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Spitzel ist nicht gleich Spitzel

Der Fall Karl-Heinz Kurras ließ die Öffentlichkeit aufschrecken: Der Todesschütze Benno Ohnesorgs war inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Welche Westdeutschen noch auf der Gehaltsliste der Stasi standen, ist jedoch bis heute noch nicht gänzlich geklärt.

Von Dorothea Jung | 14.08.2009
    Deutscher Bundestag, 27. April 1972: Abstimmung über das konstruktive Misstrauensvotum gegen den damaligen Bundeskanzler Willy Brandt.

    "Ich stelle fest, dass der von der Fraktion der CDU/CSU vorgeschlagene Abgeordnete Doktor Barzel die Stimmen der Mehrheit der Mitglieder des Deutschen Bundestages nicht erreicht hat; der Antrag der Fraktion der CDU/CSU …"

    Der Antrag der CDU/CSU-Fraktion, Willy Brandt das Misstrauen auszusprechen und stattdessen ihren Fraktions-Chef Rainer Barzel zu wählen, scheiterte knapp. Zwei CSU-Abgeordnete hatten sich bestechen lassen. Bereits 1973 hatte Volksvertreter Julius Steiner das zugegeben. Leo Wagner, der zweite Abtrünnige, wurde hingegen erst im Jahr 2000 enttarnt. Da kam auch ans Licht, dass die Stasi jedem 50.000 D-Mark Schmiergeld gezahlt hatte. Nach Auskunft des Historikers Georg Herbstritt wollte die DDR-Regierung direkt Einfluss nehmen auf die Politik der Bundesrepublik.

    "Und zwar ist kurz, nachdem das passiert ist, Erich Honecker zum Staatsbesuch nach Rumänien gefahren, im Mai 1972. Da hat er dem dortigen Kollegen Nicolai Ceausescu erzählt, was sie alles Tolles gemacht haben. Da sagt Honecker: Und am Ende ist es so gekommen, dass wir die besten Stützen der Regierung Brandt geworden sind, weil wir daran Interesse hatten, dass sie im Amt bleibt."

    Georg Herbstritt, der als wissenschaftlicher Mitarbeiter in der Berliner Stasiunterlagenbehörde arbeitet, hat das im offiziellen Protokoll dieses Staatsbesuches gelesen. Nicht jedoch in den Archiven des Ministeriums für Staatssicherheit, MfS. Denn die Aktenlage über Bundesbürger, die für die Stasi Spitzeldienste leisteten, ist dort äußerst dürftig. Denn Markus Wolf, Chef des Auslands-Geheimdienstes der DDR, hatte eine "Aktion Reißwolf" verfügt. Seine Abteilung, die Hauptverwaltung Aufklärung, kurz HVA, soll es damals geschafft haben, innerhalb weniger Wochen mehr als 100 Lkw-Ladungen voll geheimer Dokumente zu beseitigen.

    "Über 90 Prozent der Akten über die Westarbeit der Stasi sind überhaupt nicht vorhanden. Sie sind vernichtet worden, bevor die Behörde anfing zu arbeiten","

    versichert Joachim Gauck, der erste Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes. Seit 1993 wusste seine Behörde jedoch, dass Karteikarten erhalten geblieben waren. Die HVA hatte sie angelegt, um im Archiv des MfS bestimmte Vorgänge leichter finden zu können. Die Karten enthielten Namen und persönliche Daten von Menschen, die in irgendeiner Form mit Westspionage in Zusammenhang standen.

    Außerdem existierten noch Statistikbögen sowie eine Kartei mit Registriernummern zu geheimdienstlichen Vorgängen. In den Wirren der Wendezeit war das Material - auf Mikrofilm kopiert - dem CIA angeboten worden. Irgendwann im Verlauf ihrer verwickelten Geschichte erhielten diese Filme den Namen Rosenholz. "Natürlich wussten die Amerikaner, dass Rosenholz auch für die Bundesanwaltschaft attraktiv war", erinnert sich Joachim Gauck.

    ""Die Amerikaner hatten jetzt Informationen über Straftäter, deutsche Staatsbürger, und standen vor der Frage: Wollen wir die decken? Und da hat man gesagt: Wir sind mit den Deutschen verbündet, und da haben sie sich entschlossen, das erst mal herzugeben."

