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Spekulativer Realismus
Über eine neue Art, auf der Erde zu leben

Der Spekulative Realismus erfreut sich einer wachsenden Fangemeinde und eines wachsenden Einflusses in der Philosophie. Vor allem interessiert er sich für die Materialität der Welt, problematisiert anthropozentrische, den Menschen in den Mittelpunkt stellende Grundierungen.

Von Thomas Palzer | 21.02.2016
    Buchenwald an der Ostseeküste im Nebel
    Das Mystische und Geisterhafte fasziniert den Spekulativen Realismus (imago / blickwinkel)
    - Sie ist zurück!
    - Wer?
    - Die Wirklichkeit.
    Tatsächlich: Die Wirklichkeit ist zurück. Zumindest in der Philosophie. Statt sie wie ein wildes Tier in Reservate wie Sprache oder Bewusstsein zu verbannen und damit zu entwirklichen wird Wirklichkeit nun wieder vollumfänglich anerkannt - zumindest von gewissen neueren Strömungen der Philosophie.
    Diese Strömungen tragen den Namen: der Neue Realismus oder der Spekulative Realismus. Die beiden Strömungen sind zwar nicht synonym, aber beide verfügen über eine große Teilmenge.
    Den Theorie-Import nach Deutschland zu verdanken hat diese im anglo-amerikanischen und französischen Sprachraum aufgekommene Strömung dem wohl derzeit umtriebigsten Philosophen und Literaturwissenschaftler, Armen Avanessian. Avanessian ist Herausgeber der Reihe "Spekulationen" im Berliner Merve-Verlag und rechtfertigt diese mit dem "dringenden Bedürfnis nach einem neuen Realismus". Programmatisch heißt es zu Anfang jeden Bandes der Reihe:
    "Signum dieser Denkansätze ist ihr positives Verhältnis zur Ontologie und eine erneute Bejahung von Metaphysik. Nicht zuletzt geht es darum, den Begriff des Spekulativen neu zu bewerten. Spekulation als haltlos zu begreifen, bedeutet letztlich, sich dem Gegebenen auszuliefern, statt in der Gegenwart neue Möglichkeiten zu entdecken. Gerade der spekulativen Dimension philosophischen Denkens kommt es zu, Neues zu denken oder das Alte neu zu denken."
    Antwort auf ein Krisenbewusstsein
    Der Neue Realismus oder der Spekulative Realismus antwortet auf ein Krisenbewusstsein - auf die Einsicht, dass die Gegenwart gute Gründe hat, um nach neuen Theorien zu fahnden. Konkret knüpft sich dieses Krisenbewusstsein an den Verdacht, dass die Philosophie mangels Fruchtbarkeit gegenüber den Erkenntnissen der modernen Wissenschaften mehr und mehr ignorant bleibt.
    Gefordert wäre aber eine Philosophie, die in der Wissenschaft und ihren Erkenntnissen eine Ressource entdeckt. Damit steht die Geburt der neuesten Schule des Denkens ganz in der Tradition - man denke etwa an Edmund Husserls "Die Krisis der europäischen Wissenschaften", mit der das vergangene Jahrhundert leuchtend anhob, an Jacques Derridas philosophischen Auftritt in den 1960erJahren oder an Peter Sloterdijks "Kritik der zynischen Vernunft" zu Beginn der 1980er-Jahre, die alle drei gesellschaftliche Krisenmomente aufgegriffen haben, um ihr eigenes Denken zu konstituieren.
    Immer sind es also die Pfade eines Denkstils, der lange der orthodoxe gewesen ist und nun - ausgetreten - einen neuen aus sich hervortreibt. So auch diesmal. Die beiden in den 1960er-Jahren als befreiend empfundenen Denkrichtungen der Postmoderne und des Konstruktivismus sind mittlerweile verbraucht und der Beliebigkeit und Selbstreferentialität anheim gefallen. Ihr Erkenntnisgewinn hat sich deutlich der Null genähert. Freilich ist der Neue Realismus, der eine Erneuerung der Philosophie anstrebt, kein einheitlicher Block, sondern es handelt sich bei ihm um einen Sammelbegriff für unterschiedliche Denkansätze, die nicht notwendig miteinander kompatibel sind.
