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Spanien
Die Erben der Protestbewegung

Am 15. Mai 2011 gingen Zehntausende junge Spanier auf die Straße, um gegen das politische System und die wirtschaftliche Situation im Land zu demonstrieren. Fünf Jahre später sind viele der "jungen Empörten" zu Wählern von "Podemos" geworden. Doch nicht alle Unterstützer der "Bewegung 15. Mai" sehen die neue Partei als Erbin der Protestbewegung.

Von Hans-Günter Kellner | 13.05.2016
    Madrid im September 2012: Damals protestierten viele Spanier gegen das Sparprogramm der Regierung.
    Auch nach dem 15. Mai 2011 protestierten viele Spanier immer wieder gegen das Sparprogramm der Regierung. (picture alliance / dpa / Fabian Stratenschulte)
    Der zentrale Madrider Platz Puerta del Sol. Vor fünf Jahren hing an den Baugerüsten der Hausfassaden noch einer der Leitsätze der Empörten: "Sie repräsentieren uns nicht". Gemeint waren die Politiker:
    "Sie dachten, sie hätten auf soziale Forderungen ein Monopol. Aber in Wahrheit verfolgten sie ihre persönlichen Interessen, versuchten, von den Institutionen zu leben, statt die Rechte Aller einzufordern", sagt Carlos Paredes, einer der Sprecher der Bewegung "Echte Demokratie Jetzt" über die große Politikverdrossenheit, die damals in Spanien gegenüber allen Parteien herrschte. Mitstreiterin Sofia de Roa ergänzt:
    "Die Stimmung in der Bevölkerung war sehr, sehr schlecht. Niemand wusste, wie es weiter geht, die Arbeitslosenzahlen stiegen immer weiter. Niemand hat mehr geglaubt, dass die Politik Probleme der Leute lösen könnte. Und die Gewerkschaften haben nur an ihren Anteil an der Macht gedacht. Sie waren kein Werkzeug zur Verteidigung der Arbeiter und Angestellten mehr."
    Etablierten Parteien haben es schwer
    Auf 25 Prozent kletterte die Arbeitslosenquote in Spanien auf dem Höhepunkt der Krise, doch große Proteste blieben lange Zeit aus. Da riefen junge Menschen wie Carlos und Sofía für den 15. Mai 2011 zu Kundgebungen auf - in über 50 Städten. Alleine in Madrid gingen mehr als 80.000 Menschen auf die Straße. Die Bewegung des 15. Mai war geboren, in Spanien spricht man schlicht vom "15/M". Auch in den folgenden Wochen verließen die Empörten die Plätze nicht:
    "Die Puerta del Sol wurden zur Ágora, auf der die Menschen über alles sprachen, was sie interessierte, über den Arbeitsmarkt, Umwelt, Bildung - ein öffentlicher Raum, zu dem nicht nur Politiker und Journalisten Zugang hatten. Die Entscheidungen trafen wir gemeinsam – für alle sichtbar. Ohne Teilhabe und Transparenz kann keine Demokratie funktionieren. Das war das Fundament für den tiefgreifenden kulturellen Wandel, den wir heute erleben. Es hat sich viel verändert."
    Kaum eine spanische Partei kann sich diesem Anspruch auf Transparenz verschließen. Viele Parteien haben ihre Buchhaltung öffentlich gemacht, bestimmen ihre Spitzenkandidaten nicht mehr wie bislang in Gremien, sondern durch Mitgliederbefragungen. Die Spanier sind politisch selbstbewusster, neue Internetmedien sind entstanden. Darum haben es die etablierten Parteien schwierig, die verloren gegangene Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen - während eine neue Partei als Erbin der Protestbewegung gilt: Podemos. Carlos Paredes sieht das kritisch:
    "Podemos ist das Produkt von ein paar Intellektuellen aus den Universitäten, die lange Zeit versucht hatten, ihre sozialen Forderungen über die traditionellen Linksparteien umzusetzen. Als das nicht funktionierte, haben sie Podemos gegründet. Podemos macht sich viele Inhalte unserer Bewegung zu eigen. Aber die Partei hat nichts mit dem 15. Mai zu tun. Bei Podemos liegt die Macht bei einigen wenigen Parteigründern, sie ist streng hierarchisch strukturiert. Von einer Partei, die sich auf den 15. Mai beruft, wäre etwas anderes zu erwarten."
    Podemos und Ciudadanos fehlen Fähigkeiten zum Konsens
    Denn die Bewegung war streng basisdemokratisch und wollte die tiefen ideologischen Gräben in Spanien überwinden. Bei strittigen Fragen sei stets zunächst nach Gemeinsamkeiten gesucht worden, erinnert sich Carlos. Diese Fähigkeit zum Konsens hat nach den Wahlen vom 20. Dezember auch den neuen spanischen Parteien Podemos und Ciudadanos hingegen gefehlt:
    "Dass das bei der Regierungsbildung nicht umgesetzt werden konnte, ist eine Niederlage für die Demokratie. Aber diese Niederlage haben die Protagonisten vom ersten Tag an angestrebt. Die langen Verhandlungen waren nicht mehr als ein Vorwahlkampf für die Neuwahlen in wenigen Wochen. Es ging darum, dem Wähler zu zeigen, wie hässlich der Verhandlungspartner ist, um ihm ein paar Stimmen abluchsen zu können."
    Diese pauschale Kritik teilt Sofía nicht. Auch die 31-Jährige hält Podemos nicht für die Partei der Empörten, ist aber anders als Carlos, der sich inzwischen ganz auf seinen Beruf als selbstständiger Informatikdienstleister konzentriert, den Weg in die Institutionen mitgegangen, arbeitet in der Partei im Controlling der Finanzen:
    "Podemos ist für mich eine Möglichkeit, eine Partei mitaufzubauen, die anders als die anderen funktioniert. Der deutsch-italienische Soziologe Robert Michels entwickelte 1911 die Theorie, dass jede demokratische Partei dazu tendiert, Machteliten herauszubilden, die die Basis einschläfern und kontrollieren. Das kann ganz schnell passieren. Darum brauchen wir Mechanismen, die Transparenz herstellen. Es ist schwer, aber möglich."