    Besonders entgegenkommend zeigten sich die Amerikaner dabei jedoch nicht. Deutsche Ermittler durften beim CIA bloß einen Teil der Mikrofilme einsehen, und sie durften auch lediglich Abschriften machen. Dennoch: Bis zum Ende der 90er-Jahre leitete die Bundesanwaltschaft gegen mehr als 3000 mutmaßliche westdeutsche DDR-Agenten Ermittlungsverfahren ein. Fast 400 sogenannte West-IMs wurden schließlich verurteilt. Allerdings hat sich nach Meinung von Joachim Gauck die westdeutsche Öffentlichkeit für dieses Kapitel deutsch-deutscher Geschichte damals nur wenig interessiert.

    "Das lief so: Wenn in Düsseldorf jemand vor Gericht stand, dann ging der Gerichtsreporter hin. Dann erschien auf Seite sechs in den Medien der Bericht aus dem Gericht. Und man hat also gerne gesehen, dass über die Ost-IMs in den Headlines verhandelt wurde und auf den ersten Seiten und hat es hingenommen, dass über die West-IMs auf den hinteren Seiten der Zeitung berichtet wurde."

    Das sollte sich ändern. Nach langem politischen Hickhack zwischen Berlin und Washington hatten sich die USA im Jahr 2000 zuletzt doch zur Rückgabe der vollständigen Rosenholz-Unterlagen durchgerungen. Drei Jahre später gab auch das Bundeskanzleramt die meisten Datensätze frei. Jetzt durfte Rosenholz von der Stasiunterlagenbehörde erschlossen werden. Und nun entsann sich die Öffentlichkeit plötzlich an das Misstrauensvotum gegen Willy Brand. Jetzt tauchten Fragen auf, die lange kaum jemand gestellt hatte.

    In welchen westdeutschen Parlamenten saßen Stasi-Spitzel als Abgeordnete?

    In welchen Parteien, politischen Gruppen und Organisationen war die Staatssicherheit vertreten?

    Welchen Einfluss übten westdeutsche Stasi-Spitzel auf die Entwicklung der Bundesrepublik aus?


    Fragen, die Helmut Müller-Enbergs von der Forschungsabteilung der Birthlerbehörde allerdings nicht umstandslos beantworten konnte. Er hatte nämlich zunächst zu klären, wie die Rosenholz-Datei überhaupt zu lesen ist. Ließen sich diese Daten mit anderen Unterlagen abgleichen - zum Beispiel mit der sogenannten SIRA-Datei, einer Art Posteingangsbuch der HVA, mit dem sich ein Leistungsprofil von Agenten erstellen ließe?

    Der Wissenschaftler machte sich daran, erst einmal so etwas wie eine Gebrauchsanweisung für Rosenholz zu erarbeiten. "Eine komplizierte Angelegenheit", urteilt sein Teamkollege Georg Herbstritt.

    "Mein Kollege Müller-Enbergs hatte festgestellt, dass auf vielen Karteikarten die Abkürzung IMA benutzt wird, das heißt: IM mit Arbeitsakte. Laut Definition der HVA konnten solche Akten angelegt werden für IM, aber auch für Kontaktpersonen, die nur abgeschöpft wurden, ohne dass sie wussten, dass der direkte, der indirekte Ansprechpartner an die Stasi berichtete."

    Die Bedeutung der Abkürzung IMA erschloss sich den Wissenschaftlern der Birthlerbehörde aber nicht sofort. Sie brauchten Vergleichsdaten, um die Rosenholz-Kürzel zu enträtseln. Wegen der Vorgänge beim Misstrauensvotum gegen Willy Brand wusste Forscher Müller-Enbergs bereits, dass von 1969 bis 1972 Stasi-Spitzel im Bundestag gesessen hatten.

    Er begann also seine Recherche, indem er nach Namen der damaligen Parlamentarier suchte. "Im Jahr 2005 konnte er der Bundesbeauftragten für die Stasiunterlagen erste Ergebnisse vorlegen", berichtet Toralf Staud, MfS-Spezialist der Wochenzeitschrift "Die Zeit".

    "Müller-Enbergs hat dann herausgefunden, dass über 40 Bundestagsabgeordnete dieses sechsten Bundestages als IMA verzeichnet waren auf den Rosenholz-Karteikarten. Und als er dann losging zu seiner Behördenspitze und sagte, guckt mal, das hab ich herausgefunden, ich finde, dem sollten wir mal nachgehen. Just nachdem Müller-Enbergs mit dieser Nachricht zur Behördenspitze gegangen war, wurden ihm die Zugriffsrechte auf Rosenholz abgeknipst, und er musste sehr schnell seinen Abschlussbericht schreiben."

