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Spielzeitauftakt am Thalia Theater in Hamburg

100 Jahre alt ist das Hamburger Thalia-Theater. Die neue Spielzeit begann mit Anton Tschechows Erstling "Platonow", etwas entwurflos inszeniert von Jan Bosse, und in der Thalia-Dependance in Altona setzte Luk Perceval die Lesebeschäftigung mit Navid Kermanis Buch "Dein Name" fort - und das umso fantasievoller.

Von Michael Laages | 02.09.2012
    Und wieder einmal schwingt sich ein Bild auf, ein Bühnen-Bild, zur zentralen Idee einer Inszenierung – keinen Salon hat Stephane Laimé entworfen für das große Eröffnungspalaver bei Tisch, bei Tee und Torte für das komplette Personal in Anton Tschechows dramatischem Debüt, auch kein komplettes Gutshaus mit Garten und Veranda und viel mehr realistischem Detail, wie es zuletzt in der Wiener "Platonow"-Fassung des Letten Alvis Hermanis auch beim "Theatertreffen" in Berlin zu sehen war – nein: Laimé zwingt das alles in ein Wohn-Mobil; und das ist gegen Ende des ersten Aktes (wenn alle selig und im heraufziehenden Vollsuff zu singen beginnen) naturgemäß knüppeldicke voll, platzt schier aus den Nähten. Das Bild suggeriert Enge und Zwang – die Gesellschaft bei der verarmten Generalswitwe Anna Petrowna muss halt atemlos schwadronieren, schon um die Leere zu füllen: mit sich selbst und Palaver Gott und die Welt ...

    Der Titelheld kommt - wie immer - ein bisschen zu spät, aber schon im Voraus schweifen und schwelgen die Gedanken ab zum Lehrer im Dorf ...

    Diese Antwort ist natürlich in fast jeder Inszenierung eine Art Wegweiser – denn diese wirklich rätselhafte Figur weiß nicht nur nicht wirklich, wohin mit sich und speziell mit den eigenen Gefühlen, sondern er reißt auch noch viele mit in den Abgrund: die eigene, treue und treu sorgende Gattin, die sich vergiften will angesichts seiner Flatterhaftigkeit; eine Freundin von früher, die mit ihm fliehen will aus der Enge der Provinz, die Generalswitwe selber natürlich auch, sowie deren frischgebackene Schwiegertochter, die für diesen magischen Mann Platonow alles aufgeben will. Noch einmal: Wer ist Platonow? Er gibt sich selber die Antwort ...

    Bevor sie ihn weiter die eigene Umwelt zerstören lässt, schießt Generalins Schwiegertochter auf Platonow – da aber ist die Bühne schon geräumt, das Wohnmobil hat all seine Funktionen erfüllt, und so leer und bilderlos fällt auch das Finale aus; keinen Gedanken mehr gönnt Bosse den Figuren, nur noch verlorene, verlassene Auftritte im leeren Raum. Und deutlicher denn je in vier Stunden zuvor wird sichtbar, dass die Inszenierung keinen wirklichen Entwurf hatte, keinen grundsätzlichen Gedanken für dieses so wortreich und unablässig vor sich mäandernde Stück.

    Unübersehbar wird im leeren Raum dann auch, wie sehr der Abend an Jens Harzer hing, dem neuen Platonow – und der ist nun zwar unstreitig Meister in der Kunst, möglichst belanglos auf der Bühne zu stehen und, wenn's geht, auch wenig bis gar nichts zu spielen, er passt also insofern ganz gut zum eigentlich bewegungslosen Platonow; doch imaginiert dieses sehr spezielle Theaterwesen zu wenig von jener Magie herbei, die die Frauen fliegen lässt auf das Phantom, das Platonow heißt.

    Kein wirklich grandioser Abend also, wenn der erste Charme und Zauber des Wohnmobils verfliegt – da hatte Luk Perceval dem anderen Teil des Thalia-Ensembles zuzüglich einiger Gäste vom Schauspielhaus tags zuvor eine mutigeres Abenteuer verordnet: sich aus Navid Kermanis monumentalem Roman "Dein Name" je ein Stück oder eine Assoziation heraus zu picken und einen Ort dafür zu suchen in den technischen Arbeitsbereichen des Theaters. Stuhllager oder Requisite sind da zu Räumen der Fantasie geworden – und ein wenig jener Fantasie, die sich aus dem Nichts erfindet, wäre auch dem Rest der Eröffnung zu wünschen gewesen.