Donnerstag, 25. April 2024

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SPD-Politiker Walter Riester
Die Rente, die seinen Namen trägt

Fliesenleger, Gewerkschafter und Schöpfer der "Riester-Rente": Walter Riester brachte als SPD-Minister für Arbeit und Soziales unter Kanzler Schröder die "Riester-Rente" auf den Weg. Zum Niedergang der SPD sagte er im Dlf: "Man muss, wenn man Ziele umsetzen will, die Veränderung der Welt und der eigenen Nation und des Denkens der Menschen mitberücksichtigen."

Walter Riester im Gespräch mit Ulrike Winkelmann | 25.10.2018
    Bundesarbeitsminister Walter Riester (SPD) spricht am 12.4.2002 beim Bundeskongress der Arbeitsgemeinschaft für Arbeitnehmerfragen (AfA) in der Saarbrücker Saarlandhalle.
    Walter Riester, SPD, war von 1998 bis 2002 Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung (dpa)
    Geboren wurde er 1943 in Kaufbeuren im Allgäu. Seine Mutter war alleinerziehende Arbeiterin. Mit 13 Jahren begann Walter Riester eine Lehre als Fliesenleger, wurde auch Mosaizist, also Experte für Mosaiken. Nach einem Studienjahr stieg Walter Riester 1970 in die Jugendarbeit beim Deutschen Gewerkschaftsbund in Baden-Württemberg ein. Sieben Jahre später wechselte er zur IG Metall und machte sich einen Namen als geschickter Tarifverhandler, der den Arbeitgebern in der baden-württembergischen Industrie Respekt abnötigte. Riester war IG-Metall-Vizechef, als Gerhard Schröder ihn 1998 als Minister für Arbeit und Soziales ins erste rot-grüne Kabinett berief.
    Seine Aufgabe: der Umbau des Rentensystems. Die gesetzliche Rente wurde gekürzt und eine staatlich geförderte private Altersvorsorge entwickelt, die im Jahr 2001 als Riester-Rente verabschiedet wurde. Nach dem Verlust des Ministeramts 2002 war er einfacher Abgeordneter, entdeckte die Entwicklungspolitik. Nach seinem Ausscheiden aus dem Bundestag 2009 stieg Walter Riester unter anderem als Berater bei der MaschmeyerRürup AG ein, die Staaten, Banken und Versicherungen bei der Entwicklung von Renten und Finanzprodukten berät.
    Walter Riester: "Es hört sich jetzt doch alles ziemlich schlimm an und objektiv war es auch, aber ich habe es subjektiv nicht so wahrgenommen. Und meine Mutter eigentlich auch nicht. Die war sehr engagiert, aber sie hat sich einfach dann auch durchgesetzt mit mir."
    Kindheit in Armut und kurze, aber wirkungsvolle Bildung
    Ulrike Winkelmann: Herr Riester, Sie sind in einem Alter ins Arbeitsleben eingestiegen, in dem die Kinder heute von Betrieben noch nicht mal als Schülerpraktikanten akzeptiert werden, weil man nicht weiß, was man ihnen zu tun geben soll. Erzählen Sie doch mal von Ihrer Jugend und Ihren Teenagerjahren!
    Riester: Na ja, das ist in der Tat außergewöhnlich, war auch damals außergewöhnlich. Nach acht Jahren Volksschulen, die ich in Kaufbeuren verbracht habe – war eine gute Volksschule –, bin ich mit noch 13 Jahren am 1. August 1957 in die Lehre eingetreten. Damals sprach man auch noch vom Lehrling. Und wir hatten uns zu zweit im Übrigen beworben aus meiner Klasse, und bei dem Lehrmeister haben wir geklingelt, da kam der raus, sagt er, ja, was wollt ihr denn, dann haben wir gesagt, wir haben gehört, da gibt es eine Fliesenlegerlehrstelle, und die hätten wir gerne. Da hat er jedem an den Bizeps gelangt und zu mir dann gesagt, na, mit dir versuchen wir es mal!
    Winkelmann: Und Ihr Freund?
    Riester: Der hat nichts bekommen. Aber der wurde dann Sattler, das habe ich natürlich schon erfahren. Aber ich habe dann auch erfahren, warum der mir an den Bizeps gelangt hat. Ich habe dann erst gemerkt, dass ein Jahr der drei Jahre Lehre einfach Hilfsarbeiter war mit zwei Akkordarbeitern, denen man Mörtel gebracht hat, Zementsäcke geschleppt hat und verfugt hat im besten Fall. Ich habe mich nach drei Monaten gewehrt gegen diese Art von Ausbildung und habe meine erste wichtige Erfahrung damals gemacht: Ich habe mit Unterstützung meiner Mutter dann durchgesetzt nach drei Monaten, dass ich wirklich mit der Lehre begonnen habe, und der zweifelhafte Erfolg war, dass der, der ein Jahr länger da war als ich, dann weitermachen musste, als Hilfsarbeiter. Und dann haben wir gedacht, so geht es nicht. Das war eine erste Erfahrung im Übrigen, warum ich dann Gewerkschaft für wichtig gehalten habe.
    Winkelmann: Ihre Mutter hat Ihnen geholfen, haben Sie gerade gesagt. Wer war Ihre Mutter? War sie so selbstbewusst, dass sie dort eingreifen konnte?
    Riester: Die war sehr selbstbewusst. Von meiner Mutter habe ich so viel gelernt und mitgenommen wie von keinem anderen Menschen sonst. Meine Mutter hat sich früh scheiden lassen, hat auch allen Grund gehabt, auf den will ich tiefer es nicht eingehen. Aber sie hat damals als Alleinerziehende gearbeitet, sie hat keine Sozialhilfe bekommen, weil sie darauf verzichtet hat bei der Scheidung, und sie hat dann gearbeitet an einer Stanzmaschine, ganztägig. Und wir haben gelebt in einem Zimmer mit 16 Quadratmeter zu zweit, also auch unter damaligen Verhältnissen sehr, sehr armen Verhältnissen. Und nach der Schule bin ich ins Waisenhaus zum Essen gegangen, aber nicht lang, dann bin ich wieder stiften gegangen. Also es war eine wild bewegte Zeit, die ich rückblickend als sehr arm bezeichnen würde, aber mit einer sehr engagierten, starken Mutter, die dann wieder geheiratet hat, dann habe ich auch einen tollen, wirklichen Vater gehabt. Das waren so meine Kindheitserfahrungen.