    Marianne Birthler begründete seinerzeit den Abzug der Forscher vom Thema Rosenholz mit "dringlicheren Aufgaben in der wissenschaftlichen Abteilung" ihrer Behörde. "Zeit"-Journalist Staud jedoch ist überzeugt: Die Behördenchefin hat die Aufklärung über West-IMs unterdrückt, um im Deutschen Bundestag niemandem weh zu tun.

    Die Medienaufregung war immens. Waren die in der Rosenholz-Datei verzeichneten Bundestagsabgeordneten denn nun inoffizielle Mitarbeiter des MfS oder nicht? Warum durften die Wissenschaftler das nicht zügig klären? Stimmte es, dass dringlichere Aufgaben für Forscher Müller-Enbergs anstanden? Marianne Birthlers Antwort:

    "Solange in der Öffentlichkeit der Eindruck entsteht, IMA ist so was wie IM, was ja nicht stimmt, solange müssen wir damit rechnen, dass, wenn das über eine Person veröffentlicht wird, derjenige in seinen Persönlichkeitsrechten beeinträchtigt wird."

    Hintergrund: Altkanzler Helmut Kohl hatte 2002 gerichtlich durchgesetzt, dass die Hürden zur Herausgabe von Stasi-Unterlagen auch für Personen der Zeitgeschichte deutlich erhöht wurden. Klaus Schroeder vom Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin ist sicher: Dieses sogenannte Kohl-Urteil ist der Grund, warum die Bundesbeauftragte für die Unterlagen des Staatssicherheitsdienstes, kurz: BSTU, 2005 ihr Rosenholz-Team ausgebremst hat.

    "Hier hat anscheinend die BSTU Angst, dass sie Gegenstand von Gerichtsverhandlungen wird, dass sie unzulässigerweise Dinge herausgibt. Das dürfte mit ein Motiv sein, sich sehr vorsichtig - um nicht zu sagen restriktiv - zu verhalten."

    Die Aufregung über den Umgang der Behörde mit den West-Agenten hat dann auch den Beirat der Behörde beschäftigt. Markus Meckel, einst Bürgerrechtler und heute SPD-Bundestagsabgeordneter, gehört dem Beirat seit 2004 an. Für ihn ist es unstrittig, dass Marianne Birthler die Rosenholz-Forschung gebremst hat.

    "Dass dies dann nicht intensiv fortgesetzt worden ist, finde ich nach wie vor politisch hoch problematisch. Es hat dazu Diskussionen auch gegeben. Aber klar ist: Solche Entscheidungen kann alleine die Behördenchefin, das heißt die Beauftragte oder der Beauftragte, fällen."

    Markus Meckel weiß allerdings nichts darüber, ob die BSTU von der Bundesregierung oder von Abgeordneten unter Druck gesetzt wurde. Seiner Meinung nach steht Marianne Birthler aber zweifelsfrei unter Druck.

    "Einerseits steht sie unter Druck, dass man ihr ständig politische Motive unterstellt, was, wie ich glaube, nicht der Fall ist und nicht der Fall sein darf. Das Zweite ist, dass alle Entscheidungen nur von der Beauftragten selbst getroffen werden können und es keine Gremienentscheidungen gibt. Ich halte das langfristig und schon mittelfristig für ein Problem, und ich denke, das muss man ändern."

    So hat die Kritik am Umgang mit Rosenholz Demokratiedefizite der Behörde selbst offenbart. Die Erkenntnis führte dazu, dass in der BSTU auch ein wissenschaftlicher Beirat eingerichtet wurde. Schließlich setzten die Forscher der Behörde ihre Untersuchungen über Bundesbürger im Dienst der Staatssicherheit wieder intensiver fort.

    "Wir wissen, dass die Stasi in fast jedem Deutschen Bundestag mit einem Agenten vertreten war","

    resümiert Georg Herbstritt von der Forschungsabteilung der Birthlerbehörde seine Arbeit. So gut wie zweifelsfrei kann der Historiker für alle Legislaturperioden insgesamt zwölf Abgeordnete nennen, die für Markus Wolf gearbeitet haben. Tatsächlich dürften es mehr sein, vermutet der Wissenschaftler. Herbstritt zufolge waren für das MfS Fraktionsmitarbeiter und Sekretärinnen aber interessanter. Denn die konnten nicht abgewählt werden und hatten meist mehr Zeit.

