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Spanischer Mythos

Der mittelalterliche Held Rodrigo Diaz machte sich im 11. Jahrhundert im Kampf Spaniens gegen die moslemischen Mauren als "El Cid" einen Namen. "Der Cid" heißt auch eine Oper des französischen Komponisten Théodore Gouvy, der mit einiger Anstrengung dem Vergessen entrissen werden soll.

Frieder Reininghaus | 04.06.2011
    Die künstlerische Erhöhung des mittelalterlichen Helden Rodrigo Diaz, der im 11. Jahrhundert teils mit den christlichen Spaniern, teils auf Seite der moslemischen Mauren kämpfte (und von diesen den Beinamen Cid erhielt), hat eine längere Theater-Geschichte. An deren Anfängen steht eine Trilogie des in Madrid tätigen Dramatikers Guillén de Castro (1569–1631; Las mocedades del Cid, 1618), die ab 1605 entstand; sie diente Pierre Corneille (1606–1684) als Vorbild für dessen Tragikomödie Le Cid (Théâtre du Marais Paris, 1636), diese wiederum Moritz von Hartmann für ein Libretto, das Théodore Gouvy (1819–1898) Anfang der 1860er-Jahre komponierte (zwischenzeitlich schrieb Christian Dietrich Grabbe in Düsseldorf ein Cid-Libretto für seinen Freund Norbert Burgmüller, aber dieses Projekt wurde nicht zu Ende gebracht). Zu Lebzeiten des lothringischen Industriellensohns Gouvy wurde auch dessen Oper nicht realisiert (1885 triumphierte Jules Massenet mit seinem "Cid" in Paris). Nachdem seit einiger Zeit von französischer Seite der Komponist Gouvy mit erheblichen Anstrengungen reaktiviert wird, hat nun auch das Saarländische Staatstheater reagiert und erinnert an den 1819 in Goffontaine bei Saarbrücken geborenen Sohn des Grenzlandes. Arthur Fagen dirigierte die um fast eineinhalb Jahrhunderte verspätete Uraufführung, Jetzske Mjinssen inszenierte.

    Manche jungen Künstler bringen die besten Voraussetzungen mit für einen umfassenden Erfolg. Und doch findet dann der "Durchbruch" zur internationalen Karriere nicht statt. Zu den Musikern, die dieses Schicksal ereilte, gehört der 1819 im Saarland geborene lothringische Industriellensohn Théodore Gouvy. Der wurde in Paris in den 1840er-Jahren nicht nur solide in allen kompositorischen Disziplinen unterwiesen, reüssierte mit Kammermusik und Orchesterstücken, sondern fand auch Zugang zu den tonangebenden Musikerkreisen (der alte Rossini drängte ihn, sich mit den Fragen der Stimmbehandlung in dramatischen Werken zu befassen und es mit Opernkompositionen zu versuchen). Die finanzielle Unabhängigkeit erlaubte ihm, den Standort häufig zu wechseln und enthob ihn des Problems, seine Arbeiten dergestalt "durchkämpfen" zu müssen wie mittellos in die Karriere startende Komponisten – also wie zu seinen Tagen Giuseppe Verdi und Richard Wagner, Georges Bizet oder Jacques Offenbach. Auch sah er sich nicht veranlasst, sie mit unverwechselbaren Kennzeichen – Markenzeichen – auszustatten, sondern hielt sie wohl sehr bewusst – unter Verzicht auf "Exzentrisches" – in konservativen Bahnen, von denen er sich die größte Konsensfähigkeit versprach. Aber das Publikum in den sich rasch modernisierenden Metropolen war weithin bereits auf neue Reize erpicht. Gouvy panzerte sich dagegen mit gediegenem Akademismus.

    So mag es gekommen sein, dass Théodore Gouvy sich weder in der französischen Hauptstadt veranlasst sah und genötigt war, definitiv Fuß zu Fassen, noch in Leipzig, seinem bevorzugten deutschen Aufenthaltsort, so recht heimisch wurde. Er war und blieb auch stilistisch ein Grenzgänger. Das ist nun nicht zu überhören, wenn das Saarländische Staatsorchester unter Arthur Fagen die technisch durchweg versiert geschriebene und sorgfältig instrumentierte Musik zum "Cid" reaktiviert. Es handelt sich um einen Tonsatz, der noch ganz im musikalischen Geist der Vormärz-Jahre und dem in ihm gepflegten deutschen Klavierlied verhaftet ist. Anzutreffen ist also eine Stimmbehandlung wie bei Louis Spohr, Ferdinand Hiller und Albert Lortzing, nicht wie bei Verdi oder Gounod als präsenten Protagonisten. Hier Hans-Georg Priese in der Titelpartie und im Duett mit Christa Ratzenböck als Geliebter Ximene:

    Auch stoffgeschichtlich erscheint "Der Cid" ein wenig als Nachzügler – als Nachhut jener romantischen Ritteropern, in denen sehr intensiv Ehre und Treue verhandelt wird und das Vaterland im kräftigen Chorton aufblüht und der Krieg gegen die bösen Nachbarn selbstverständlich ist (in diesem Fall sind es die südlichen, von denen der Text einmal bedauert, dass sie "noch nicht ganz vernichtet" seien). Jetzske Mjinssen inszenierte die kriegerische Handlung in Einfachst-Ausstattung mit vielen Särgen, wie sie bei den gegenwärtigen internationalen Kampfhandlungen anfallen. Angesichts des historischen Kontrasts zu dem, was das Libretto meint, wäre womöglich eine konzertante Aufführung mit elaborierten Video-Einblendungen eine produktivere Lösung gewesen.

    Gouvys Hauptwerk sollte Mitte der 1860er-Jahre an der Dresdner Hofoper herauskommen – mit Ludwig Schnorr von Carolsfeld in der Titelpartie; doch das Projekt verzögerte sich. Als dann der berühmte Tenor überraschend starb, habe (so heißt es) der Komponist den "Cid" zurückgezogen. Für das Zögern der Dresdner Direktion mag es einen unausgesprochenen Grund gegeben haben: just 1865 wurde das Lyrische Drama "Der Cid" von Peter Cornelius in Weimar uraufgeführt – und Théodore Gouvy kam einfach zu spät. Als von jenem Jahr 1865 an, in dem Meyerbeers "L'Africaine" das Tor zum Exotismus aufstieß, Richard Wagners Musikdramen die Bühnen zu erobern begannen, war die Zeit des grundsoliden Gouvy vorbei. Und sie lässt sich auch heute nicht wiederbringen.