    Winkelmann: Haben Sie das als ungerecht empfunden, wie Sie leben mussten, wie im Vergleich dazu andere leben konnten?
    Riester: Damals überhaupt nicht, überhaupt nicht. Das hört sich jetzt alles doch ziemlich schlimm an und objektiv war es auch, aber ich habe es subjektiv nicht so wahrgenommen. Und meine Mutter eigentlich auch nicht. Die war sehr engagiert, aber sie hat sich einfach dann auch durchgesetzt mit mir. Und ich habe viel gelernt, ohne es damals schon ganz bewusst zu reflektieren. Ich würde sogar sagen, obwohl sich das jetzt eigenartig anhört nach dem, was ich erzählt habe: Ich habe eigentlich eine glückliche Jugend gehabt, trotz der schwierigen Situation.
    Winkelmann: Die späten 50er-Jahre sind ja eine Zeit, die als sehr muffig gelten. Wann sind Sie denn zum ersten Mal aus Kaufbeuren und aus dem Allgäu überhaupt herausgekommen?
    Riester: Ach, das erste Mal bin ich rausgekommen Mitte der 60er-Jahre. Da habe ich dann schon als Geselle gearbeitet und hatte nach meiner Ausbildung noch eine zusätzliche kunsthandwerkliche Ausbildung als Mosaizist gemacht, war in der Werkkunstschule, habe dann im Akkord als Fliesenleger gearbeitet. Und dann kam ich zur Bundeswehr, meinen Wehrdienst habe ich in München gemacht 18 Monate, dann kam ich nach München, das war sozusagen die große Stadt in Bayern damals. Und kam dann auch in andere Orte in Bayern, aber über Bayern hinaus bin ich auch in den 60er-Jahren kaum gekommen. Das ging alles erst bei mir so Ende der 60er-Jahre wirklich los.
    Winkelmann: Sie gerieten dann ja in die 68er-Bewegung, aber eben als Gewerkschaftsjugendlicher, nicht wahr? Sie waren früh organisiert?
    Riester: Ja, ich war gut organisiert und war auch damals sehr engagiert in der Gewerkschaft. Aber es war nicht das, was die 68er-Bewegung widergespiegelt hat. Und ich kam in die 68er-Bewegung rein mit einer irre tollen Chance, die ich hatte, und zwar hatte ich, nachdem ich die Meisterprüfung gemacht habe in meinem Beruf, unmittelbar darauf eine Aufnahmeprüfung gemacht bei der Akademie der Arbeit. Das war ein Angebot für Ausgebildete, die aber nicht ein Abitur hatten. Die bekamen eine Chance, wenn sie die Aufnahmeprüfung bestanden haben, elf Monate ein Studium generale zu machen. Das heißt, alle gesellschaftswissenschaftlichen Disziplinen, Wirtschaft, Betriebswirtschaft, Volkswirtschaft, Soziologie, Philosophie, Geschichte, sind dort von ganz tollen Dozenten gelehrt worden. Und Sie haben sozusagen einen Zugang zu einem Theoriebild gehabt, das in sich sehr stimmig war, also stimmig in Form von zusammenführen. Ich habe also gelernt dort, auch vernetzt zu denken. Das war eine irre Chance für mich. Und von dem Zeitpunkt habe ich eigentlich nur didaktisch an mir gearbeitet, in der Praxis meines späteren Lebens.
    Winkelmann: Aber elf Monate sind nicht lang. Also, selbst wenn es sehr gute Dozenten waren, Sie können unmöglich so viel gelernt haben, wie Sie vielleicht auch gerne hätten lernen wollen.
    Riester: Ich habe vor Kurzem eine Einladung gehabt hier in Potsdam an der Universität, über mein Leben und vor allem Eintritt dann in die Regierung zu sprechen, und kam dann auch auf das … Da hat einer einen Zwischenruf gemacht und gesagt: Boah, elf Monate, was kannst du mit elf Monaten machen. Und ich habe dann sehr pfiffig gesagt, bei mir hat es zum Minister gereicht. Und das ist jetzt nicht der Kern der Aussage, aber ich hatte Ihnen vorher gesagt, auf dieser Basis des Lernens habe ich mein gesamtes Leben bis zum heutigen Tag, bis zum Gespräch, das ich mit Ihnen führe, autodidaktisch gelernt an Herausforderungen, in denen ich stand. Und das ist ein permanenter Lernprozess, der mir sehr, sehr gutgetan hat.
    Riester: Da ging der hoch, Pöppel hieß er, der damalige Personalchef, und hat gesagt: Das ist doch eine Riesensauerei! Der Betriebsrat hat was zu verantworten, das Management hat was zu verantworten, und dann kommt der Riester und kann dann hier auf die Kacke hauen! Wen vertritt denn der?
    Ein- und Aufstieg in der Gewerkschaft. Was links ist und was nur links klingt
    Winkelmann: Haben Sie Studierende je beneidet um die Möglichkeit, so viel mehr zu lernen, so viel mehr Zeit an den Universitäten zu verbringen, auch zur Selbstentfaltung natürlich?
    Riester: Ja. Genau in der Zeit, von der wir gerade sprechen, wo ich damals eingestiegen bin in die Akademie der Arbeit, das war im Jahr 1969 und diese Universität Frankfurt hat gebrodelt. Sie sprachen von der 68er-Bewegung und die ist ja damals schon ausgelaufen und hat später dann in dem weiteren Auslauf – und ich sage jetzt: bis RAF –, hat die sehr radikale Züge bekommen. Und ich war der Pressesprecher an der Akademie der Arbeit. Pressesprecher ist falsch, Entschuldigung, der Klassensprecher war ich. Und ich war also voll involviert in eine Bewegung, die in Kaufbeuren nicht zu spüren war, in meinem Heimatort. Und das war und ist immer noch ein sehr konservativ strukturierter Bereich Deutschlands, in dem die Kirche sehr stabil war. Und all das, was an Signalen über die 68er-Bewegung kam, war dort nicht, aber es hat mich aufgewühlt, es hat für mich auch ein Stück neue Lebensperspektive des Betrachtens aufgezeigt. Das war eine spannende Phase, die auch bei mir dann radikalere politische Positionen entwickelt hat, die ich nicht in allem so heute sehe, aber die für mich ganz wichtig waren. Und manchmal gehe ich so in dem Lernprozess auch zurück und sage, Mensch, wie hast du denn das damals gesehen und warum. Und verstehe manchen auch heute.
