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Sport und Missbrauch in Südkorea
"Viele denken, das sei der Preis für den Erfolg"

Südkoreas Sportlerinnen und Sportlern ist Widerspruch eigentlich fremd. Doch in diesen Tagen ist das anders. Die Ergebnisse eines Berichts zu sexuellem Missbrauch und Gewalt im Sportsystem des Landes schockieren. Kritiker werfen die Frage auf, welchen Preis die Medaillenerfolge fordern.

Von Felix Lill | 01.12.2019
Südkoeranische Shorttrack-Läuferinnen
Berichte südkoreanischer Shorttrack-Läuferinnen über Prügel und Missbrauch brachten die Untersuchungen ins Rollen (imago sportfotodienst)
Knapp 15 Prozent aller Eliteathletinnen und -athleten des Landes haben im Sportsystem des Landes Gewalt oder sexuellen Missbrauch erfahren. Das ist das Ergebnis eines Berichts, den Südkoreas Nationale Menschenrechtskommission gerade veröffentlicht hat. Die Untersuchung legt weitverbreiteten Missbrauch im Nachwuchsfördersystem des Landes offen.
"Am schockierendsten war für uns, dass vielen der Kinder und Jugendlichen das Bewusstsein dafür fehlte, dass ihnen Unrecht geschehen ist. Viele denken, das sei etwas, wo sie durchmüssten, der Preis für den Erfolg. Auch ein Drittel der Eltern fand, dass Gewalt nicht immer zu vermeiden sei."
Sagt Kim Hyunsue, der die Untersuchung für die Nationale Menschenrechtskommission geleitet hat. Es handelt sich um die größte Befragung in der Geschichte des koreanischen Sports - vielleicht der ganzen Welt. Denn alle 63.211 Leistungssportlerinnen und -Sportler des Landes haben zuerst einen Fragebogen ausgefüllt und dann in Einzelinterviews weitere Informationen gegeben.
Short-Trackerin beschuldigte ihren Trainer der Vergewaltigung
Anlass für die Untersuchung: die Olympischen Winterspielen 2018 in Pyeongchang. Monate nachdem die Eisschnellläuferin Shim Sukhee vor heimischem Publikum zweimal Gold gewonnen hatte, beschuldigte Shim ihren Trainer, sie vergewaltigt zu haben. Der war zu diesem Zeitpunkt bereits zu einer Gefängnisstrafe verurteilt, weil er Shim und andere Athletinnen körperlich verletzt hatte. Weitere Athletinnen anderer Sportarten zogen bald nach, berichteten von Misshandlungen innerhalb des Systems.
Kim Hyunsue von der Nationalen Menschenrechtskommission Südkoreas.
Kim Hyunsue von der Nationalen Menschenrechtskommission Südkoreas: "Ein Drittel der Eltern fand, dass Gewalt nicht immer zu vermeiden sei.“ (Felix Lill)
Der Bericht der Menschenrechtskommission, so sagt Kim Hyunsue, zeigt nun: "Missbrauch ist wesentlich häufiger, als es von offizieller Seite bisher vermutet wurde. Die Mehrzahl der Missbrauchsfälle betreffen körperliche Gewalt, aber auch sexuelle Vergehen kommen vermehrt vor. Vier Prozent aller Nachwuchssportler waren schon von sexuellen Vergehen betroffen, Mädchen etwas häufiger als Jungen. Zählt man körperliche Gewalt mit dazu, sind Jungen häufiger betroffen. Bei Mädchen sind in der Regel die Trainer Täter, meist während, vor oder nach dem Training. Bei Jungen sind es eher ältere andere Jungen, und die Vergehen finden meistens auf den Internatszimmern statt."
Kim vermutet allerdings, dass das wahre Vorkommen von Gewalt- und Sexualvergehen deutlich höher liegt. Viele Kinder und Jugendliche seien mit den Antworten wohl vorsichtig, auch weil sie einiges von dem, was ihnen zustoße, verdrängen oder gar nicht als Gewalt- oder Sexualtat begreifen.
Mehr als ein Systemversagen?