    Einig sind sich die Neuen oder Spekulativen Realisten aber darin, dass sie sich vom linguistic turn abgewendet haben - das heißt von einer Philosophie, die sich weigert, eine Realität anzuerkennen, die vom Menschen und seinem Bewusstsein unabhängig ist. In den Grenzen der Sprache werden nicht länger Grenzen des Denkens gesehen - und der Mensch nicht länger als Hauptakteur in einer Realität, die sich ironischerweise gerade seit der kopernikanischen Wende durch Kant um ihn herum gruppiert - wo es doch, träfe der Begriff der kopernikanischen Wende tatsächlich zu, gerade umgekehrt verhalten müsste.
    Wirklichkeit wird wieder ernst genommen
    Kurz: Die Philosophie hat angefangen, die Wirklichkeit wieder ernst zu nehmen und sich für die Welt zu interessieren, statt nur für die Sicht des Menschen auf die Welt. Das Außerhalb des Menschen reklamiert wieder erfolgreich seine Autonomie für sich.
    Graham Harman ist Spekulativer Realist und lehrt an der American University in der ägyptischen Hauptstadt Kairo. Sein Denken gilt dem Versuch, eine neue Metaphysik zu etablieren, in deren Mittelpunkt nicht der Mensch, sondern Objekte stehen. Harman schreibt:
    "Wird die Philosophie weiterhin Affen, Tornados, Diamanten und Öl unter der Überschrift "Das, was außerhalb liegt" zusammenwerfen? Oder besteht auch nur im Geringsten Aussicht auf eine Objekt-orientierte Philosophie, auf eine Art Alchemie, um die Verwandlung einer Entität in eine andere zu beschreiben, um die Weise zu skizzieren, auf die sie Menschen wie Nicht-Menschen verführen oder vernichten."
    Für den Amerikaner Graham Harman ist alles innerhalb und außerhalb des Geistes ein Objekt - ähnlich, wie für den Bonner Philosophen Markus Gabriel, einen weiteren Vertreter des Neuen Realismus, nicht nur Tatsachen Tatsachen sind, sondern auch Gedanken über Tatsachen. Als dritten Vertreter der neuen Denkschule ist der Franzose Quentin Meillassoux zu nennen, der an der Ècole normale supériéure in Paris lehrt. Meillassoux geht in seiner Philosophie von einer radikalen Kontingenz aus - nämlich davon, "dass alles immer auch anders sein könnte und nichts auf der Welt einen Grund hat - schon gar nicht der Satz vom zureichenden Grund."
    Die Neuen Realisten rütteln also an den Grundpfeilern der abendländischen Philosophie. Im Jahr 2007 gab sich eine Konferenz am Londoner Goldsmith College kurzfristig den Namen "Speculative Realism". Das College galt damals als ein Zentrum für all diejenigen, die Lust verspürten, gegen die gängige Art der Theoriebildung aufzubegehren. Fünf Jahre später trafen sich die beteiligten Philosophen - darunter Quentin Meillassoux und Graham Harman - zu einer Vortrags- und Workshopreihe an der Freien Universität Berlin.
    Die entscheidende philosophische Geste, mit der der Spekulative Realismus anfing, allmählich Gestalt zu gewinnen, gelang vielleicht dem Franzosen Quentin Meillassoux mit seinem Begriff vom sogenannten Korrelationismus.
    "Es gibt keine Gegenstände, keine Ereignisse, keine Gesetze und überhaupt nichts Seiendes, das nicht immer schon mit einem Gesichtspunkt, einem subjektiven Zugang korreliert."
    Korrelationismus ist ein Wort, mit dem die zirkuläre Struktur aufgezeigt werden soll, in der sich seit Kants kopernikanischer Wende Subjekt und Objekt, Welt und Sprache befinden. Seitdem, so sagen es die Polemiker, müssen sich die Dinge nach dem Verstand richten - nicht umgekehrt der Verstand nach den Dingen.
    Genau das aber ist der Anspruch des Neuen Realismus, der darum ja den Realismus im Titel führt. Der Realismus ist kein Anthropozentrismus. Vielmehr soll der Mensch aus Respekt vor der Realität einen Schritt zurücktreten - und aufhören, die Welt um ihn herum mit sich und seinen Vorstellungen zu kontaminieren beziehungsweise die von ihm kontaminierte Umwelt für die Wirklichkeit selbst zu halten.
