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Spiel mit der christlichen Ikonografie

"The Testament of Mary" beruht auf dem gleichnamigen Roman des irischen Autors Colm Tóibín, in dessen Zentrum die Gottesmutter Maria steht. Das Publikum zeigte sich bei der Premiere am Broadway begeistert von der Britin Fiona Shaw, die in der Hauptrolle des Solostücks glänzt.

Von Andreas Robertz | 23.04.2013
    Bevor die Vorstellung beginnt, kann das Publikum auf die Bühne gehen und die Requisiten wie bei einer archäologischen Ausstellung betrachten. Krüge und Gewänder, ein altes Rad aus Holz mit einem lebenden Geier darauf, Körbe und Stacheldraht, rostige lange Nägel und ein tief in den Bühnenboden eingelassenes altes Grab. In der Mitte sitzt in einem Kubus aus schwarzer Gaze Fiona Shaw als Madonna in traditionellem blass-blauen Gewand. Der kurze Moment vor Vorstellungsbeginn, in dem man die Menschen in einer Reihe auf die Bühne und wieder zurück zu ihren Sitzen prozessieren sieht, wirkt selbst wie ein religiöses Ritual. Überhaupt durchzieht das Spiel mit der christlichen Ikonografie die ganze Inszenierung, bis hin zum riesigen Plakat an der Fassade des Walther Kerr Theaters in Manhattans Theater District, auf dem Fiona Shaws Antlitz als Maria in Sepiafarben zu sehen ist, mit einer Dornenkrone über ihrem Mund.

    Maria, die Mutter Jesu, ist eine der Figuren im Neuen Testament, über die wir so gut wie gar nichts wissen. Außer in den sehr spät datierten Texten über die Empfängnis Mariens und in der Weihnachtsgeschichte sagt das Neue Testament eigentlich nichts über sie; und nur im Lukasevangelium ist sie bei der Kreuzigung Jesu anwesend. Doch als neutrale, still leidende, jungfräuliche Mutter Gottes wurde sie im Katholizismus zu einem der wichtigsten Symbole christlicher Frömmigkeit und Subjekt mehrerer Glaubensdogmen. Dazu Fiona Shaw:

    "Sie war eine Nebenfigur, sehr passiv, milchig. Warum sollte sie nicht Mutter und liebende Ehefrau gewesen sein wie jede andere? Es war die Kirche, die die Kraft des Weiblichen neutralisiert hat."

    Die Handlung setzt ein paar Jahre nach der Kreuzigung ein. Maria ist bei Jüngern ihres Sohnes in Ephesos untergetaucht und wird mit der von der jungen Christen-Gemeinde gefärbten Darstellung der Ereignisse konfrontiert. Doch sie hat eine andere Geschichte zu erzählen, die Geschichte einer Mutter, die den Umgang ihres Sohnes nicht schätzte, die nicht verstehen kann, wie alles so enden konnte und die über den Tod ihres Jungen nicht hinwegkommen kann. Dabei war es vor allem sein schlechter Umgang, der ihn ihrer Meinung nach verdarb.

    "Mein Sohn sammelte diese Außenseiter, obwohl er selbst, trotz allem, keiner war. Er hätte alles tun können. Er hätte sogar still sein können, ja, diese Qualität hatte er auch."

    Sie erzählt von der Hochzeit zu Kanaa und der Auferweckung des Lazarus, einer aus ihrer Sicht völlig unbedachten Tat, mit der Jesus sein Todesurteil unterschrieb und die Lazarus nichts als ein zombiehaftes Dahinsiechen bescherte. Zusammen mit dessen Schwestern Maria und Martha eilt sie nach Jerusalem, um ihren Sohn ein letztes Mal zu warnen. Aber sie kommt zu spät und muss die unerträglichen Leiden ihres Sohnes miterleben. Fiona Shaws ernste Eindringlichkeit brennt sich wie ein glühendes Folterwerkzeug in das Bewusstsein. Zitternd und wie in Trance erzählt sie dann die Geschichte der Passion an einen Baumstamm geklammert. Vor lauter Angst, selbst in römische Gefangenschaft zu geraten, verlässt sie den am Kreuz Sterbenden und bringt sich in Sicherheit. Sie eilt zu einem Wasserbecken auf der Bühne, reißt sich voller Scham die Kleider vom Leib und versucht ihr Schuldgefühl wie Schmutz von der Haut zu schrubben, dann lässt sie sich ganz in das Loch gleiten und verschwindet völlig. Prustend taucht sie nach langen Sekunden wieder auf. Die Reinigung hat nicht geholfen. Shaws Darstellung ist eine "tour de force", ein unberechenbares Gewitter, das jederzeit umschlagen kann. Am Ende starrt sie wütend, verletzt und unerträglich hilflos ins Publikum. "Sie sagen, er habe die Welt erlöst. Es war es nicht wert."

    Fiona Shaw und Regisseurin Deborah Warner ist es gelungen, eine große weibliche Theaterfigur zum Leben zu erwecken und damit für das Theater ein Material zu erschließen, das sicher noch an vielen Bühnen zu sehen sein wird. Das Publikum in New York jedenfalls bedankt sich mit ungewöhnlich langem, frenetischen Applaus, wie man ihn sonst nur aus der Oper kennt. Aus der Mutter Gottes ist wieder ein Mensch geworden.