    ""Wenn ich jetzt frage, wie hat die Stasi auf den Deutschen Bundestag eingewirkt, dann darf ich mich nicht nur auf die Abgeordneten konzentrieren, sondern muss im Prinzip auch die Mitarbeiter der Bundestagsfraktionen mit in den Blick nehmen. Erst dann ergibt sich ein Gesamtbild. Was die Stasi sicher nie versucht hat und auch nicht geschafft hat, war jetzt irgendwie, die Mehrheitsverhältnisse im Bundestag so zu ändern, dass sie eine Stasi-Fraktion gestellt hätte."

    2007 wiesen die Fraktionen der CDU/CSU und der SPD einen Vorschlag des Ältestenrates ab, die Bundestagsabgeordneten aller Legislaturperioden vor 1990 auf Stasi-Mitarbeit zu überprüfen. "Mit der Ablehnung dieses Vorhabens war die FDP nicht zufrieden", bekennt der liberale Abgeordnete Carl-Ludwig Thiele. Deswegen hätten die Freien Demokraten einen eigenen Antrag auf den Weg gebracht.

    "Denn es ist unsäglich aus meiner Sicht, dass wir 20 Jahre nach dem Fall der Mauer immer noch nicht wissen, wie zum Beispiel die Stasi durch gezielte Desinformation, durch gezielte Wege versucht hat, und nicht nur versucht hat, innenpolitisch Einfluss zu schaffen in der Bundesrepublik Deutschland, sondern wie dieses der Stasi eben auch gelungen ist."

    Der FDP-Antrag, Bundestag und Bundesbehörden rückwirkend für alle Legislaturperioden auf Stasi-Verstrickungen überprüfen zu lassen, wurde jedoch im Mai dieses Jahres von der Parlamentsmehrheit abgelehnt. Christdemokratin Monika Grütters, die im Bundestagsausschuss für Kultur und Medien mit der Birthlerbehörde befasst ist, versichert, der FDP-Antrag sei allein aus rechtlichen Gründen nicht abstimmungsfähig gewesen.

    "Doch, natürlich gibt es den Willen zur Aufklärung, eine große Neugier und natürlich auch eine selbstkritische Haltung dazu. Aber diesem Antrag fehlte die juristische gesetzliche Grundlage für diese rückwirkende Überprüfung aller Bundestagsabgeordneten und vor allen Dingen: Das zielte ja auch auf die Bundesbeamten. Das wären alleine im Innenministerium 60.000 Mitarbeiter."

    Dies könne das kleine, zwölfköpfige Forschungsteam der Birthlerbehörde auf keinen Fall leisten; und außerdem sehe das neue Stasi-Unterlagengesetz eine Reihenüberprüfung von Mandatsträgern und Ministerialbeamten nicht vor. FDP-Mann Carl Ludwig Thiele kann darüber nur den Kopf schütteln.

    "Wer hat denn da etwas zu verbergen? Das geht doch nicht um Fehlverhalten der damals handelnden Personen in politischen Führungspositionen. Das ist doch überhaupt nicht der Punkt. Sondern es ist der Punkt, wie hier im Detail mit Desinformation politische Entscheidungsvorgänge beeinflusst wurden, und das ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe, die gelöst werden muss, um hier eben wirklich zu wissen: Was ist gelaufen."

    Vielleicht wäre der FDP-Antrag nahezu unbemerkt von Medien und Öffentlichkeit in der Routine des parlamentarischen Alltags irgendwie untergegangen, wenn nicht just zu diesem Zeitpunkt eine andere Stasi-Meldung Aufsehen erregt hätte: Karl-Heinz Kurras, der Todesschütze Benno Ohnesorgs, war inoffizieller Mitarbeiter des Staatssicherheitsdienstes der DDR. Polizist Kurras war am 2. Juni 1967 im Einsatz, als Studenten in Berlin gegen den Schah-Besuch demonstrierten. Seine Einheit bei der Berliner Polizei war die Abteilung eins, wo alle Fäden zu Themen wie Spionage und Verfassungsschutz zusammenliefen.

    Karl-Heinz Kurras war für die Staatssicherheit ein Top-Agent, sagt Helmut Müller Enbergs, der in der Forschungsabteilung der Birthlerbehörde arbeitet.