    Winkelmann: Wen verstehen Sie heute aufgrund der Lernprozesse damals, auf wen beziehen Sie sich?
    Riester: Ich verstehe insbesondere, die mit sehr radikalen – ich sage jetzt mal das Bild – linken Anforderungen kommen. Auch wenn ich sie nicht teile, ist es mir sehr verständlich. Im eigenen Blick, wie war die Situation damals, was hat dich veranlasst. Ähnlich zu sehn, das zu verstehen, das ist mir wichtig.
    Hand in Hand: Zum Abschluß des 4. außerordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall am 11.10.1997 in Mannheim singen (l-r) die Vorsitzenden von IG Holz und Kunststoff (GHK), Gisbert Schlemmer, IG Metall, Klaus Zwickel, der 2. Metall-Vorsitzende Walter Riester und IG Textil und Bekleidung (GTB), Willi Arens, gemeinsam. 
    Der 2. Metall-Vorsitzende Walter Riester singt gemeinsam mit Kollegen zum Abschluss des 4. außerordentlichen Gewerkschaftstages der IG Metall am 11.10.1997 (picture-alliance / dpa)
    Winkelmann: Eine weitverbreitete Denkrichtung aktuell kann ja nicht über den Rechtsextremismus sprechen, ohne gleich auf den Linksextremismus zu verweisen. Teilen Sie diese Sichtweise, dass man sozusagen immer beide Extremismen sofort gleichzeitig sehen und nennen muss?
    Riester: Ja und nein. Ich beginne mal mit dem Nein. Nein deswegen, weil diese Zeit, die leider kaum aufgearbeitet worden ist, des Faschismus, die ich bewusst natürlich nicht erlebt habe, aber in einem dann politischen Elternhaus – meine Mutter, über die wir schon gesprochen haben, und dann den Mann, den sie geheiratet hat – sehr nahegebracht worden ist, was ich geistig fast nicht fassen konnte, zu was Menschen fähig sind. Und zwar nicht nur Einzelne, sondern ganze große Gruppen der Bevölkerung im Faschismus ja, die entweder weggeschaut oder sich selbst beteiligt hat an fürchterlichen Prozessen, die mir kaum vorstellbar waren. Das war etwas anderes als das, was ich sozusagen als linksradikale Position erlebt habe, denn ich habe sie nicht gemessen an dem … Jetzt könnten wir das Spiegelbild machen und sagen, guck mal, was im Stalinismus und was auch unter Mao in der Kulturrevolution passiert ist, sind auch ganz schlimme Dinge passiert. Aber meine Prägung war sozusagen das verstehen lernen und ein Stück das aufarbeiten und sich selbst einzuordnen in dieser deutschen Gesellschaft, die eine so starke Bürde auf sich hatte und sie in den 50er-Jahren völlig verdrängt hat. Das ist das eine. Das Ja, das ich habe mitschwingen lassen, ist, dass ein ganzes Stück Verhaltensweisen in Positionen, die sich links nennen, aus meiner Sicht allerdings nicht links sind. Links hatte ich früher immer verstanden als eine positive Gestaltung der Zukunft. Und heute erlebe ich häufig eine linke Position als einen Strukturkonservatismus des Verteidigens einer Welt, die sich aber stark verändert hat, so nicht mehr da ist.
    Winkelmann: Gibt es diese Art strukturkonservativer Linker überhaupt noch?
    Riester: Ja, die gibt es ganz massig.
    Winkelmann: Wo gibt es die?
    Riester: In allen Positionen. Ich sage Ihnen mal die, die mir am nächsten ist: in meiner Gewerkschaft. Ich war ja nicht nur … Bekannt wurde ich in den Gewerkschaften vor allem als Tarifpolitiker, aber ich war nicht nur Tarifpolitiker. Als ich dann zweiter Vorsitzender der IG Metall war, war ich auch der, der zuständig war, die Organisation der IG Metall weiterzubringen. Und ich habe immer gesagt: Leute, die wirklichen Persönlichkeiten, die unsere Gewerkschaft zurzeit prägen, sind, wenn sie im ehrenamtlichen Bereich sind, die Betriebsratsvorsitzenden der großen Industrieunternehmen. Aber die Metall- und Elektroindustrie ist ja viel, viel breiter. Und der Bereich, der von den Großbetrieben nicht erfasst ist, der neue Tätigkeiten reinbringt, der wächst immer schneller, im Dienstleistungsbereich, im Angestelltenbereich. Und wenn wir nicht dieses aufnehmen und für diese Menschen auch neue Perspektiven aufzeigen, dann wird es uns nicht gelingen, unseren gewerkschaftlichen Auftrag auch zu realisieren. Und da habe ich meistens an die Wand geredet, weil natürlich, die Hauptfunktionäre waren die der großen Betriebe, die auch sich dort entwickelt haben, auf die man geschaut hat und so. Und so hat sich meine Gewerkschaft nicht in dem notwendigen Umfang, in dem es notwendig gewesen wäre, den Veränderungsprozess aufzunehmen, im Sinne einer aktiven Interessenvertretung aller Beschäftigten, entwickelt. Das ist beispielsweise etwas, was ich häufig mit Strukturkonservatismus auch bezeichnet habe.
    Winkelmann: Sie sind dann ja später zur IG Metall erst gekommen. Sie sind eingestiegen bei der IG Bau-Steine-Erden. Berichten Sie von den ersten Jahren bei der IG Metall! Sie haben jetzt beschrieben, warum die IG Metall zu großen Teilen strukturkonservativ ist, aber woran haben Sie das festgestellt, welche Erfahrungen haben Sie als junger Gewerkschafter gemacht?
