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Spezifisch deutsch?

Die Love Parade in Berlin; die Wagner Festspiele in Bayreuth, die Schlagerparade der Volksmusik – Szenen aus dem Kulturleben der Berliner Republik. Gibt es in Zeiten globaler Entgrenzung überhaupt noch eine spezifisch deutsche Kultur ? Und wenn ja, zählen dazu etwa die sonntäglichen Schuld-Sühne-Exerzitien von Sabine Christansen ? - Der Historiker Hermann Glaser greift all diese Phänomene auf – und begibt sich auf Spurensuche nach dem deutschen way of life. Es ist eine Recherche, die sich weder in einem teutonischen Mythensumpf verliert noch auf anbiedernde Weltläufigkeit zielt.

Werner Köhne | 02.08.2004
    Hermann Glaser, der viele Jahre in Nürnberg als Kulturreferent tätig war, zeigt sich in seiner Studie einmal mehr als besessener Sammler und Archivar, darüber hinaus verfügt er über jene analytische Tiefenschärfe, die dem Datenmaterial eine Form gibt - und eine moralische Richtung: die des klassischen Aufklärers. Das Ergebnis ist ein buntcheckiges Panorama, eine Erzählung, die genau dort beginnt, wo der Nationalsozialismus 1945 gerade kulturell ein großes Geschichtsloch hinterlassen hatte: die Stunde Null.

    Die Stunde Null ist ein digitales Symbol für etwas, das man mit Worten so beschreiben kann: So viel Anfang war nie! Individuell wie kollektiv. Kultur war wieder freiheitlich möglich – es war ein Aufbruch. Und dann gibt es noch eine eigenartige Nullsituation, die Friedrich Schiller in seinen "Briefen zur ästhetischen Erziehung des Menschen" so bezeichnet: wir brauchen den ästhetischen Nullzustand. Und das war für die Trümmerzeit außerordentlich wichtig das heißt, die Zwänge, die Rituale fallen weg – und jetzt kann der Mensch sein Leben in Zeichen kultureller Besinnung neu eröffnen, beginnen. Die Griechen nannten das Katharsis, Reinigung. Und ich hab´s selbst erlebt, in Nürnberg nach dem Krieg als die Ihigenie von Goethe gespielt wurde, eine alte Inszenierung, da hat eine Frau neben mir geweint, ich hab` das erst im Rückblick richtig begriffen, als das Wort im Stück fiel: "Zwischen uns war Wahrheit." Und diese ergreifende Einsicht, dass Wahrheit wieder als Möglichkeit aufschien, das ist der Nullzustand.

    Ein Aufklärungspathos, das damals zahlreiche Bemühungen um eine neue Kultur garnierte. Glaser weist auf die Gruppe 47 hin und deren Losung vom "Kahlschlag" – eine Matapher, die auch für Politikferne und Rückbesinnung auf das Rein Ästhetische stand. Zumindest in Deutschland West. Allerdings wären diese Neuorientierungen kaum ausreichend gewesen, ein ganzes Volk kulturell zu befrieden, das zuvor noch zwischen Hysterie und Verlusterfahrung changiert war. 1948 kommt es dann in Deutschland zu einem kollektiven Initiationserlebnis, das der folgenden Entwicklung, auch der kulturellen, eine beruhigende Richtung gibt: die Währungsreform, die "konkreteste stunde" der Deutschen

    Die Währungsreform – und so haben es auch viele Dichter wie Heinrich Böll empfunden - war das Bewußtsein, wir müssen uns nicht nur geistig sublimieren, veredeln, sondern wir können auch ein materielles Glück wiederfinden... Dies wird später oft diffamiert und man meint, die Zeit des Wirtschaftswunders sei etwas was dem Geist entgegenstand... Die Gefahr war nur, dass die Kultur, der Überbau, keine Rolle mehr spielte zugunsten einer Konsumdemokratie, die sich dann einseitig entwickelt hat. Die Kultur wurde in die Nachtstunde verlegt.

