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Sportgespräch
Aussätzige im Rampenlicht

Am kommenden Freitag beginnen in Sotschi die Paralympics, die Weltspiele der Behinderten. Doch selbst in der Olympiastadt sind viele Orte nicht barrierefrei. Und nicht selten werden Menschen mit Behinderung in Russland ausgegrenzt. Können die Paralympics einen Wandel anstoßen? Darüber berichtet Ronny Blaschke in seinem Feature auf dem Sportgesprächsplatz.

Von Ronny Blaschke | 02.03.2014
    Eine Goldmedaille der Paralympics 2014 in Sotschi.
    Eine Goldmedaille der Paralympics 2014 in Sotschi. (picture alliance / dpa / Igor Russak)
    Nie zuvor haben Olympische Spiele derart politische Debatten mit sich gebracht wie die Winterspiele in Sotschi. Es ging um Menschenrechte, Umweltschäden und Korruption. Bei vielen war die Erleichterung groß, als die Spiele vor einer Woche zu Ende gingen. Doch damit ist die Präsentation von Putins Russland nicht vorbei. Kommenden Freitag beginnen in Sotschi die Paralympics, die Weltspiele der Behinderten. Das Ereignis wirft ein Licht auf die 13 Millionen Menschen, die in Russland eine Behinderung haben – und oft ausgegrenzt werden. Noch immer gibt es im Riesenreich kein landesweites Gesetz, das sich gegen die Diskriminierung von Behinderten wendet. Zwar hat der Kreml ein milliardenschweres Programm aufgelegt, um Strukturen, Vorsorge und Aufklärung zu verbessern, doch die Umsetzung ist in den Regionen sehr unterschiedlich. Selbst in Sotschi sind viele Orte nicht barrierefrei. 1980 fanden die Olympischen Sommerspiele in Moskau statt. Damals weigerte sich die Sowjetunion, auch die Paralympics zu organisieren. Nun will sich Putin als tolerant und menschenfreundlich zeigen. Erstmals werden die Paralympics im russischen Fernsehen übertragen. Können die Spiele einen gesellschaftlichen Wandel anstoßen?
    Seit Jahren setzt sich Alexander Simyonov in Sotschi für Menschen mit Behinderung ein. Vor den Paralympics wollte er Informationen sammeln. Die Bürgertreffen fanden in der dritten Etage eines Verwaltungsgebäudes statt, ein Fahrstuhl war nicht angeschlossen. Alexander Simyonov ist auf einen Rollstuhl angewiesen, er musste getragen werden. Diese und 120 Erzählungen von behinderten Menschen aus sechs russischen Städten hat Human Rights Watch in einer Studie zusammengetragen. Ihr Titel: "Barriers everywhere“, Hindernisse sind überall. Hugh Williamson ist Direktor von Human Rights Watch für die Belange in Europa und Zentralasien.
    "Wir haben mit dutzenden Menschen gesprochen, die an Grenzen stoßen. Sie können den Nahverkehr nicht nutzen und öffentliche Gebäude nicht erreichen. Es fehlen Rampen, Fahrstühle, breite Türen oder Orientierungshilfen für Menschen mit eingeschränktem Seh- oder Hörvermögen. Viele junge Leute können über Monate nicht ihre Wohnungen verlassen, ihnen fehlt die Unterstützung, sie sind von der Gesellschaft ausgeschlossen. Es sind praktische Schritte, die Russland zügig vorantreiben sollte, um internationale Verpflichtungen einzuhalten.“
    Die Vereinten Nationen haben 2006 das Ziel der Inklusion festgeschrieben, die gleichberechtigte Teilhabe von Menschen mit Behinderung. Deutschland hat diese Konvention 2009 ratifiziert, Russland 2012. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums leben 13 Millionen Russen mit einer Behinderung, neun Prozent der Bevölkerung. Wladimir Putins Regierung hat für den Zeitraum 2011 bis 2015 ein milliardenschweres Programm aufgelegt, um Gesundheitsversorgung, Bildung und Transport zu verbessern. Human Rights Watch weist darauf hin, dass die Durchführung in den Regionen sehr unterschiedlich verläuft, eine einheitliche Kontrolle gibt es nicht. Zudem erhalten Städte nur Mittel der Regierung, wenn sie Geld aus ihrem Etat beisteuern. Viele können und wollen sich das nicht leisten, sagt Hugh Williamson.