    Riester: Als ich bei der IG Metall angefangen habe, zuerst war ich ja Jugendsekretär beim DGB. Als ich bei der IG Metall angefangen habe, habe ich eine ganz tolle Chance bekommen. In der kleinsten Verwaltungsstelle, Einheit Baden-Württembergs in Geislingen an der Steige, habe ich als Sekretär begonnen, aber genau dort hatte ich die Möglichkeit, wirklich die überwiegende Zeit in den Betrieben zu sein und in den Betrieben Gespräche zu führen mit den dort Beschäftigten und ihre Sicht, auch ihre teilweise Perspektivlosigkeit aufzunehmen. Zu wissen, dass man jetzt in den nächsten 20, 30 Jahren noch in der Fließfertigung hängt und von diesem Arbeitsplatz nicht wegkommt, und das alles zu spüren, mitzubekommen, war ein Lernprozess, den viele auch Hauptamtliche so nicht mitmachen. Und ich habe dann Dinge entwickelt dort, die dann den damaligen Bezirksleiter Franz Steinkühler – vielleicht ist der noch ein Begriff – sehr aufmerksam gemacht haben, und der hat mir dann angeboten: Komm zu mir und mach in der Bezirksleitung Tarifpolitik. Und das war natürlich ein Bombenangebot, denn Tarifpolitik war eigentlich der Königspfad der Entwicklung, weil dort die ursprünglichste Aufgabenstellung der Gewerkschaft ist und ursprünglich auch vom Gesetzgeber gegeben, als Tarifvertragspartei. Und ich war in dem Bezirk, den wir alle für den tollsten ansahen. Da waren – ist ein bisschen kontra jetzt zu dem, was ich vorhin gesagt habe – die stärksten Betriebe natürlich da, Daimler, Bosch, es war die Branche des Maschinenbaus da, die Investitionsgüterindustrie. Und dieser Bezirk hat mit Bezirksleitern wie Willi Bleicher – heute weniger bekannt, aber der ist wirklich eine Ikone in der Erinnerung vieler Gewerkschafter, er hat gekämpft in Buchenwald, war dann Bezirksleiter der IG Metall, und dann Franz Steinkühler, der damals sehr, sehr modern galt –, also es war eine Führung da, die nicht nur innovativ Neues entwickelt hat in der Tarifpolitik, sondern auch die Kraft hatte, das durchzusetzen. Und deswegen sind viele Entscheidungen in der Tarifpolitik der IG Metall ausgegangen von diesem Bezirk. Und in diesem Bezirk, für das zuständig zu sein und später Bezirksleiter, das war eigentlich die einzige Etappe meiner beruflichen Entwicklung, für die ich sehr gekämpft habe und die ich auch machen wollte unbedingt.
    Winkelmann: Jetzt sagten Sie, weil Sie sich so einfühlen konnten in die Lage der Arbeiter in den Betrieben, waren Sie auch ein guter tarifpolitischer Kämpfer. Warum eigentlich? Ich muss ja vor allem mein Gegenüber, sprich den Arbeitgeber kennen, wenn ich gegen ihn Tarifforderungen durchsetzen möchte. Was hat das mit Ihrer Erfahrung in den Betrieben zu tun?
    Riester: Ich gehe jetzt einen Teil auf Ihre Frage ein, aber Sie verstehen es dann glaube ich besser. Ich war immer wieder eingeladen in einer großen Gießerei mit 1.200 Beschäftigten in der Nacht. Und die Betriebsversammlung dort war von der Arbeitgeberseite von einem Vorstand der Heidelberger Druckmaschine, der außerordentlich rhetorisch stark war. Und der kam dann in die Betriebsversammlung rein und hat gesagt: Uns geht es wirtschaftlich sehr gut bei der Heidelberger Druckmaschine – das war damals das kapitalintensivste Unternehmen Deutschlands –, uns geht es sehr gut und wir geben jetzt jedem zehn Pfennig mehr auf den Stundenlohn. – Boah, riesiger Beifall! Und er hat es dann geändert und gesagt, uns geht es gut. Und jetzt kam ich als Gewerkschafter und habe dann – und jetzt komme ich auf Ihre Frage – gesagt: Lasst uns doch mal untersuchen, was ist das, uns geht es gut? Und da hinten saß einer, der mir gerade zwei Tage zuvor geschildert hat, an seinem Arbeitsplatz, wie die Dämpfe hochgehen und ihm immer wieder schwindelig wird. Und dann hat mir einer, ein Former … Und dann saß vor mir eine, die Pia, die in der Kantine war, und gesagt: Wenn du in deinen Geldbeutel schaust, geht es dir auch gut. Und so habe ich dann diese Situationen aufgezählt, die ich erlebt habe in diesem Unternehmen unter dem Begriff "Uns geht’s gut". Da ging der hoch, Pöppel hieß er, der damalige Personalchef, und hat gesagt: Das ist doch eine Riesensauerei! Der Betriebsrat hat was zu verantworten, das Management hat was zu verantworten, und dann kommt der Riester und kann dann hier auf die Kacke hauen! Wen vertritt denn der? Und ich ging dann wieder hoch und habe gesagt: Ja, okay, Sie vertreten – und ich war schon im Aufsichtsrat der Heidelberger Druckmaschinen – die Anteilseigner und das ist absolut legitim. Ich will Ihnen sagen, hier sind 97 Prozent der Menschen, die hier sitzen, in der IG Metall vertreten, und denen habe ich Sprachrohr zu geben und die habe ich zu vertreten. – Und dann war er weg. Also dieses Empfinden, Menschen zu erleben in ihrem beruflichen Alltag mit den vielen kleinen nicht nur Widrigkeiten, sondern teilweise auch Verzweiflungen, die da sind, und das aufnehmen zu können, um dem Sprache zu geben, das macht Stärke in der Gewerkschaft aus.
    Winkelmann: Jetzt sagten Sie vorhin, Strukturkonservatismus ist, wenn Leute in ihren Gewerkschaften mehr oder weniger auch verknöchern und nur noch immer die gleichen Ziele mit den gleichen Worten vortragen und nicht merken, wie sich die Welt draußen herum verändert. Genau das hat man dann ja aber auch später unter anderem der IG Metall vorgeworfen, dass nämlich dort immer weiter vor allem Männer für ein bestimmtes männliches Arbeits- und Lebensmodell Tarifsteigerungen und Arbeitszeitverkürzungen heraushandelten und komplett den Blick verloren haben dafür, wie sich die Arbeitswelt ringsherum, außerhalb des gewerkschaftlich geschützten Gärtchens verändert hat.
    Riester: Das ist völlig richtig. Und ich habe beispielsweise etwas … Wenn ich das jetzt schildere, wird es wahrscheinlich immer noch schwer zu verstehen sein. Ich habe dann in der Tarifpolitik auch die Frage der Bewertung von Arbeit in den Tarifvertrag aufgenommen und habe beispielsweise mal lang dafür gekämpft und das in Baden-Württemberg auch durchgesetzt, dass Monotonie am Arbeitsplatz als Belastungsfaktor aufgenommen wird, der mit höherem Entgelt vergolten wird. Ich habe also ein neues Feld reingebracht und das war vor allem etwas, was natürlich an den Frauenarbeitsplätzen ganz verbreitet war: kleine, feinmotorische Aufgaben, aber laufend zu machen. Ich habe mal erlebt bei Kodak in der Fließfertigung, wo die Fotos montiert worden sind, im MTM abgetaktet, also in Bruchteilen von Sekunden abgetaktet die einzelnen Griffe. Wie ich da mal drin war, wie eine Frau dann durchgedreht ist und so eine Kamera an die Wand geschmissen hat! Und vorher hat die Betriebsleitung zu mir gesagt, Walter, komm doch mal mit, ich zeig dir mal unsere Arbeitsplätze! Da war leise Musik und die Arbeitsplätze waren aufgeordnet und schöne Farben, schöne Töne, eigentlich heile Welt. Und man musste sehr genau hinschauen, beispielsweise dass die Frauen hinter sich an der Wand Postkarten aus der ganzen Welt aufgepappt hatten, Bilder, in die sie teilweise reinflüchteten, weil die Monotonie ihrer eigenen Arbeit so schwer zu ertragen war.
    Riester: Und das Wort des Jahres 1997, fällt Ihnen das ein?
    Winkelmann: Nein.
    Riester: Mir! Reformstau!
    Die Riester-Rente und der Kampf im rot-grünen Kabinett
    Winkelmann: Sie waren dann ja im Kabinett 1998 von Gerhard Schröder der Mann der Gewerkschaften. Und Schröders Kalkül war erkennbar, dass er einen Gewerkschaftsmann brauchte, um Reformen durchzusetzen, die speziell bei Gewerkschaften unpopulär sein würden. Sie haben dann für Gerhard Schröder sozusagen die Teilprivatisierung der Rente übernommen. Glauben Sie, das Kalkül – er nimmt jemanden aus den Gewerkschaften, um die Politik zu machen, die speziell die Gewerkschaften eigentlich bekämpfen müssen – hat gefruchtet?
    Riester: Nein. Das war auch nicht sein Kalkül. Ich weiß, dass er unter dem Vorwurf steht. Ich will Ihnen mal sagen, ich habe mit dem Gerhard Schröder noch kein Wort gesprochen gehabt, als im Frühjahr 98 zu Beginn des 98er-Wahlkampfes meine Mitarbeiter sagte: Du, am Telefon hängt der Gerhard Schröder, der möchte dich sprechen. Und ich habe ihn angenommen und er hat mir dann gesagt: Du bist jetzt der Erste, mit dem ich spreche. Für den wünschenswerten Fall, dass wir gewählt werden, hätte ich dich gern als Arbeits- und Sozialminister, kannst du dir das vorstellen? Ich habe abrupt gesagt: Nein.
    Bundeskanzler Gerhard Schröder (li.) im Gespräch mit Walter Riester anlässlich des außerordentlichen SPD-Bundesparteitages
    Bundeskanzler Gerhard Schröder (li) im Gespräch mit Walter Riester während eines außerordentlichen SPD-Bundesparteitages (imago)
    Winkelmann: Warum?
    Riester: Das habe ich ihm auch gesagt: Weil ich gar nicht weiß, ob wir zwei die gleiche Sicht dessen haben, was geändert werden muss. Dann hat er gesagt, das können wir ändern, und hat mich eingeladen nach Bonn in die Landesvertretung von Niedersachsen, und da begann ein sehr fruchtbares Gespräch. Und ich habe ihm dann formuliert, ich habe ihm gesagt … Ich nehme mal ein Projekt raus, für das ich heute auch stehe, wenn Sie von der Privatisierung von Rente sprechen. Ich habe gesagt: Ich habe nie begriffen, warum man den Menschen sagt, dass allein die Einzahlung in die Rentenversicherung, so wie wir sie kennen, ausreicht, den Lebensstandard im Alter zu halten. Ich habe ihm gesagt: Schau, als diese Rente entwickelt worden ist 1957, dieses Umlageverfahren, was richtig und notwendig war, dass ich nicht falsch verstanden werde, damals war die Dauer des Rentenbezugs 9,9 Jahre, das hat man schon statistisch gewusst, genau. Und als ich mit ihm sprach im Jahr 1998, waren es aber schon 16 Jahre. Und heute, wo wir beide uns unterhalten, sind es 20 Jahre. Also die Zeit ist glücklicherweise doppelt so lang geworden, die man lebt, allerdings ohne Erwerbseinkommen. Und deswegen müsste die Rücklagenbildung viel, viel stärker sein. Hat er gesagt: Du, so deutlich hat mir noch nie einer klargemacht, wie Demografie wirkt. Und dann habe ich gesagt: Ich will dir eine zweite Sache sagen, ich habe in den 50er-Jahren als kleiner Bube erlebt, als meine beiden Großeltern in Rente gingen, und die haben – das kannst du selber ausrechnen, habe ich dem Schröder gesagt – zwei Weltkriege erlebt, zwei Inflationen erlebt, Vorkriegszeit, Nachkriegszeit, ein Leben der Entbehrungen. Und die Einstellungen von ihnen, stellvertretend für die damalige Generation der 50er-Jahre der Rentner, war: Wenn du in Rente gehst, musst du deine Ansprüche zurücknehmen. Und man hat darauf gebaut, dass die Kinder einen unterstützen. Heute haben wir eine ganz veränderte Situation. Die Einstellung zum Lebensstandard, wer heute in Rente geht, sagt: Mensch, jetzt könnte ich vielleicht die Reisen machen, die ich immer machen wollte, und jetzt habe ich Enkel, denen ich was schenken möchte. Und man weiß, man wird relativ alt. Aber um Gottes Willen, ich möchte nicht abhängig sein von den Kindern! Das heißt, die Dauer des Lebens ohne Erwerbseinkommen hat sich verdoppelt und der Anspruch an einen Lebensstandard hat sich glücklicherweise auch völlig verändert. Und mit diesen Veränderungen, die ja beide außerordentlich positiv sind, hat die Rücklagenbildung für die Zeit ohne Erwerbseinkommen nicht mitgehalten. Wir hatten aber damals im Winter 97 auf 98 knapp unter fünf Millionen Arbeitslose. Und das Wort des Jahres 1997, fällt Ihnen das ein?