    "Er hat aus seinem Arbeitsbereich der Polizei sehr umfassend berichtet über Personenstrukturen, Dienstvorschriften und dergleichen. Kenntnisse über Landes- und Verfassungsschutz, über die Nachrichtendienste der Alliierten und so weiter. Eine Kenntnislage, die nur wenige hatten, und das in dem Nadelöhr der Frontstadt West-Berlin, wo alle Dienste bei der Abteilung eins der Kripo anklopfen mussten, um an Informationen zu gelangen."

    Nicht nur diese Erkenntnis sorgte für mediale Aufregung, sondern auch die Tatsache, dass Kurras' Akte in der Birthlerbehörde erst jetzt gefunden wurde; und überdies offenbar eher zufällig. Außerdem hatten bestimmte Medien zeitiger Kenntnis davon als die Behördenchefin.

    Helmut Müller Enbergs aus der Forschungsabteilung hatte einen Text über den Fall Kurras für das Deutschlandarchiv verfasst und von dort gelangte er schneller zum ZDF und zur Faz, als auf den Schreibtisch seiner Chefin. Erneut kamen Fragen auf, ob sich die BSTU genügend um die Erforschung der West-IM gekümmert hat - und ob Marianne Birthler ihre Behörde noch im Griff hat. Dass der Text von Behördenforscher Helmut Müller-Enbergs dem Deutschlandarchiv, der FAZ und dem ZDF eher bekannt waren als ihr selbst, hat Marianne Birthler geärgert.

    "Weil das nicht der Stil unseres Hauses ist. Ich empfinde das auch als eine ziemliche Ungerechtigkeit gegenüber anderen Medien, wenn zu so einem wichtigen Sachverhalt einzelne Medien bevorzugt versorgt werden - und andere das Nachsehen haben."

    Dieser Vorgang müsse noch untersucht werden, räumte die Stasiunterlagenbeauftragte ein. Energisch wies die sie aber den Vorwurf zurück, am Fall Kurras lasse sich zeigen, wie blind die BSTU für das Thema der West-IMs sei.

    "Wir konzentrieren uns in unserer Arbeit natürlich vorwiegend auf die Forschungsprojekte, für die man den internen Aktenzugang braucht, also die für externe Wissenschaftler nicht zugänglich sind. Aber die Frage, wer IM war, das können Sie beantragen, das kann jeder Wissenschaftlicher beantragen. Es gibt nämlich überhaupt kein Recherchehindernis."

    Für Klaus Schroeder von Forschungsverbund SED-Staat an der FU Berlin zeigt der Fall Kurras zweierlei: Zum Einen, dass die Birthler-Behörde mit der Erschließung der Stasi-Akten nicht so schnell vorankommt wie es zur Aufklärung des Themas West-Agenten nötig wäre. Der Wissenschaftler plädiert dafür, die Stasi-Unterlagen nach Ablauf von Marianne Birthlers Amtszeit bereits 2011 ins Bundesarchiv zu überführen. Dort stehe mehr Personal zu ihrer Erschließung zur Verfügung. Man müsse nur mit einem Gesetz dafür sorgen, dass die Opfer der Stasi nach wie vor in ungeschwärzte Akten einsehen können. Zum Zweiten mache der Fall Kurras deutlich, wie umfassend MfS und SED im Westen Einfluss gewinnen wollten.

    "Es ging ja anfangs darum, einen Umsturz vielleicht vorzubereiten, Institutionen, Parteien, Verbände zu unterwandern. Später ging es darum, die Anerkennung der DDR vorzubereiten. Letztlich hat es ihr nichts genützt, weil die DDR ja untergegangen ist, aber das Interessante ist, einmal einzuordnen, in welchen Zeitabschnitten und in welchen Bereichen der Einfluss von SED und Stasi auf die westdeutsche Politik doch immens war."

    Bislang sind die Forscher der Birthlerbehörde auf rund 12.000 Bundesbürger gestoßen, die im Dienst der Staatssicherheit standen. Die Frage, warum weder der Bundestag, noch die Parteien, weder Kirchen noch Wirtschaftsorganisationen im Westen es für nötig erachtet haben, zu diesem Thema Forschungsaufträge zu erteilen, ist bislang unbeantwortet. Einzig die ARD ließ eine Studie anfertigen. Und jetzt, nach dem Fall Kurras, hat die Berliner Senatsverwaltung für Inneres den Forschungsverbund SED-Staat gebeten, den Einfluss von SED und Staatssicherheit auf die Westberliner Polizei zu untersuchen. Die Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen hat den Wissenschaftlern der Freien Universität ihre Unterstützung zugesagt.