    Und - so möchte man einfügen - die Todesfuge von Paul Celan in die Abitur-Abschlussfeier. Unterdessen entfesselte das Wirtschaftswunder die kurzzeitig gebundenen Energien und brachte Forderungen um Trauerarbeit zum Schweigen. Auch für Hermann Glaser entsteht hier, wie bei den Mitscherlichs, eine "zweite Schuld". Kulturgeschichtlich ist das insofern von Bedeutung, als vor restaurativem Hintergrund eine spezifisch deutsche Jugendkultur auf den Weg gebracht wurde: in den fünfziger Jahren entwickelt sie sich im Schatten alter Herren eher unpolitisch, bis sie 1968 zum Ausbruch drängt und in Ereignissen wie dem "deutschen Herbst" das kollektive Unbewußte gewaltsam an die Oberfläche spült. Glaser erweitert hier Kultur- zur Mentalitäts- und Bewußtseinsgeschichte. Wo aber bleibt das andere Deutschland ?

    In der Beurteilung der ostdeutschen Geschichte bezieht Glaser eindeutig, wohl auch ein wenig gereizt Stellung. Die Kulturgeschichte der DDR war zwar nach ihm geprägt von Ideologie und oberlehererhaften Intervention der politischen Klasse. Aber das gewagte Spiel zwischen Anpassung und Protest, zu dem viele Kulturschaffende gezwungen wurden, führte im Gegensatz zum Westen zu intensiven künstlerischen Ausdrucksformen.

    Wenn man einmal einen Bereich herausnimmt: die bildende Kunst, dann zeigt sich, dass im Westen eine unheimliche Vielfalt der Formensprache mit entsprechenden Inhalten angeboten wird; in Wirklichkeit ist aber die Angelegenheit viel eindimensionaler, denn die abstrakte Kunst, die ja von besonderer Bedeutung ist, die ja auch im Dritten Reich unterdrückt war- wird hier der Western Style, der die Galerien und Austellungen dominiert; das, was sich in der westlichen Provinz entwickelt hat, war vielfältiger als das, was die westliche Kultur als Weltkunst darstellt. Im Osten ist es eine ganz große Leistung, dass der Realismus, nicht der Einheitsrealismus, sondern der expressive Realismus , der surreale Realismus, sich viel stärker entfalten konnte als im Westen; dort war der kapitalistische Druck sehr stark, im Osten der politische, aber bei all diesem Druck sind dort Leistungen entstanden, die nach 1990 nicht genügend gewürdigt wurden.
    Mit dem Eintritt in die Berliner Republik schließlich mag sich Glaser gar nicht anfreunden. Beinahe in einem Federstrich wird die deutsche Entwicklung seit der Wende 1989 in die Großwetterlage des globalen Postmodernismus eingerückt und dabei für zu leicht befunden:

    Die Postmoderne hat eine gewisse Entideologisierung bewirkt. Auf der anderen Seite – und das ist der negative Aspekt der Postmoderne aus meiner sicht, kann das zu Beliebigkeit führen, "anything goes," oder wir es in einem Lied heißt: don´t worry be happy. Dieses Negative hat das Positive überlagert. In die Kulturpolitik zieht das dann ein als Event. Wenn es die Masse sieht, ist es Kultur. Diesen negativen Aspekt der Kultur könnte man ja ertragen, wenn er nicht in die Politik übergeschwappt wäre. Ich gehe hier so weit und sage: die Berliner Republik, auf die man so viel Hoffnung gesetzt hat, ist eine Politik der Beliebigkeit, die die Konturen und die Utopien verlorengegangen sind in diesem Hickhack. Ein Philosoph hat den Ausdruck geprägt: diese Republik ist geprägt durch Inkompetenz-Kompensations-Kompetenz. Man ist eigentlich inkompetent in vielen Bereichen, aber hat sehr große Kompetenz, diese Inkompetenz ständig zu kaschieren. Eine Republik der Wortblasen. Eine neue Wortblase jagt die andere. Ich möchte es härter ausdrücken: Jetzt wird schon wieder eine Sau durch´s Dorf getrieben.
    Hermann Glaser
    Kleine deutsche Kulturgeschichte von 1945 bis heute
    S. Fischer Verlag, 306 S., EUR 22,90