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Spanien
Contergan-Opfer kämpfen für Entschädigung

Nach der Aufdeckung des Contergan-Skandals in Deutschland einigten sich 1970 der Arzneimittelkonzern Grünenthal und der Bund auf die Schaffung einer Stiftung, von der rund 2.700 Menschen weltweit Leistungen beziehen. In Spanien kämpfen Thalidomid-Opfer bis heute für eine Entschädigung.

Von Hans-Günter Kellner | 16.09.2014
    Eine Originalpackung des Medikamentes Contergan am 13.11.2007 in Ulm. Durch das Schlafmittel Contergan des Pharmaherstellers Grünenthal kam es in den fünfizger und sechziger Jahren zu Missbildungen bei Neugeborenen.
    Durch die Einnahme von Thalidomidhaltigen Präparaten kam es in den 50er- und 60er-Jahren zu Missbildungen bei Neugeborenen. (Stefan Puchner / dpa)
    Rafael Basterrechea öffnet die Wohnungstür und lächelt. Er hat breite Schultern und drückt beim Gruß mit der Hand kräftig zu. Er versteckt seine Behinderung nicht. Denn der 49-Jährige ist ein Opfer von Thalidomid, dem Wirkstoff im Medikament Contergan, das in Spanien unter anderem unter der Handelsmarke Softenon verkauft wurde:
    "Meine beiden Arme sind verkürzt. Ich kann die Ellenbogen nicht bewegen. Das ist meine schwerste Behinderung. Aber mit einer positiven Grundeinstellung ist alles viel einfacher. Ich habe immer versucht, so autonom wie möglich zu sein. Ich habe ein spezielles, für meine Bedürfnisse eingerichtetes Auto. Aber ich kann mich nicht alleine waschen, rasieren, anziehen. Wenn man mich fragt, inwiefern ich eingeschränkt bin, antworte ich schlicht: Versuchen Sie einmal, ihre täglichen Dinge mit völlig versteifen Ellenbogen zu bewältigen. Da merkt man schnell, dass vieles nicht möglich ist."
    Basterrechea ist 1965 geboren. Da hatte die Firma Grünenthal die thalidomithaltigen Medikamente schon längst vom spanischen Markt genommen. Und zwar schon Mitte 1962. Der Vorwurf an Grünenthal: Sie hätten die spanischen Ärzte nicht vollständig über die Hintergründe informiert. Dies geht aus einem Briefwechsel zwischen der Konzernzentrale in Aachen und der Filiale in Madrid hervor, den Besterrechea aus einem dicken Ordner kramt. Angesichts so vieler Dokumente der Nachlässigkeiten schüttelt er immer wieder mit dem Kopf. Denn so nahm auch seine Mutter noch 1964 unbekümmert das gute Schlafmittel - also zwei Jahre, nachdem der Konzern es vom Markt genommen hatte - und hielt auch nach der Geburt ihres Sohnes dessen Missbildungen stets für den Willen Gottes.
    Rafael: "Was wäre leichter gewesen, als zu sagen, nach allem, was passiert ist, suchen wir die Opfer, helfen ihnen, unterstützen sie? Das ist nicht passiert. Ich kam in der Provinzstadt Huesca zur Welt. Niemand wusste, was mit mir zu machen ist. So kam ich nach Madrid. Bis ich 18 Jahre alt war wurde ich dort behandelt, alle drei Monate. Die wussten dort alle, was passiert war. Dass man hätte klagen können. Aber die Ärzte sagten nichts."
    Keine öffentliche Debatte in Spanien
    Besterrechea hat mit seiner Behinderung sein Leben gemeistert: Er ist Bauleiter, und auf dem Bau geht es auch mal grob zu, sagt er. Seine Frau Juani lacht. Auf dem Wohnzimmertisch liegen Tageszeitungen und bei seinen Fahrten zu den Baustellen hört er auch viel Radio. Er hält sich für gut informiert. Trotzdem wurde ihm erst 2005 durch eine Fernsehsendung klar, dass seine Missbildungen mit dem Wirkstoff Thalidomid zu tun haben könne. In Spanien gab es vorher schlicht keine öffentliche Debatte über eine Verbindung zwischen Thalidomid und den Behinderungen. Er setzte sich mit dem Betroffenenverband Avite in Verbindung, wurde ihr Vizepräsident. Erste Entschädigungszahlungen leistete der spanische Staat 2010. Doch auch Grünenthal soll zur Rechenschaft gezogen werden:
    "Die Richterin hat doch offensichtlich nicht gezweifelt. Sie hat Grünenthal für die Missbildungen der offiziell anerkannten Opfer verantwortlich gemacht und dafür verurteilt - auch wenn es tatsächlich weitere Hersteller gegeben haben mag. Das Urteil folgt völlig unserer Argumentationslinie. Wir haben Grünenthal gewarnt: 2013 sind in Deutschland die Entschädigungszahlungen für die besonders stark Geschädigten versechsfacht worden. Würden wir heute unsere Klage einreichen, würden wir nicht 20.000 Euro, sondern 120.000 Euro pro Behinderungsgrad verlangen."
    Doch ob sie das Geld tatsächlich bekommen, ist längst nicht sicher. Besterrechea zeigt sich kämpferisch, aber Grünenthal hat gegen das Urteil bereits im Dezember Berufung eingelegt. Jetzt tritt das Berufungsgericht erstmals zusammen. Grünenthal argumentiert: Die Vorfälle lägen mehr als 50 Jahre zurück und seien längst verjährt, ein gerechtes Verfahren sei nach so langer Zeit nicht mehr möglich und die Kläger hätten auch keine spezifischen Beweise für ihre Schädigung durch Thalidomid vorgelegt. Stattdessen bietet der Konzern den Opfern Entschädigungsleistungen der Conterganstiftung an. Der Betroffenenverband bereitet seinerseits weitere rechtliche Schritte vor.
    "Wir bereiten jetzt ein gerichtsmedizinisches Gutachten vor, nachdem die im ersten Verfahren bewilligten Entschädigungen von rund 20 auf weitere Betroffene ausgeweitet werden müssen. Natürlich werden nicht alle unserer 300 Mitglieder vor Gericht nachweisen können, auch Thalidomid-Opfer zu sein. Wir gehen davon aus, dass wir die Klage noch in diesem Jahr einreichen."