    Nicht von den Dingen an sich, sondern nur davon, wie sie unserem Bewusstsein erscheinen, lässt sich gemäß dem Königsberger Philosophen etwas wissen. Nach Auffassung von Meillassoux wird aber gerade diese scheinbar unerschütterliche Erkenntnis längst von den experimentellen Wissenschaften widerlegt. Wenn es um das Alter des Universums, der Erde oder des Lebens geht, operieren wir längst mit Datierungen, die weit vor der Entstehung jeglichen Bewusstseins liegen. Wie aber sollen wir von einer Tatsache oder einem Ding wissen, wenn es kein Bewusstsein gegeben hat, für welches dieses Ding oder diese Tatsache einmal Gegenwart gewesen ist?
    "Wenn Zeit ein Korrelat des Subjekts ist, dann kann nichts dem Subjekt in der Zeit vorausgehen."
    Gerade, wenn wir an den Satz des Sensualisten George Berkeley aus dem 18. Jahrhundert denken, der besagt, dass Sein Wahrgenommenwerden ist ...
    " ... esse est percipi ... "
    ... welcher Satz ja Kants Diktum zu bestätigen scheint, nämlich dass Subjekt und Objekt über das Bewusstsein unauflösbar miteinander verknüpft sind -, so hält Meillassoux dagegen, dass der Mensch inzwischen Mittel und Wege gefunden hat, ohne eigene Wahrnehmung wahrzunehmen - etwa mittels Algorithmen.
    An die Mathematik und computerisierte Netzwerke ist, mit anderen Worten, die sensualistische, auf den Sinnen beruhende Wahrnehmung, delegiert.
    Die Fakten der experimentellen Wissenschaften sind real. Und das zwingt den Menschen, eine Welt ohne menschliches Bewusstsein zuzulassen und zu denken.
    Neu Interpretation der Realität
    Damit die Realität ihre Autonomie zurückgewinnt, muss sie mithilfe eines anderen begrifflichen Frameworks neu interpretiert werden. Der bereits erwähnte und wohl prominenteste Neue Realist Markus Gabriel wird dieses Framework "Sinnfeld" nennen. Die Welt setzt sich aus unendlich vielen Sinnfeldern zusammen.
    "Ich kann mir nicht vorstellen, wie es ist, tot zu sein, da es sich vorzustellen bedeutet, noch am Leben zu sein."
    Sagt Quentin Meillassoux. Und weist mit dem Satz implizit darauf hin, dass das nicht bedeutet, dass er nicht sterben kann. Der Tod hängt folgerichtig nicht von seinem eigenen Denken über sich ab. Der Tod ist eine autonome und vollkommen unabhängige Realität.
    Der Spekulative Realismus ist also verbunden mit einer begrifflichen Revolution. Das wird besonders deutlich, wenn Meillassoux die Forderung der traditionellen Logik, nach der man für jedes Ding und jede Sache einen Grund angeben muss, ablehnt. Der Korrelationismus lässt sich bereits bei Parmenides finden, der behauptet hat, Denken und Sein wären dasselbe. Daraus entwickelt sich später die Korrespondenztheorie, die besagt, dass die Übereinstimmung von erkennendem Verstand und der Sache, auf die er sich bezieht, Wahrheit garantiere. Bei Aristoteles heißt es:
    "Nicht darum nämlich, weil unsere Meinung, du seist weiß, wahr ist, bist du weiß, sondern darum, weil du weiß bist, sagen wir die Wahrheit, indem wir dies behaupten."
    Diese Auffassung wird auch vom Spekulativen Realismus geteilt. Allerdings lehnt Meillassoux die Vorstellung ab, die Realität sei bis auf den Grund ein Rationalitätskontinuum - denn das käme einer Art prästabilisierter Harmonie gleich. Warum sollte die Realität - also die Tatsache, dass etwas ist und nicht vielmehr nichts - einen logischen Grund haben, bloß, weil es von den kognitiven Strukturen des Menschen so eingefordert wird?
    Deshalb lässt sich überspitzt sagen, dass für Meillassoux die Logik etwas ist, dass wir der Realität unterstellen, was aber keineswegs beweist, dass die Realität an sich tatsächlich und bis auf den Grund logisch aufgebaut ist. In diesem Sinn radikalisiert Meillassoux Kant, indem er sogar die Logik von der Beschaffenheit menschlichen Anschauungsvermögens abhängig sein lässt.