In Deutschland lieferte eine Studie vor drei Jahren erstmals Zahlen zum Ausmaß sexualisierter Gewalt im Leistungssport. Ergebnis: Ein Drittel aller Befragten haben Erfahrungen gemacht mit sexualisierter Gewalt von sexistischen Sprüchen, Grapschen bis hin zu Vergewaltigung.
Die laut der koreanischen Umfrage am häufigsten betroffenen Sportarten sind Fußball, Baseball und die Nationalsportart Taekwondo. Relativ zur Anzahl der Sportler kommt es im Badminton und dem Brettspiel Go am häufigsten zu Übergriffen. Um die 40 Prozent der Athletinnen und Athleten musste hier schon Erfahrungen machen mit Androhung von Gewalt, Körperverletzung, Grapschen oder Vergewaltigung.
Kim Dooil vom Nationalen Olympischen Komitee in Südkorea.
Kim Dooil vom Nationalen Olympischen Komitee in Südkorea (Felix Lill)
Das Thema beschäftigt die koreanische Öffentlichkeit auch deshalb sehr, weil es womöglich mehr ist als ein Systemversagen. Kim Dooil vom Nationalen Olympischen Komitee sieht das Problem auch in der Kultur des Landes.
"Wir denken zu häufig, dass wir dem Trainer, dem Vorgesetzten, immer gehorchen müssen. Das ist Teil unserer Kultur. Und dann dieser Spruch: No pain, no gain - den kennt jeder. Also denken Athleten, dass sie für den Erfolg alles tun müssen. Aber ich glaube, die Sache wird mit der Zeit besser. Heute gibt es schon mehr Bewusstsein als in der Vergangenheit. Und nach den Winterspielen von Pyeongchang haben wir im gesamten Nachwuchssystem verpflichtende Aufklärungskurse für unsere Trainer eingeführt. Für die Sportler gibt es jetzt eine unabhängige Vertrauensperson, an die sie sich immer wenden können."
"Es müsste sich viel mehr ändern"
Auch Kim Hyunsue von der Nationalen Menschenrechtskommission berichtet von diesen Neuerungen. Aber ob das genug ist, wird bezweifelt. Zum Beispiel von Na Young. Young ist Vorsitzende des Vereins SHARE, der sich für Geschlechtergleichheit einsetzt. Seit 20 Jahren beschäftigt sie sich mit Dominanzverhältnissen in der koreanischen Gesellschaft. Bezogen auf den Sport stellt sie fest:
"Es müsste sich viel mehr ändern. Kinder werden schon mit fünf bis sechs Jahren in das Elitesystem selektiert. Dort leben sie dann, treiben oft mehr als vier Stunden täglich Sport und konzentrieren sich nicht auf die Schule. Das macht sie in ihrer Karriere immer abhängiger vom Sport, je älter sie werden. Man müsste mehr auf deren schulische Bildung achten. Bei Frauen kommt hinzu, dass sie in der Öffentlichkeit immer noch sehr reduziert dargestellt werden, die Fernsehsender zeigen ständig deren Körperteile und betonen ihre Schönheit. Das hilft nicht dabei, eine Umwelt ohne Missbrauch zu schaffen."
Widerstand scheint vorprogrammiert
Die Nationale Menschenrechtskommission hält sich mit klaren Handlungsempfehlungen an die Regierung, die weitgehend für die staatlich finanzierte Nachwuchsförderung verantwortlich ist, noch zurück. Zunächst will sie detailliertere Ergebnisse der Befragungen von Eltern und Trainern abwarten. Bis dahin scheinen sich auch die bekannteren Sportlerinnen und Sportler des Landes mit klaren Äußerungen zurückzuhalten.
Kim Hyunsue von der Menschenrechtskommission sagt aber schon jetzt, dass er auf einen stärkeren Fokus auf Schulbildung drängen will. Auch würde er gern die Sportvereine intensiver fördern, die ihren Nachwuchs nicht gleich in ein Internat stecken.
Der Widerstand gegen solche Vorschläge scheint vorprogrammiert. Schließlich war das bisherige System, zumindest unter sportlichen Gesichtspunkten, ziemlich erfolgreich.