    "Eine Sektion unseres Berichts konzentriert sich auf die rückständige Wahrnehmung der Bevölkerung, die auch durch den Staat bestärkt wird. Viele geltende Gesetze für Menschen mit Behinderung stammen aus der Sowjetzeit. Es ist Tradition, behinderte Kinder oder Erwachsene aus ihren Wohnungen zu holen und in geschlossenen Heimen unterzubringen. Diese Sonderbehandlung haben viele Länder in den vergangenen Jahrzehnten aufgegeben – in Russland ist das nicht der Fall.“
    Drei Millionen Versehrte waren nach dem zweiten Weltkrieg in die Sowjetunion zurückgekehrt. Parteichef Nikita Chruschtschow wollte sie nicht mit dem Image des Siegers in Verbindung bringen. Die Kommunisten nutzten Militärparaden und Massensport für Mobilisierung und Propaganda, die vermeintlich Schwachen wurden abgeschottet. Erst unter Michail Gorbatschow durften behinderte Menschen 1987 im Fernsehen gezeigt werden. Doch auch während des Umbruchs konnte sich kein entscheidender Wandel durchsetzen. Noch immer werden Menschen mit Behinderung in drei Kategorien eingeteilt, meist im Kleinkindalter. Nach diesem 1932 eingeführten Modell wird entschieden, für welche Bildung sie geeignet sind. Und vor allem: welche Arbeit sie später verrichten können. Viele behinderte Jugendliche werden mit Gleichaltrigen in spartanischen Heimen untergebracht. Wegen fehlender Wartung und Schutzvorkehrungen sind einige Einrichtungen in Brand geraten. In den vergangenen sechs Jahren kamen so mehr als 100 Menschen ums Leben, viele mit einer kognitiven Einschränkung. Noch einmal Human Rights Watch-Direktor Hugh Williamson:
    "Es gibt viel weniger Aufmerksamkeit für Menschen mit einer geistigen Behinderung, also für Einschränkungen, die weniger sichtbar sind als zum Beispiel Rollstühle.“
    In Russland werden behinderte Menschen in der Regel als Invaliden bezeichnet. Ihre Beeinträchtigungen werden als Krankheiten wahrgenommen. Bislang gibt es kein landesweites Gesetz, das sich gegen die Diskriminierung von behinderten Menschen richtet. Laut Kreml haben nur zwanzig Prozent der Menschen mit Behinderung im berufsfähigen Alter eine Anstellung gefunden. In Deutschland ist diese Quote viermal so hoch. Diejenigen, die in Russland einen Job haben, werden schlechter entlohnt als ihre nichtbehinderten Kollegen. Human Rights Watch hat dutzende Fälle recherchiert: von Ausgrenzung, Diskriminierung, Bedrohung. Menschen mit Behinderung wurde der Zutritt verwehrt, zu Bussen, Flugzeugen, Restaurants. Ärzte haben Frauen zu Abtreibungen gedrängt. Oder überführten ihre Säuglinge in Heime. Der Staat hat keine einheitlichen Bildungsangebote zum Thema Inklusion in Schulen oder Unternehmen. Universitäten sind für junge Menschen mit Behinderung fast unerreichbar. Ob die Paralympics in Sotschi diese Wahrnehmung verändern können? Philip Craven ist Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, des IPC, mit Sitz in Bonn.
    "Die Paralympics sind eine besondere Gelegenheit. Die Wahrnehmung in der Gesellschaft lässt sich nicht durch schärfere Gesetze verändern, sondern nur durch positive Erfahrungen. Das Wort Behindert klingt sehr negativ. Doch wenn das Fernsehen die Wettkämpfe überträgt, und wenn russische Athleten Erfolg haben, dann werden viele Menschen ihre Haltung überdenken. Die Vorbereitungen der Paralympics scheinen bisher wenig Auswirkung zu haben, aber die Spiele selbst werden zu einem Meilenstein. Wichtig ist, die Transformation voranzutreiben. Es könnte zwanzig oder dreißig Jahre dauern, um einen wirklichen Wandel zu erkennen.“
    Die Olympischen Sommerspiele fanden 1980 in Moskau statt. Die Sowjetunion weigerte sich, auch die Paralympics zu organisieren. Schließlich habe es laut dem damaligen Parteichef Leonid Breschnew keine Behinderten gegeben. Die Spiele fanden im niederländischen Arnheim statt. Doch nun argumentieren die Organisatoren anders: In Sotschi soll ein menschenfreundliches Sportfest stattfinden, russische Athleten mit Behinderung sollen zu Vorbildern werden. Politiker und Funktionäre haben viel versprochen: So sollen über das ganze Land verteilt 26 Zentren entstehen, um über das Leben mit Behinderung aufzuklären. Auch die Bürgermeister von Moskau oder St. Petersburg stellten die Modernisierung von U-Bahnen-Eingängen oder die Schaffung von Arbeitsplätzen in Aussicht. Philip Craven vom IPC hofft, dass das erst der Anfang ist.