    Wenn aber das der Fall sein sollte, dann trifft auch der Satz vom zureichenden Grund nicht mehr zwingend auf die Realität zu. Diese zieht sich zurück in eine radikale Autonomie und Kontingenz, die nur noch auf Umwegen und nur in Teilen zugänglich ist.
    Keine logische Einheit, sondern isolierte Phänomene
    Für den 1967 in Paris geborenen Denker gibt es deshalb keine logische Einheit, sondern lediglich isolierte Phänomene, die zufällig zusammentreffen. Aus dieser Begegnung entwickeln sich dann Potenziale, die geeignet sind, gewisse Mechanismen herauszubilden - etwa das Leben und die Evolution. Grund- und ziellos bahnt die sich einen Weg durch das Gestrüpp der Realität - eine Ansicht, die übrigens von Charles Darwin geteilt wurde.
    Auch logische Prozesse können sich aus dem zufälligen Zusammentreffen isolierter Phänomene entwickeln, aber diese Logik ist kein immer gültiges Gesetz, sondern eine Erscheinung der Kontingenz. Meillassoux schreibt in seinem wirkmächtigen Essay "Nach der Endlichkeit" aus dem Jahr 2008:
    "Nichts hat einen Grund, so zu sein und zu bleiben, wie es ist, alles muss ohne Grund nicht sein können und/oder anders sein können, als es ist."
    Darum ist Meillassoux' Realismus spekulativ, weil er eben eine Realität postuliert, die ohne Bezug zum menschlichen Denken existiert - einfach so, grundlos vor sich hin "seiend".
    Außerhalb des Denkens denken lernen
    Außerhalb des Denkens denken zu lernen, das ist die unverzichtbare Prämisse des Spekulativen Realismus. Denn er muss eine grundlegende Realität anerkennen - eine Realität, die nicht vom menschlichen Denken oder seinem Diskurs vorgeprägt ist und die nicht aus endlosen Ketten von Signifikanten besteht -, statt, um Jacques Derrida zu zitieren, ein transzendentales Signifikat zu besitzen.
    Die sonach nur aus Interpretationen von etwas besteht, das selbst reine Fiktion bleibt. Wahrlich - eine solche Realität ist keine.
    Auch für Graham Harman ist die Existenz des Menschen ephemer. Deshalb arbeitet er an einer Metaphysik, die ins Zentrum nicht den Menschen rückt, sondern das Objekt.
    Der Philosoph wurde 1968 in Iowa geboren - ein Jahr später als sein Kollege Quentin Meillassoux. Anders als dieser akzeptiert Harman Kants Paradigma, nach dem wir keinen Zugang zu den Dingen an sich haben, sondern nur zu den Dingen, wie sie uns erscheinen. Allerdings hält Harman die Relation für permanent unangemessen. Was wir wahrnehmen, ist nicht Kants Ding an sich oder, wie Harman es ausdrückt, das reale Objekt, sondern es ist dessen Verzerrung.
    Wahrnehmung geht gemäß Harman, zu dessen Vorbildern Heidegger, Gilles Deleuze und Bruno Latour gehören, immer mit einem Übersetzungsfehler einher - und diese Verzerrungen und Fehler nutzt das reale Objekt, um sich den Blicken und Zugriffen anderer Akteure zu entziehen und gewissermaßen hinter der Vielzahl seiner Zerrbilder zu verschwinden.
    "Die Natur liebt es nicht, beobachtet zu werden", hat Heraklit gesagt.
    In seinem zur dOCUMENTA (13) auf deutsch publizierten Text "Der dritte Stuhl" zitiert Harman einen britischen Astrophysiker - Sir Arthur Stanley Eddington -, dessen größtes Geschenk an die Philosophie seiner Ansicht nach die Parabel von den zwei Tischen gewesen sei.
    "Ich will mit der Niederschrift dieser Vorträge beginnen und rücke meine Stühle an meine beiden Tische. Zwei Tische? Ja, denn jeder Gegenstand meiner Umgebung hat einen Doppelgänger - und also zwei Tische, zwei Stühle, zwei Federn."
    Es geht also um den Tisch der Physik und um den Vertrauten des Alltags: ein Gegenstand, zwei Welten. Zwei Frameworks oder, wie der Neue Realist Markus Gabriel sagen würde, zwei Sinnfelder.
    Harman geht allerdings davon aus, dass nicht nur die relationale Kluft zwischen Mensch und Objekt dieses verzerrt, sondern dass alle Dinge all die anderen Dinge um sich herum verzerren oder zu ihren eigenen Karikaturen verunstalten.
