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Spiegelbildner der Kriegsgeneration

Er wurde zum Idol einer durch den Krieg verstörten jungen Generation: der am 19. März 1920 geborene Boris Vian. Genialer Wortakrobat und künstlerisches Multitalent, hielt Boris Vian der französischen Nachkriegsgesellschaft den Spiegel vor.

23.06.2009
    "Ich weiß wohl, dass Boris Vian einer der Erfinder der Jugendbewegung von Saint-Germain-des-Prés gewesen ist, jener Jugend, deren Benehmen, wie wir alle wissen, nicht immer den überkommenen Moralvorstellungen entspricht. Aber hat nicht gerade diese Jugend, die doch unter so besonders schmerzvollen Umständen groß werden musste, jedes Recht auf Nachsicht?"

    Der Pariser Staatsrat George Huysmans über den jungen Boris Vian. Er war Zeuge vor Gericht, als der 30-jährige Autor des Romans "Ich werde auf Eure Gräber spucken" wegen "jugendgefährdender Schriften" 1950 zu einer hohen Geldstrafe verurteilt wurde: Das Buch verstoße "gegen Sitte und Anstand", hieß es. Ausgerechnet jene Jugend, deren Kinderjahre der Zweite Weltkrieg geprägt hatte, sollte vor einem Text geschützt werden, der von Rassenkonflikten, Hass und Machtgier erzählt. Es war diese bürgerliche Doppelmoral, die den am 10. März 1920 in Ville d'Avray bei Paris geborenen, vielseitigen Künstler Zeit seines Lebens herausforderte.

    Saint-Germain-des-Prés. Der legendäre Ort rive gauche stand für Rebellion und Aufbruch. Im berühmten Tanzkeller Tabou hatte Juliette Gréco ihre ersten Auftritte, hier spielte auch ein jazzbegeisterter junger Mann Trompete: Boris Vian.
    Jazz war für den anglophilen Franzosen Befreiungsmusik. Von Beruf Ingenieur, wurde Boris Vian zum Jazz-Spezialisten, er schrieb Kritiken und machte Duke Ellington und andere Größen des Jazz in Frankreich bekannt. Daneben arbeitete er an Romanen, Theaterstücken, Chansons und Übersetzungen.

    "Das Wichtigste im Leben ist, sich vor allen von vornherein feststehenden Meinungen und Urteilen in Acht zu nehmen. Es scheint in der Tat so zu sein, dass die Massen im Unrecht sind und die Individuen immer im Recht."

    … schreibt Boris Vian im Vorwort zu seinem 1946 erschienenen Roman, "L'écume des jours", Der Schaum der Tage. Er war und blieb zeitlebens Individualist. Der Roman, eine bizarre Liebesgeschichte, handelt vom Verlust der Unschuld und der Trauer über die Niederträchtigkeit der Welt.

    "Ich halte Boris Vian für außerordentlich begabt und für einen unserer jungen Schriftsteller mit großer Zukunft."

    … sagte Raymond Queneau über ihn. Der bekannte Schriftsteller war Lektor beim Verlag Gallimard, wo er den jungen Vian in den 1940er Jahren bekanntmachte und förderte. Queneau erkannte in ihm den genialen Künstler und engagierten Freidenker.


    1954 schrieb Boris Vian sein Antikriegslied "Le Déserteur". Es wurde zur Hymne der Kriegsdienstverweigerer und Pazifisten und zählt bis heute zu den bekanntesten französischen Chansons.

    "Herr Präsident ( ... ) ich bin nicht auf der Welt / um arme Leute zu töten / meine Entscheidung ist gefallen / ich werde desertieren."

    Die Kritik an Militarismus und Aufrüstung kennzeichnete Vians künstlerisches Schaffen von Anfang an. Mit dem 1947 entstandenen Theaterstück "Abdeckerei für alle" zertrümmerte er den Mythos der Libération. Denn Frankreich rüstete wieder auf: zum Krieg in den Kolonien gegen die erstarkten Befreiungsbewegungen. 1954 begann der Kampf um Algerien. Im selben Jahr wurde "Le Déserteur"verboten. Auch sein 1957 entstandenes, wichtigstes Drama "Die Reichsgründer oder Das Schmürz" - eine furiose Anklage gegen die Kolonisation und die bürgerliche Nachkriegsgesellschaft der Ära Guy Mollet – wurde Opfer der Zensur. 1957 waren alle Großmachtsträume zerbrochen, doch wahrhaben wollten das die politisch Verantwortlichen nicht. Boris Vian hält ihnen den Spiegel vor: "Schmürz", das ist der ewig gepeinigte koloniale "Untermensch", der als Sündenbock der Nation herhalten muss.

    "Es gibt in diesem Land keinen Weißen, der unschuldig wäre."

    … heißt es im Roman "Ich werde auf Eure Gräber spucken", den Boris Vian auch zu einem Drehbuch umarbeitete. Doch mit der Verfilmung seines Stoffs war Vian zutiefst unzufrieden. Bei der Premiere erregte er sich derart, dass sein nach einer schweren Kinderkrankheit geschwächtes Herz versagte. Bereits nach den ersten zehn Minuten starb Boris Vian, erst 39-jährig, am 23. Juni 1959 in Paris.