    Winkelmann: Nein.
    Riester: Mir! Reformstau. Man vergisst sehr schnell. Und dann hatten wir einen Rentenversicherungsbeitrag von 20,3 Prozent und alle außer der PDS haben damals gesagt, auf keinen Fall dürfen die Lohnnebenkosten weiter ansteigen. Das war nicht so sehr meine Position, aber es war die Position aller Parteien, der Arbeitgeber und der Gewerkschaften. Also das war die Situation.
    Serie: Riester-Rente Mit Kindern ertragreich, nur nichts für Bequeme
    Winkelmann: Aber noch mal eben zurück zur Lebenserwartung: Wir leben ja nicht alle 20 Jahre länger als früher, sondern diejenigen, die schlecht verdienen, leben auch nur wenige Jahre, nachdem sie in die Rente eingetragen sind, und die Besserverdiener und die Beamten und all die gut bestellten Akademiker, das sind diejenigen mit den sehr langen Lebenserwartungen. Hätte man das doch bei einer Rentenreform miteinbeziehen müssen, dass die Wahrheit ist, dass nicht wir alle gemeinsam länger leben, sondern dass die Schlechtverdiener weniger lange leben als die Gutverdiener, und dass, wenn man eine Rente reformiert, man darauf eigentlich Rücksicht nehmen müsste?
    Riester: Ich könnte Ihnen noch eine ganze Menge aufzeigen, was man hätte machen müssen. Aber ich wusste, dann im Umsetzen, was man machen kann, für was man eine parlamentarische Mehrheit bekommt. Typisches Beispiel: Diese ergänzende Sparförderung – nennen Sie das mal so, nicht Riester-Rente, aber ergänzende Sparförderung, die wir den Menschen geben wollten im Wissen darum, dass der Rentenversicherungsbeitrag nicht noch weiter angehoben werden kann –, die wollte ich für jeden, für jeden, der hier in Deutschland lebt und arbeitet. Und zwar nicht nur für den Rentenversicherten, und ich wollte sie auch obligatorisch – ein schöneres Wort für verpflichtend –, in dem Wissen darum, dass alle betroffen sind.
    Winkelmann: Aber woran ist denn das Obligatorium, von dem Sie ja damals angekündigt hatten, dass Sie es gerne wollten, gescheitert?
    Riester: Ich habe das zuerst im kleinen Kreis im Kabinett vorgetragen, dem Kanzler, dem Finanzminister, der Ulla Schmidt, die fanden das alle klasse. Weil ihnen eingeleuchtet hat, dass Rente etwas ist, was sozusagen auf der freiwilligen Basis nur ganz eingeschränkt läuft. Und dann kam ein Anruf von einem Journalisten der größten Privatzeitung Deutschlands, der gesagt hat: Wir werden morgen aufmachen mit der Überschrift "Zwangsrente Riester", das ist ja eine Katastrophe, was da geplant ist von dem Riester. Und die schon in Aussicht genommene Schlagzeile für übermorgen, "Wann fliegt Riester?", können wir zurückstellen, wenn ich ein Exklusivinterview bekomme. Das habe ich dann noch gemacht. Dann kam die Schlagzeile, "Zwangsrente Riester", darunter unter Fragezeichen: "Was hat das deutsche Volk dieser Regierung angetan?" Und am nächsten Tag schon kamen dann Leserbriefe en masse unter dem Titel: "Wutwelle rollt auf Bonn". Also wie die am nächsten Tag schon die ganzen Leserbriefe gehabt haben, war mir schleierhaft. Das war eine Kampagne, nach der diese Frage nicht mehr diskutiert werden konnte. Heute werfen mir viele vor, ja Riester, warum hast du das nicht so gemacht wie in Schweden. Zum Teil aus den gleichen Gruppen, die damals dagegen gekämpft haben.
    Scrabble-Buchstaben bilden das Wort Riesterrente auf Euro-Geldscheinen
    2001 wurde die Riester-Rente verabschiedet (imago stock&people)
    Winkelmann: Wer hat denn aus dem Kabinett das der "Bild"-Zeitung durchgestochen damals, dass die überhaupt imstande waren, so eine Kampagne vorzubereiten?
    Riester: Ich weiß das nicht, aber es war einer dabei, dem ich das ohne Weiteres zugetraut hätte, dem damaligen Kanzleramtsminister Bodo Hombach. Er hat sehr guten Kontakt gehabt zur Boulevardzeitung.
    Winkelmann: Und Bodo Hombach wollte das verhindern, weil?
    Riester: Das weiß ich nicht, ob er es wollte. Ich will jetzt gar nicht da weiter spekulieren. Ich habe das das erste Mal im Übrigen in den Medien so gesagt. Weil mir das jetzt schon langsam … Ich meine, ich kenne die ganze Zeit die Entwicklungen und werde heute konfrontiert mit Argumenten, wo man sagt, ja liebe Leute, habt ihr das damals nicht richtig mitbekommen, wie das ablief? Das ist ja bekannt!
    Winkelmann: Man kann es ja einer Regierung trotzdem vorwerfen, dass sie auf Druck der "Bild"-Zeitung dann beschließt, eine ohnehin sehr, sehr riskante Rentenreform so abzuschwächen, dass sie der gemeinten Klientel, also den Schlechtestverdienern mutmaßlich nicht ausreichend nützt.
    Riester: Der Regierung dürfen Sie es nicht vorwerfen, weil die Regierung das Gesetz nicht macht. Ich brauchte eine Mehrheit im Deutschen Bundestag und die habe ich nicht bekommen. Ob ich sie bekommen hätte ohne die "Bild"-Zeitung, das weiß ich nicht. Aber eines war mir dann klar: Die Mehrheit für die ergänzende Rente, die notwendig ist, zwingend … Wo wäre die Alternative gewesen? In der weiteren Anhebung des Rentenversicherungsbeitrags nicht, der musste abgesenkt werden. Und den haben wir abgesenkt nicht über eine Verschlechterung von Leistungen – könnte ich Ihnen auch jeden Punkt belegen –, sondern darüber, dass wir den Steuerbeitrag enorm angehoben haben.
