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Spanische Identitäten (5/5)
"Spanien ist mein Land, seit wir eine Demokratie haben"

Der spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina bezeichnet sich selbst als Linken, will sich aber nicht an der Franco-Diktatur abarbeiten, sondern selbstkritisch nach vorne blicken. Eine Art Verfassungspatriotismus könnte die Spanier einen, glaubt er.

Von Hans-Günter Kellner | 23.11.2018
    Der spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina im Club Matador in Madrid
    Der spanische Schriftsteller Antonio Muñoz Molina im Club Matador in Madrid (Deutschlandradio/ Hans-Günter Kellner)
    Madrid ist eine laute Stadt. Der Verkehr, die Fernsehgeräte in den Cafeterias, die lebhaften Unterhaltungen. Kein Ort für nachdenkliche Betrachtungen. Der Schriftsteller Antonio Muñoz Molina verschwindet darum gerne hin und wieder. Zum Beispiel in den Club Matador hinter dem Kolumbusplatz.
    Es ist ein erlesener Ort, mit einer Bibliothek, einer Bar und einer Mediathek, in der man Schallplatten aus Vinyl auflegen kann. Unter den Füßen knarrt der Holzfußboden. Antonio Muñoz Molinas Refugium für ungestörte Gespräche.
    "Ich halte mich für einen freien Geist. Ich sage, was ich denke. Das gefällt nicht jedem. In Spanien muss man immer auf der einen oder auf der anderen Seite stehen. Ich hingegen will ein freier Bürger sein und sehe das sehr radikal. Einer der wichtigsten Texte darüber stammt von John Stuart Mill: 'On liberty'. Freiheit ist auch, gegen das zu schreiben, was die Leute denken, die Dir nahestehen. Das führt zur Kontroverse und das ist gut so."
    Anecken mit unpopulären Thesen
    Die klassische Rolle eines Intellektuellen. Doch wer aus der Reihe tanzt, wird in Spanien oft als Nestbeschmutzer behandelt. Gerade, wenn es um die Vergangenheit geht. In seinem Roman "Die Nacht der Erinnerungen" zum Beispiel schildert er authentisch die Erschießungen im von den Linken gehaltenen Madrid. Fast ein Tabubruch, wo in Spanien heute doch vor allem die Repressionen des Franco-Regimes im Fokus stehen.
    "Aufgrund meiner Herkunft und Erziehung bin ich Linker. Sozialdemokrat. Ich bin für soziale Gerechtigkeit und die individuellen Freiheiten. Aber ein Teil der spanischen Linken ist immer noch sehr autoritär. Als mein Roman ‚Sepharad‘ auf den Markt kam, überraschten mich die Reaktionen sehr. Die Linken empörte sich darüber, dass ich über die Opfer Stalins und der Nazis schrieb. Die Reaktionen waren teilweise sehr aggressiv. Na ja, was soll ich da machen", sagt er ein wenig lakonisch und zuckt mit den Schultern. Die Bedienung bringt einen Milchkaffee. "Die Milch bitte heiß", bittet er und beugt sich nach vorne.
    Francos langer Schatten
    Auch die Kontroverse um eine seiner regelmäßigen Kolumnen in der Tageszeitung "El Pais" war absehbar. Vor einem Jahr erzählte er darin von einem Besuch in Heidelberg. Und von einer deutschen Professorin, die sich überzeugt zeigte, Spanien sei noch heute "Francoland". Da sei es wieder, das alte Stereotyp, das Akademiker wie Journalisten so gerne bedienten, schrieb Muñoz Molina. Jede gesellschaftliche und politische Entwicklung in Spanien werde mit dem langen Schatten Francos erklärt. Der Autor ist noch heute empört:
    "Die Franco-Diktatur ist vor 40 Jahren mit dem Diktator gestorben. Natürlich gibt es bei uns Dinge, die zu verbessern sind, so wie in benachbarten Staaten auch. In internationalem Vergleichen wird die spanische Demokratie aber nicht schlechter bewertet als die anderer Staaten."
    Ein Nationalismus befeuert den anderen
    In "Francoland" seien aber auch noch zehntausende von Opfern der Repression des Diktators in Straßengräben verscharrt, antworteten daraufhin Opferverbände, immer noch pilgerten Franco-Anhänger zum Grab des Diktators. Muñoz Molina rückt seine Brille zurecht und entgegnet:
    "Die Reste des identitären Nationalismus des Franco-Regimes haben in den letzten Jahren kaum noch eine Rolle gespielt. Diese Leute sind erst als Reaktion auf das Erstarken des katalanischen Nationalismus wieder lauter geworden. So ist es doch immer. Der deutsche und der französische Nationalismus Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts nährte die jeweils andere Seite. Als der Nationalismus in Katalonien so virulent wurde, hat der den spanischen belebt. Aber ich denke nicht, dass dieser Nationalismus repräsentativ ist."
    Der 61-jährige wirkt trotz seiner zugespitzten Thesen stets ein wenig schüchtern, das Gesicht fast versteckt hinter einem vollen, inzwischen zunehmend grauen Vollbart. Erst Anfang der 1980er-Jahre hat er begonnen, seine Arbeiten zu veröffentlichen und hatte damit schnell großen Erfolg. Das Land hatte Hunger auf neue Autoren, die die damals noch junge Demokratie repräsentierten.
    "Die spanische Demokratie hat eine bürgerliche Identität geschaffen, die ich teile, die viele Spanier teilen. Für mich ist Spanien mein Land, seit wir eine Demokratie haben. Diese gemeinsame Grundlage verweigert sich unterschiedlichen kulturellen Identitäten nicht, im Gegenteil, sie wird durch sie stärker. Die Verfassung negiert die katalanische, baskische oder galicische Identität nicht. Sie integriert sie."
    40 Jahre spanische Verfassung
    Wo ist der Stolz auf dieses gemeinsame Regelwerk, das in diesem Jahr seinen 40. Geburtstag feiert? Muñoz Molina vermisst eine Art Verfassungspatriotismus, der die Spanier einen könnte.
    "Wir können auch einen anderen Begriff wählen. Was mir wichtig ist: Dass die praktische Wirklichkeit auch politische Realität wird. Die Menschen haben in ihrem Alltagsleben keine großen Probleme miteinander. Die politischen Eliten spalten hingegen. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf. Nicht immer erfüllen sich die schlimmsten Prophezeiungen. Nicht immer kommt es zum Schlimmsten."