    Relationale Kluft zwischen allen Objekten und Entitäten
    Es gibt folglich nicht nur eine einzige relationale Kluft - nämlich die zwischen Menschen und Objekten - es gibt diese vielmehr zwischen allen Objekten oder Entitäten.
    Die Dinge haben unterschiedliche Eigenschaften, die dazu dienen, miteinander in Relation zu treten - Papier über seine Beschreibbarkeit mit den Menschen, über seine Entflammbarkeit aber mit dem Feuer, über seine Saugkraft mit dem Wasser.
    Entitäten oder reale Objekte sind für Harman autonom und können sowohl Tatsachen sein wie Gedanken über Tatsachen, sowohl fiktiv wie real, sowohl physisch wie artifiziell, sowohl einfach wie zusammengesetzt.
    Unternehmen, Plastikbecher, Bienen, Flugzeuge, Strommasten, Feuer, Mauern, Batman oder Baumwolle gehören für Harman zu den realen Objekten oder Entitäten.
    Die Naturwissenschaften halten es für naiv, Hunde als grundlegende Bestandteile der Welt aufzufassen - als Entität. In Wahrheit setzen sich ihrer Ansicht nach Hunde aus Atomen, organischen Chemikalien und neuronalen Prozessen zusammen. Genau das aber hält Harman für einen unzulässigen Reduktionismus.
    Der Philosoph betont, dass ausgerechnet die Naturwissenschaften nicht an die Phänomene glauben - an das, was man sehen kann -, vielmehr glauben sie nur an das, was man nicht sehen kann: an Atome, Elektronen, Quanten, Quarks, elektromagnetische Strahlung.
    Objekte erlangen in den Augen der Naturwissenschaft ihre Realität paradoxerweise nur durch etwas anderes - Krankheiten durch Viren oder Bakterien, Menschen durch Organe, Organe durch Zellen, Zellen durch Moleküle - und immer so weiter bis ganz nach unten.
    Für Harman ist das eine unendliche Verschiebung, der am Ende nur wieder das Derridasche transzendentale Signifikat fehlt, die endgültige Referenz, die allein den Sturz in den Abgrund zu stoppen vermöchte. Der Amerikaner dagegen vertraut dem, was ihm seine Wahrnehmung ins Bewusstsein ruft.
    Jedes reale Objekt verfügt über zwei Seiten
    Seine objektzentrierte Philosophie besteht allerdings darauf, dass jedes reale Objekt über zwei Seiten verfügt: über eine sinnliche, die dafür da ist, um mit anderen Entitäten in Kontakt zu kommen, und über eine reale Seite, die dazu da ist, um unsichtbar zu bleiben und sich allen Beziehungen und Relationen zu entziehen.
    Der Neue Realist Ian Hamilton Grant hat den Zusammenhang zwischen realen und sinnlichen Objekten in einem Vortrag mit dem Titel "Sein und Schleim" folgende Wendung gegeben:
    "Aus dem Schleim geht das Leben hervor, in dem es sich zu unendlich vielen Einzeldingen beziehungsweise Lebewesen als Singularitäten formen kann. Das heißt, das Leben quillt nicht aus dem Schleim heraus, es ist die Wiederholung des Schleims in anderer Gestalt."
    Um noch einmal auf das vorhin erwähnte Beispiel von Sir Eddington zurückzukommen: Der Tisch der Physik wie der des Alltags gehören beide zur sinnlichen Seite des Objekts - der reale Tisch aber ist für Harman ein dritter Tisch, einer, der all seine sinnlichen Seiten - wissenschaftliche, vertraute, handwerkliche oder perzeptuelle - nutzt, um sich allen Kontaktanbahnungen zu entziehen. Um, anders gesagt, unantastbar zu bleiben.
    Der dritte Tisch gehört nach Harman zur dritten Kultur - nämlich der Kultur der Kunst. Die Zählweise nimmt dabei Bezug auf C. P. Snows berühmte Rede von den zwei Kulturen - der technisch-wissenschaftlichen auf der einen Seite und der geisteswissenschaftlich-literarischen auf der anderen. Was dabei die Kunst als dritte Kultur antreibt, ist die Einsicht, dass reale Objekte nicht erkannt oder verstanden werden können, wohl aber geliebt.