    "Vor allem die westlichen Medien sollten einsehen, dass sie die Welt nicht nur aus ihrer Perspektive bewerten können. Sie sollten sich auf die Kultur von anderen Ländern einlassen, statt ihnen ihre Meinung aufzudrücken. Auch wenn wir gegen bestimmte politische Grundsätze sind, die es in einem Land gibt, so gibt es nur einen Weg für einen Wandel: Wir müssen in dieses Land reisen und mit den Leuten über heikle Themen sprechen.“
    Human Rights Watch bescheinigt dem Organisationskomitee intensive Bemühungen. Dennoch betonen die Menschenrechtler, dass im Planungsstab lange nur drei Menschen mit einer Behinderung beschäftigt waren. In der Stadtverwaltung Sotchis ist niemand mit einer Behinderung angestellt. In der Innenstadt gibt es an Unterführungen einige Fahrstühle, doch in Betrieb sind sie noch nicht, Bedienknöpfe fehlen. Auch der Zugang zu einigen Tunnel ist wegen hoher Bürgersteige kaum zu schaffen. Bei der neuen Bahnverbindung klaffen zwischen Bahnsteigen und Zugtüren mitunter große Lücken. Eine Nachbesserung ist schwer möglich. Wegen der Sicherheitsvorkehrungen können kaum Baustoffe transportiert werden. Human Rights Watch hat seine Recherchen auch dem Internationalen Paralympischen Komitee vorgestellt. Hugh Williamson verantwortet bei der NGO den Bereich für Europa und Zentralasien.
    "Wir wollten das IPC bestärken, sich mehr mit den russischen Politikern zu befassen. Auf der einen Seite waren die baulichen Maßahmen schon vor einem Jahr auf einem hohen Niveau, wir waren beeindruckt. Auf der anderen Seite gab es erhebliche Mängel und Fehler. Wir haben einen Kontrollmechanismus vermisst. Die Planungen waren oft nicht auf die nachhaltigen Bedürfnisse von behinderten Menschen ausgerichtet. Schließlich sollen sie auch nach den Paralympics davon profitieren. Das Internationale Paralympische Komitee hat sich gesträubt, öffentlichen Druck auf die Behörden auszuüben. Es hat uns frustriert, dass das IPC seinen Einfluss nicht mehr genutzt hat. Und auch das IOC hätte mehr Unterstützung leisten können.“
    Welche Aufgaben haben demokratische Staaten, in denen die Menschenrechte höher wiegen? Diese Frage wurde seit der Olympia-Vergabe vor sieben Jahren immer wieder gestellt. Im Fokus standen Korruption, Umweltschäden oder Enteignungen der Bewohner. Die Paralympics und die Rechte von Menschen mit Behinderung wurden kaum diskutiert, auch nicht in Deutschland, sagt die Grünen-Politikerin Viola von Cramon. Sie hat zwischen 2009 und 2013 im Bundestag gesessen. In der grünen Fraktion war sie Sprecherin für europäische Außenpolitik und Sportpolitik.
    "Der Punkt ist einfach, dass es bei den sportpolitisch verantwortlichen Politikern im deutschen Bundestag überhaupt gar kein Interesse gab, sich kritisch mit der Situation in Russland vor Ort auseinander zu setzen. Jeder Versuch, den ich unternommen hatte, entweder über eine Reise dahin, über Anträge, über eine Behandlung, wurde entweder mit Verfahrensgründen, Zeitgründen, Ablehnung von Sachverständigen ausgebremst.“
    Viola von Cramon hatte im Bundestags-Sportausschuss bereits vor Jahren darauf gedrängt, nach Sotschi zu reisen, mit Mitgliedern aus allen Fraktionen. Nachdem das von Kollegen abgelehnt wurde, ist sie zweimal allein nach Russland geflogen. Von Cramon hat in Sotschi mit Menschenrechtlern, Politikern und Funktionären gesprochen. Sie sagt, die Auskunftsbereitschaft der Offiziellen habe sich in Grenzen gehalten. Können die Paralympics das negative Bild verändern? Viola von Cramon:
    "Klar kann man sagen, im Vergleich zu allen anderen Regionen, allen anderen Städten in Russland, wird Sotschi dann die Speerspitze der Barrierefreiheit sein. Aber wenn man sieht, zu welchen Kosten diese Barrierefreiheit erkauft wurde, dann glaube ich, stimmt das Preisleistungsverhältnis nicht. Also der Aufwand von Nutzen und Ertrag ist extrem ungünstig. Und ich kann mir auch nicht vorstellen, dass die Russen diesen Erkenntnisgewinn, dass es gut für die Gesellschaft ist, barrierefrei zu bauen, automatisch multiplizieren in alle anderen Regionen oder in die Hauptstadt. Also da braucht es schon deutlich mehr politischen Druck. Und das wäre natürlich die Aufgabe der Sportverbände oder des IPC gewesen, diesen politischen Druck auch aufzubauen. Dass es nicht nur eine Modellregion gibt für eine kurze Zeit, die quasi die minimalen Standards vorhält für die Spiele. