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Sperriges Du

Für einige Araber ist Sayed Kashua ein Nestbeschmutzer, seine Bücher sind in Israel Bestseller. Der arabische Israeli geht mit seinen Landsleuten mitunter schonungslos ins Gericht, so auch in seinem neuesten Roman.

Von Sigrid Brinkmann | 13.05.2011
    Sperrig und gewollt formal klingt der Romantitel. Das Du, die zweite Person Singular, bleibt zwar keine abstrakte Größe, denn Kashuas Protagonisten sind wie jedermann angewiesen auf ein Gegenüber, das uns spiegelt, uns korrigiert oder ermutigt, dennoch sind die Handelnden entweder zu eitel oder zu schüchtern, um dem Du auf Augenhöhe zu begegnen.

    "Ich finde den Titel genau richtig. Da habe ich nicht lange suchen müssen. Er passt zum Roman. Vom Anwalt spreche ich nur in der dritten Person, und Amir spricht in der ersten Person. Die zweite Person braucht man zum leben. Und die ganze Zeit über ist ein regloser Körper anwesend. Im Hebräischen meint das Wort guf scheni Person und ebenso Leib oder Körper. Und Singular - nun, die Figuren sind die meiste Zeit allein und empfinden, tief im Innern, große Einsamkeit. Es ist kein einfaches Buch."

    Ein namenlos bleibender Rechtsanwalt und der Sozialarbeiter Amir sind die Hauptakteure. Beide sind arabische Israelis, die aus Provinzstädtchen nach Jerusalem zogen, um dort die Stricke ihrer kleinbürgerlichen Herkunft abzustreifen. Wie in seinen Romanen "Tanzender Araber und "Da ward es morgen" rechnet Sayed Kashua schonungslos ab mit der Zurichtung arabischer Kinder, die früh angehalten werden, alles Fremde zu meiden oder aggressiv auszugrenzen. In Rückblenden schildert er sexistische Attacken, die Amirs Mutter galten, doch immer auch das Kind trafen.

    Das Handlungsgeschehen entwickelt Kashua in zwei Strängen. Die Protagonisten leben in völlig getrennten Sphären. Der mittellose Amir verdient neben seiner Tätigkeit Geld als Nachtwache eines gelähmten, stummen jüdischen Studenten. Der Anwalt ist ein Emporkömmling. Sein monatlicher Salon ist eine Institution für Zugewanderte. Von den Einheimischen aus Ostjerusalem grenzen er und seine Frau sich offensiv ab. Ganz beiläufig macht Sayed Kashua den Leser vertraut mit Verhaltensweisen arabischer Israelis, die ehrgeizig nach einem festen Platz inmitten der jüdischen Mehrheitsgesellschaft streben. Es gelingt ihnen nicht, sich aus der Falle zu befreien, in der Menschen sitzen, die andere ständig nach ihren Wurzeln befragen und beurteilen.

    "Hier wird einfach alles sehr schnell zu etwas Heiligem erklärt, und ich weiß oft nicht, ob die Gründe für den Streit darüber national motiviert sind oder religiös. Man könnte manchmal meinen, es herrsche ein permanenter Kulturkampf. Unsere Herkunft, unsere kulturellen Wurzeln, diese ganze Folklore wird hier ungemein wichtig genommen. Ich versuche, mich mit meinen Texten gegen diese Reduzierung zu wehren."

    Und so sprengt der Anwalt in einem Augenblick großer Erschöpfung wie Luzidität eine zentrale Übereinkunft. Angewidert von Parolen, die behaupten, dass man eine Vergangenheit haben müsse, um auch eine Zukunft zu haben, streut er in die Runde:

    "Wisst ihr was? Nicht nur wir Araber haben kein Recht, auf unsere Vergangenheit stolz zu sein, kein Volk auf der Erde hat das." (...) "Ich meine", sagte der Rechtsanwalt, lächelte und hielt seinen Gästen weitere Eiswürfel und Whiskey hin, "ich meine manchmal, dass ein Baum ein Baum ist und ein Mensch ein Mensch."

    Gekonnt boshaft enthüllt Kashua den Anwalt als rhetorischen Schaumschläger, der sich letztlich nicht an emanzipatorische Gedanken gebunden fühlt. Als er auf Zeugnisse einer vermeintlichen Liebesaffäre seiner Frau stößt, offenbart sich sein kleinliches Selbst. Der Verdacht gilt ihm schon als Beweis für den Ehebruch, und Kashua führt glänzend vor, wie der Anwalt privat als selbstgerechter Stümper agiert. Ganz anders berührt uns das Drama Amirs, der während seiner Nachtwachen stapelweise Bücher des regungslosen Studenten Jonathan liest, sich sukzessiv den westlichen Kulturkanon aneignet und allmählich das Vertrauen der Mutter des Verletzten gewinnt. Mit ihrer Billigung vollzieht Amir schließlich einen illegalen Akt.

    "Es hat Jahre gebraucht, bis er begriff, dass er nur Zugang zur israelischen Gesellschaft findet, wenn er sich eine jüdische Identität aneignet. Seine eigene muss er buchstäblich zu Grabe tragen. Er opfert sie, und das ist ein schwieriger Prozess. Andererseits versuche ich mit dem ganzen Komplex der Identität zu spielen. Die Mutter des Toten legt ihm schließlich nahe, die Identität als ein Organ anzusehen, dass man ersetzen kann. Für sie ist Identität nicht etwas so Sakrosanktes, wie wir hier allgemein denken."

    Amir nimmt die Identität des gestorbenen Juden Jonathan an und beginnt in seinem Namen ein Fotografie-Studium. Das Medium erlaubt ihm, Menschen ruhig zu betrachten, und langsam verliert Amir die Furcht, für jemanden gehalten zu werden, der sich unerlaubt in fremde Welten einschleicht.

    "Im Buch geht es auch um die Kunst und unsere Rolle als Betrachter. Amir fotografiert. Er bewirbt sich um einen Studienplatz an der Akademie, weil er möchte, dass sich Leute mit seinen künstlerischen Arbeiten auseinandersetzen und nicht damit, dass er ein arabischer Fotograf ist. Ich kenne das schließlich aus eigener Erfahrung. Ich wünsche mir auch, dass mein Schreiben nach der Qualität meiner Geschichten und der wahrhaftigen Schilderung der Figuren beurteilt wird und nicht danach, ob ich Palästinenser, Araber, Israeli oder sonst was bin."

    In Israel ist Sayed Kashua als Schriftsteller konkurrenzlos. Kein anderer prüft die Denkgewohnheiten und Verblendungen von Juden und Arabern so schonungslos wie er. Respektlosigkeit ist seine Grundhaltung. Sie schützt ihn nachhaltig vor Vereinnahmungen. Die jüdische Leserschaft folgte ihm von Anfang an; die muslimische hingegen sah in Sayed Kashua jahrelang den Nestbeschmutzer. Für viele ist er längst schon "ein halber Jude". Das aber, so Kashua, gebe es nicht in Israel. Man müsse schon hundertprozentig jüdisch sein, um als vollwertiges Mitglied der Gesellschaft anerkannt zu werden. Ernsthafter und ketzerischer als in seinen ersten beiden Büchern hat Sayed Kashua in "Zweite Person Singular" erneut mit Tabus der arabischen Israelis gebrochen. Und er lässt uns die volle Einsamkeit des Muslims Amir schmecken, der sich nach einem Leben "ohne Treuebeweise" sehnt und schonungslos offen stammelt, dass er so sein möchte "wie sie" – die Juden, die Mehrheit in Israel.