    Philosophie der kraftvollen Kunst
    Harman erweitert die phänomenologischen Einsichten eines Edmund Husserl und Martin Heidegger. Allerdings will er die Philosophie als strenge Wissenschaft, wie es Husserl gefordert hat, ersetzen durch eine Philosophie als kraftvolle Kunst. Harman sagt:
    "Denn einerseits funktioniert Kunst nicht, indem sie weiße Wale, Villen, Flöße, Äpfel, Gitarren und Windmühlen in ihre subatomaren Grundlagen auflöst. Künstler liefern ganz offenkundig keine Theorie der physikalischen Wirklichkeit. Und Eddingtons zweiter Tisch ist das Letzte, wonach sie streben. Doch andererseits streben sie auch nicht nach dem ersten Tisch, als verdopple die Kunst lediglich die Gegenstände des Alltags oder als versuche sie, Wirkung auf uns zu erzielen. Sie versuchen vielmehr, Objekte zu schaffen, die tiefer sind als die Bestandteile, durch die sie sich ankündigen, oder auf Objekte anzuspielen, die sich nicht ganz vergegenwärtigen lassen."
    Für Harman besitzt die Ästhetik eine zentrale Bedeutung für die Philosophie. Ästhetik ist eine Technik, um Bedeutungen zu erschaffen. Wie Meillassoux glaubt Harman also nicht an die Einheit der Dinge, sondern an deren Singularität und Isolation. Alle Entitäten inklusive der Entität Mensch spiegeln die jeweils anderen Entitäten falsch und verzerrt wider. Den Entitäten kommt realiter stets mehr zu, als es ihnen von unseren Repräsentationen zugebilligt wird.
    Man könnte sagen, dass uns die objektzentrierte Philosophie eines Graham Harman in eine Art Spiegelkabinett verbannt, aus dem wir so wenig herauskommen wie der Minotaurus der griechischen Mythologie aus seinem Labyrinth. Die realen Objekte sind nur in einer für uns unzugänglichen No-Go-Area einfach sie selbst. Überall sonst zeigen sie uns ihre entstellte sinnliche Seite. Harman schreibt:
    "Das Reale ist etwas, das man nicht verstehen, sondern nur lieben kann. Das bedeutet nicht, dass der Zugang zum Tisch unmöglich ist, sondern nur, dass er indirekt sein muss. So wie die erotische Sprache besser wirkt, wenn sie auf Andeutungen, Anspielungen und Innuendo beruht anstatt auf Feststellungen und deutlich formulierten Angeboten."
    Mit den Worten des Theorie-Importeurs Armen Avanessian gesteht Harman den Subjekten kein kognitives Primat gegenüber den Beziehungen der Objekte zu anderen Objekten zu. Unser Wissen von der Melone, die uns schmeckt, ist nicht größer als das Wissen vom Messer, das sie geschnitten hat. Graham Harman führt diesen Zusammenhang so aus:
    "Wenn Feuer Baumwolle verbrennt, tritt es nur mit der Entflammbarkeit dieses Materials in Kontakt. Feuer interagiert vermutlich überhaupt nicht mit dem Geruch oder der Farbe der Baumwolle, die nur für Kreaturen relevant sind, die mit Sinnesorganen ausgestattet sind. Obwohl es wahr ist, dass das Feuer diese Eigenschaften, die außerhalb seiner Reichweite liegen, verändern oder zerstören kann, tut es dies in indirekter Weise: über den Umweg eines zusätzlichen Merkmals der Baumwolle, das Farbe, Geruch und Feuer gleichermaßen zu berühren vermögen. Das Sein der Baumwolle entzieht sich den Flammen, selbst wenn es verzehrt und zerstört wird."
    Das Sein der Baumwolle bleibt für den amerikanischen Philosophen wie das anderer Entitäten unantastbar. Es ist in die Totalität der Welt eingelassen, deren Verweisungskette nicht in das Umwillen des Menschen mündet. Anders gesagt, ist das Sein jeden realen Objekts autonom und gänzlich unabhängig von den Relationen zu einem Bewusstsein oder den Relationen zu anderen realen Objekten.
    Es ist sogar eine vierfache Struktur, die dem Objekt nach Harman zukommt. Die monotone Paarung von Raum und Zeit, die lediglich den Ort des Objektes angibt - hier und heute, dort und gestern - wird aufgebrochen und überführt in die vierfache Spannung zwischen Zeit, Raum, Essenz und Eidos. Diese Spannungen in der Struktur der genannten Profile beeinflussen jedes Objekt, das auf irgendeine Weise real ist.
