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Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal und Kleist

"Kataloge sind unsere Lieblingsbücher", heißt es in Andreas Mands Roman Grovers Erfindung von 1992: "Gut sind Gewehre, Messer, Diktiergeräte, Schwimmbassins, Taucherausrüstung, Heimwerker, Spielsachen, Unterwäsche, Badehosen und Sauna." Mands Roman gilt als ein Vorbild des deutschen Popromans. Doch wer hätte gedacht, dass dieser kühl kalkulierte Neorealismus, dass solche Listen des Alltäglichen mit den Wahrscheinlichkeitstheorien des 17. und 18. Jahrhunderts in Verbindung gebracht werden können?

Natascha Freundel | 06.06.2003
    Ich habe mich immer sehr dafür interessiert, wo die Fragmente unseres literarischen, literarisch-humanistischen Weltbildes und unseres naturwissenschatlichen Weltbildes aneinander hängen können, vielleicht auch aufeinander stoßen können und da war mir die Wahrscheinlichkeit der sicherste und beste Kandidat dafür...

    Tatsächlich - so zeigt Rüdiger Campe in seiner umfangreichen und detaillierten Studie - ist der moderne realistische Roman ein Kind der Wahrscheinlichkeit. Jener Wahrscheinlichkeit, die für Mathematiker ebenso wie für Rhetoriker und Literaten etwa ab 1660 mit einem Mal zum Schlüssel für die Erkundung der Wirklichkeit wurde:

    Ich denke es gibt so etwas – und das habe ich in dem Buch zu beschreiben versucht – wie ein großes Projekt, das am Ende des 17. Jahrhunderts entstanden ist und das im 17. und 18. Jahrhundert andauert und dieses Projekt ist von der Idee gekennzeichnet, dass die Wahrscheinlichkeit, die man berechnen kann, gleichzeitig die Wahrscheinlichkeit ist, die uns im Leben zur Verfügung steht, und das würde heute sicherlich kein Mathematiker mehr sagen, das hat sicherlich schon Mitte des 19. Jahrhunderts kein Mathematiker mehr so gesagt, aber das ist glaube ich die innerste Überzeugung, man könnte fast sagen, das ist so etwas wie eine andere Definition für Aufklärung.

    Es ist der Ausgang des Menschen aus der Unberechenbarkeit seines Daseins, dem Campe bis in die letzten Winkel des Denkens um 1700 nachspürt. So akribisch er im ersten Teil seines Buchs die Verwandlung der mathematischen Spieltheorie in eine Theorie der Wahrscheinlichkeit untersucht, so subtil verfolgt er im zweiten Teil die Spuren von Statistiken und Tabellen in den frühen realistischen Romanen, von Daniel Defoes "Robinson Crusoe" über Wielands "Agathon" bis hin zu Kleists Anekdote der "Unwahrscheinlichen Wahrhaftigkeiten".

    Entscheidend für Campes archäologische Erkundungen ist die innige Liaison mathematisch-logischer und literarisch-ästhetischer Entwicklungen der Zeit von 1660 bis 1800. Was wir heute fein säuberlich in Natur- und Geisteswissenschaften unterscheiden, das bildete einst – so Campe – nah beieinander gelegene Schauplätze einer "Revolution": Aus der antiken Frage nach der Wahrheit wurde die moderne Frage nach der Wirklichkeit und dem, was in ihr wahrscheinlich, also möglich ist. Minutiös zeigt Campe in eingehenden Analysen der Spieltheorien von Pascal, Huygens, Bernoulli und Leibniz, wie ein aufkeimendes Interesse für die Gesetze des Glücksspiels den Anstoß gab für die mathematische Kolonisierung des – ursprünglich göttlichen – Zufalls. Parallel dazu entstehen Romane, die sich den neuen, statistischen Blick zu eigen machen und die mathematischen Wahrscheinlichkeitsmodelle dazu nutzen, den literarischen Schein der Wahrheit zu etablieren. Die "Insel Felsenburg" von Johann Gottfried Schnabel aus der Mitte des 18. Jahrhunderts etwa ist gespickt mit Geburtenstatistiken und Auflistungen der Viehzucht auf jener utopischen Insel. Wahrscheinlichkeit stiftet hier eine ganz neue Ästhetik jenseits der bis dahin verbreiteten, nur an formalen Fragen orientierten Poetiken. Es ist das Vexierbild von Fiktionalität und Faktizität, das fortan alles Nachdenken über Literatur bestimmen wird.

    In der Tat können wir also sehen, dass im Laufe des 18. Jahrhunderts mit dem Roman eine ganz neue Art der Befragung von Literatur entsteht, die wir im Großen und Ganzen in der Tat als die Entstehung einer möglichen Theorie des Romans fassen können und wir können vielleicht grosso modo sagen, dass unsere ganze Vorstellung von dem, was Literatur ist, seit dem 19. Jahrhundert ja ganz eng um den Roman, um die Theorie des Romans gruppiert ist. Und in diesem neuen theoretischen Anlauf, um sich überhaupt über Literatur zu verständigen, spielt nun die Frage, wie sich Literatur überhaupt auf so etwas wie Wirklichkeit beziehen kann, zum ersten Mal die fundamentale und überhaupt das literarische Phänomen begründende Rolle. Und ich glaube genau in diesem Zusammenhang kommt die Frage der Statistik ins Spiel, die Statistik und eine Vorstellung von Wirklichkeit und Wahrscheinlichkeit, die über die Statistik vermittelt ist, wird sozusagen so etwas wie ein Referenzpunkt für literarische Darstellungen und in diesem Sinn glaube ich, dass die moderne Frage nach der Fiktionalität, wenn man es so zuspitzen möchte, tatsächlich erst mit einer solchen Konstruktion von Wirklichkeit durch Wahrscheinlichkeit, durch eine letzten Endes statistisch vermittelbare Wirklichkeit überhaupt erst zu Stande kommt, und überhaupt als Frage erst formulierbar ist.