    Riester: Es ist nicht so, dass ich sage, alles, was dort gemacht worden ist, war richtig und notwendig. Und nicht alles, was damals gemacht worden ist, trifft meine Billigung.
    Nachwehen der rot-grünen Reformen
    Winkelmann: Gerhard Schröder hat Sie dann 2002 nicht mehr weiter als Minister beschäftigen wollen, er hat stattdessen Wolfgang Clement zum Superminister gemacht, wie es damals hieß. War das eine Kränkung?
    Riester: Es war für mich keine Kränkung. Das war eine Kränkung für meine Frau, aber nicht für mich. Die fand das also ganz schlimm alles. Ich hatte das Gespräch dann am Montag, nachdem übers Wochenende diese Nachricht kam, dass das vorgesehen ist, hat er mich am Montag früh eingeladen. Und es ist ihm ganz schwergefallen, diese ganze Geschichte. Und ich habe ihm gesagt, komm, kürzen wir das ab. Wenn du als Kanzler der Auffassung bist, dass das Arbeitsministerium aufgelöst werden soll und dem Wirtschaftsministerium und Gesundheitsministerium zugeschlagen wird, dann musst du es machen. Du bist der Kanzler und wenn du überzeugt bist, musst du es machen, du hast die Richtlinienkompetenz. Ich sage dir, das ist völlig falsch und du machst einen zum Wirtschaftsminister mit der Lizenz der Veränderung des Arbeitsmarktes, der bei Strafe eigener Bedeutungslosigkeit in der Wirtschaft das so vollziehen wird, wie die das will. Und ich hatte vor etwas mehr als einem Jahr mein letztes Vier-Augen-Gespräch bei einem Essen mit dem Schröder hier in Berlin, und er hat mir auch gesagt, Walter, das war mein größter Fehler.
    Winkelmann: Den Clement das machen zu lassen oder die Trennung der Ministerien …
    Riester: Beides.
    Winkelmann: … oder all dies im Paket mit den Hartz-Reformen, die dann kamen?
    Riester: Nein, mit den Hartz-Reformen haben wir in dem Gespräch jetzt nicht gesprochen. Aber wenn Sie sich erinnern an den Wahlabend 2005, da war die Differenz zwischen der SPD und der CDU/CSU zuerst 0,7 Prozent. Und der bekannte Auftritt von Schröder … Das hat ein halbes Jahr vorher niemand angenommen, dass das zu erreichen war, weil wir in den Umfragen viel, viel tiefer lagen. So knapp waren wir auseinander! Und ich habe ihm dann vor einem Jahr gesagt: Stell dir mal vor, die fehlenden Prozente, die wir dieser Entscheidung, die du damals gemacht hast, zu verdanken haben, wären da draufgekommen, dann hätte die Regierung sich anders weiterentwickelt. Und gerade in einer Aufschwungphase und auch in einer öffentlichen Phase, Fußballweltmeisterschaft, Sommermärchen und, und, und. Die Merkel hat ja alles auf dem goldenen Tablett bekommen! Das werfe ich ihr nicht vor, dass das nicht falsch verstanden wird, aber sie hat in eine Zeit reinregiert, wo auch viele Wirkungen der Schröder’schen Politik, positiv von den Leuten wahrgenommen, dann gegriffen haben.
    Winkelmann: Was glauben Sie denn, was der Grund ist für den Niedergang der SPD seither?
    Riester: Na gut, da gibt es viele Gründe. Einige habe ich bei den Gewerkschaften schon gesagt. Man muss, wenn man Ziele umsetzen will, die Veränderung der Welt und der eigenen Nation und des Denkens der Menschen mitberücksichtigen. Aber ich will mal den Ausgangspunkt nehmen. Ich sage es Ihnen mal genau, wie ich das dem Schröder vor einem guten Jahr gesagt habe. Ich habe gesagt: Weißt du, damals, als ich da eingetreten bin in diese Regierung und als SPD-Mitglied, hat die SPD 16 Jahre Opposition hinter sich gehabt. Und der Oppositionsreflex, der typische, ist Nein zu sagen. Und die gewollte Denkstruktur in der SPD für die Zukunft zu gestalten ist, einen Teil Wirklichkeit auszublenden und die wünschenswerten Dinge zu formulieren. Und dann kamen wir in die Regierung und dann geht beides nicht. Du kannst nicht Nein sagen, sondern du musst ja gestalten. Du musst das übernehmen und du musst die Wirklichkeit mitaufnehmen. Und nach ganz kurzer Zeit schon war ein Widerstand in dieser Partei da, dass viele gesagt haben, ja so haben wir uns das nicht vorgestellt! Ich meine, da muss ich schon sagen, dann habt ihr euch die Regierung nicht vorgestellt!
    Roter Hintergrund, darauf eine absteigende Kurye und darauf puzeln die Buchstaben SPD nach unten.
    Für die SPD geht es abwärts, die Partei steckt in einem Tief. (imago / imagebroker)
    Winkelmann: Na ja, der Vorwurf in der SPD und nicht nur dort war ja der, dass die Reformen, die von Rot-Grün gemacht wurden, unnötig arbeitgeberfreundlich waren.
    Riester: Ich kenne den Vorwurf. Er mag in einigen Punkten richtig sein, aber in vielen Punkten, in der Allgemeinheit ist er es nicht. Schauen Sie, ich habe dann – das darf ich wirklich sagen – die Betriebsverfassung reformiert, wo die Arbeitgeber gesagt haben, auf keinen Fall, wir brauchen eigentlich … Überbordende Mitbestimmungsrechte, die müssen abgebaut werden. Und durchgesetzt worden ist fast eins zu eins das, was die Gewerkschaften gefordert haben, fast eins zu eins. Ich bin damals von den Gewerkschaften sehr gelobt worden, und das Lob ist mir aber teilweise im Bauch … hat sich das gedreht. Weil ich natürlich wusste, dass das, was von den Gewerkschaften gefordert war, die zurückliegende Arbeitswelt teilweise war. Und die auf uns zukommende – heute sehen wir das noch viel stärker, nehmen wir mal das Schlagwort Digitalisierung – hat diese Reform nicht aufgenommen. Jetzt wieder auf Ihren Vorwurf, die Regierung hätte dann Arbeitgeber… Die Arbeitgeber haben, BDA und BDI und viele Arbeitgeber, im Bundestagswahlkampf schon 2002 massiv gegen diese Regierung votiert. Und 2005 noch stärker. Wenn es denn so wäre, wie Sie sagen, dass die Regierung arbeitgebernahe gearbeitet hat, dann wäre ja dieses Verhalten nicht sehr zu verstehen. Es ist nicht so, dass ich sage, alles, was dort gemacht worden ist, war richtig und notwendig. Und nicht alles, was damals gemacht worden ist, trifft meine Billigung, in einigen entscheidenden Punkten sogar nicht.