    Wie muss man sich das vierfache Objekt vorstellen? Zum einen bleibt eine Kerze, während die Zeit vergeht und sie herunterbrennt, immer eine Kerze. Das reale Objekt Kerze entzieht sich dabei jeder sichtbaren Präsenz. Harman schreibt:
    "Das Objekt ist eine vage und dennoch bestechende Ganzzahl, eine einigermaßen dauerhafte Einheit, die mit wechselnden Oberflächen überzogen ist."
    Sinnliche Objekte haben ein reales Eidos - eine tropfende Kerze, ein nicht tropfendes Kerze-Objekt. Zudem besitzt das sinnliche Objekt Kerze noch akzidentielle Eigenschaften, die auf der Oberfläche herumschwirren und sehr flüchtig sind - verschiedene Ansichten, die es dem um es herumgehenden Betrachter präsentiert; verschiedenes Licht, in dem es sich zeigt; zunehmende Alterung oder Reifung, während es betrachtet wird; und so weiter.
    Das Objekt Kerze bleibt für uns über einen gewissen Zeitraum dieselbe Einheit, auch wenn ihre Oberfläche immer wieder neue Profile abstrahlt. Doch wie kann sie als sinnliches Objekt einem Betrachter je nach Blickwinkel, Entfernung und Stimmung in unzähligen Inkarnationen erscheinen?
    Es gibt kein umfassendes Ganzes, keine Einheit der Dinge, sondern nur den strukturellen Konflikt, den individuelle Objekte mit ihren Akzidenzen, Qualitäten, Relationen und Momenten austragen.
    Die vierfache Struktur der Objekte wird reflektiert oder gebrochen von jedem seiner Begriffe: von Zeit, Raum, Essenz und Eidos. Jedes reale Objekt, das als solches niemals sichtbar wird, hat ein zeitliches Profil, ein räumliches, ein essenzielles und ein ideelles.
    In der Summe dieser Profile, die sich allerdings auch abspalten oder fusionieren können, liegt die Würde eines jeden realen Objekts. Es ist seine Substanz, ist die Art, wie es seiend oder einfach: da ist. Harman besitzt genug Feingefühl, um naheliegenden Zweifeln und Irritationen gegenüber seinem vierfachen Objekt mit Humor zu begegnen.
    "Eine vierfache Struktur läuft offensichtlich Gefahr, exzentrisch oder bizarr anzumuten, wie eine New-Age-Doktrin oder das Glaubensbekenntnis eines falschen Propheten. Das Geviert könnte Assoziationen an den Führer eines Kults auf einer abgelegenen Insel im Pazifik wecken, mit einer geläuterten Hure an der einen Hand und einer Kindsbraut an der anderen, vereint in der gemeinsamen Anbetung des Großen Obsidian-Zylinders, in dem die vier Kräfte des Kosmos aufbewahrt sind. Jedoch habe ich zu zeigen versucht, dass wir nicht umhin kommen, über das Geviert zu reflektieren."
    Harman bezieht sich hier auf Heideggers Seinsgeschehen, das dieser in Analogie zu dem Begriff Gesetz - nomos - Geviert genannt hat. Geviert meint das Wechselspiel zwischen Verbergung und Entbergung und Himmel und Erde - wobei mit Erde nicht der Globus, sondern die Authentizität gemeint ist - Heimat im Sinne des Herkommens und Heimgehens.
    Die vierfache Struktur der Realität erkennt Harman nicht im Sein oder im seiend Sein von "etwas überhaupt", sondern im jeweiligen realen Objekt, das zusammenhanglos und singulär neben anderen realen Objekten existiert. Von daher lautet eine der großen Fragen, die sich ihm stellen:
    "Während es ein ernsthaftes Erkenntnisproblem ist, wie Feuer Baumwolle berührt oder der Mensch die Welt, ist es eine genauso schwierige Frage, wie sich ein Apfel zunächst auf seine eigenen Eigenschaften wie kalt, rot, hart, süß, säuerlich, billig und saftig bezieht."
    Müssen wir die Welt im Wort suchen - oder in den Phänomenen? Auf diese einprägsame Formel lässt sich bringen, was die Philosophie der jüngsten Gegenwart umtreibt. Und wie ihre Antwort lautet, das haben wir gerade gehört.