicht anerkennen zu wollen: Augusto Pinochet. Am Tag nach der Niederlage erklärt er:

    "Der Präsident der Republik, der zu Ihnen spricht, und die gesamte Regierung werden mit aller Kraft an der großen Sache, die Chile bedeutet, weiterarbeiten. Wir werden die Programme, die wir entwickelt haben, fortsetzen. Das ist ein Gebot für alle Chilenen, deren Vaterlandsliebe über allen persönlichen Interessen und Bestrebungen steht."

    Aber diesmal hat sich der Diktator verkalkuliert. Selbst die Unternehmer, die von seinem neoliberalen Wirtschaftssystem am meisten profitiert haben, halten demokratische Verhältnisse für opportuner. Es bietet sich auch ein Parteienbündnis an, das ihre Interessen zu sichern verspricht: die Concertación, eine Allianz aus Christ- und Sozialdemokraten. Am 14. Dezember 1989 gewinnt sie mit rund 55 Prozent die Wahlen. Der neue Präsident ist ein Christdemokrat, der Pinochets Putsch ursprünglich begrüßt hatte: Patricio Aylwin. Bei seinem Amtsantritt zeigt er sich ganz auf Versöhnung bedacht.

    "Es ist eine großartige und vielfältige Aufgabe, die wir vor uns haben: ein Klima des Respekts und des Vertrauens zu schaffen im Zusammenleben der Chilenen, ganz gleich, welche Glaubensrichtung, Ideen und Haltungen sie vertreten oder welcher gesellschaftlichen Herkunft sie sind, Zivile oder Militärs, jawohl Landsleute: Zivile oder Militärs, es gibt nur ein Chile."

    Aber dieses Chile konnte nicht ohne Weiteres nach dem formalen Ende der Diktatur zur Demokratie übergehen, weil die Militärs es nach wie vor "beschützten" - wie es damals in den Medien hieß. Dazu hatten sie sich eine Verfassung zurechtgeschneidert, die ihren Einfluss bis ins Parlament sicherte und ihnen weitgehende Straflosigkeit für ihre Verbrechen garantierte. Es gab zwar eine demokratisch gewählte Mitte-links-Regierung, aber faktisch hielten die Militärs und die Wirtschaftsbosse nach wie vor die Macht in Händen. Es herrschte anfangs so etwas wie ein Stillhalteabkommen - einige Publizisten sprachen sogar von "Pakt" - zwischen der Concertación und den Militärs. Nur an einem bestand kein Zweifel: am Wirtschaftssystem, Chiles Erfolgsrezept. Der Schriftsteller und zeitweilige Botschafter seines Landes in Deutschland, Antonio Skármeta:

    "Die einen wollten mehr Staat, mehr Investitionen im sozialen Bereich. Die anderen wollten weniger Staat, weniger Steuern zahlen. Aber über die neoliberale Wirtschaftsform und die für das Land entscheidende Exportpolitik waren sich die herrschenden Kräfte völlig einig. Und die anderen, die mit der neoliberalen Richtung nicht einverstanden waren, besaßen keinerlei parlamentarische Repräsentanz und waren auch in keinem anderen Organ vertreten. Sie befanden sich außerhalb des Systems."

    Heute - 20 Jahre später - gilt der damalige Spagat zwischen Diktatur und Demokratie als gelungen. Chile hat das Erbe des Pinochet-Regimes in vielen Bereichen überwunden. Die juristische Aufarbeitung der Vergangenheit macht Fortschritte, und sogar das Militär hat erste Schritte der sozialen Reintegration unternommen. Aber noch immer ist die Demokratie weit von dem Zustand entfernt, den sie Ende der 60er-, Anfang der 70er-Jahre bereits erreicht hatte.