    Winkelmann: Zum Beispiel?
    Riester: Zum Beispiel, will ich Ihnen sagen: Unmittelbar nach der Bundestagswahl 2002, noch bevor die Hartz-Kommission zu arbeiten begonnen hat, kam – ich glaube, ich war ein oder zwei Tage wieder im Ministerium – mein damaliger Staatssekretär, der Abteilungsleiter Arbeitsmarktpolitik aus einem Abstimmungsprozess mit der Bund-Länder-Kommission und hat gesagt: Jetzt haben wir die Entscheidung gefunden, wie wir die Unterscheidung zwischen Sozialhilfe und der Grundsicherung, später Hartz-IV genannt, finden. Habe ich gesagt: Ja, und wie habt ihr die gefunden? – Ja, diejenigen, die arbeitsfähig sind, mindestens drei Stunden, die stehen dem Arbeitsmarkt grundsätzlich zur Verfügung. – Und da habe ich schon schallend gelacht und gesagt: Spinnt ihr, das halte ich für unmöglich, kommt auf keinen Fall! Überlegt euch mal, welcher Personalchef wird ein Angebot annehmen, jemanden einzustellen, wenn er gerade mal drei, vier Stunden arbeitsfähig ist? Das geht doch an der Wirklichkeit völlig vorbei! – Ja, darauf haben wir uns verständigt. Die Wirkung dieser Entscheidung hätte ich nie mitgetragen, die Entscheidung. Die war, dass die damaligen zwei Millionen Sozialhilfeempfänger auf einmal Hartz-IV-Empfänger waren und man allen suggeriert hat, im Grundsatz seid ihr arbeitsfähig, was natürlich viele überhaupt nicht waren, gemessen an dem Wettbewerbsarbeitsmarkt, in dem wir damals schon standen. Das hätte ich so nicht akzeptiert und das hätte ich anders angegangen.
    Riester: Wie kann man dort Entwicklungszusammenarbeit anders als bisher angehen?
    Entwicklung durch Chancen auf gute Arbeit, weltweit
    Winkelmann: Sie waren dann einfacher Abgeordneter. Wie war denn dieser Seitenwechsel eigentlich? Es gibt ja das Buch eines Genossen von Ihnen, das heißt "Wir Abnicker" und handelt von der Frustration, die sich in den Fraktionen oft breitmacht, wenn die Abgeordneten merken, dass im Grunde über ihre Köpfe auch hinwegregiert wird und sie nur noch – so eben auch der Buchtitel – abnicken dürfen, was das Kabinett vorschlägt.
    Riester: Das war bei mir nicht so. Ich habe als Erstes, was vielleicht auch nicht ganz typisch ist, damals gesagt, ich werde jetzt eine Legislaturperiode – also gedacht waren vier Jahre, es wurden ja dann bloß drei – mich zu den Bereichen, für die ich Verantwortung getragen habe als Minister, nicht äußern. Weil ich diese Zwischenrufe und Kampagnen teilweise in meiner Fraktion gegen bestimmte Dinge schon immer kannte und nie wollte. Und da wollte ich nicht zu beitragen. Bin deswegen in einen Bereich reingegangen, der mich auch sehr interessiert hat, der aber damals nur ganz indirekt zu tun hatte, nämlich Entwicklungszusammenarbeit. Früher sprach man mal von Entwicklungshilfe. War dann auch zuständig für Subsahara Afrika und für Bereiche, die sich mir neu erschlossen haben und für mich auch Anspruch waren, neu anzudenken: Wie kann man dort Entwicklungszusammenarbeit anders als bisher angehen? Voraussetzungen zu schaffen in diesen Ländern, dass die Kraft entwickelt wird für eigenes Tun, dass auch die Möglichkeit der Würde für eigenes Handeln entwickelt.
    Walter Riester (Deutschland/SPD/MdB) im Deutschen Bundestag in Berlin, 
    Walter Riester war von 2002 bis 2009 Mitglied im Deutschen Bundestag (imago/Christian Thiel)
    Winkelmann: Aber das sagen ja alle, die Hilfe zur Selbsthilfe, die Hilfe, die nur unterstützend dienen soll der Selbstentfaltung, der eigenen Kräfte.
    Riester: Das klappt immer wieder, der Grundsatz ist aber deswegen nicht falsch, weil er sich so schwertut durchzusetzen. Ich fand es beispielsweise viel, viel besser, was Karlheinz Böhm, mit dem ich mal 14 Tage … hat der mich mal eingeladen, seine ganzen Stationen in Äthiopien mitzuerleben. Der die Voraussetzungen geschaffen hat in vielen Schulen, in Agrarprojekten, in der polytechnischen Agrarausbildung in Äthiopien, als Voraussetzung der Qualifizierung von Menschen, die auch dringend gebraucht werden, Elektriker, Anfänge – kann man nicht mit uns vergleichen – von Maschinenbauern und so … Also diese Art der Arbeit fand ich toll. Und da habe ich mich starkgemacht und da kam auch eine Wirkung raus. Der gegenwärtige Minister dafür, der Herr Müller, macht im Rahmen dessen, was er machen kann, glaube ich eine sehr gute Arbeit. Und das ist nicht selbstverständlich, denn ich weiß ja, was da teilweise auch dagegen gemacht wird. Der, habe ich das Empfinden und die Information auch, dass er sehr auch in diesem Geiste, Voraussetzungen strukturell bei Menschen und bei Projekten zu schaffen, die die Möglichkeit der eigenen Entwicklung bringen, dass er das als einen wichtigen Ansatz sieht. Und das wird auch in der deutschen Entwicklungszusammenarbeit stärker gemacht als woanders.
    Winkelmann: Herr Riester, vielen Dank!
    Riester: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.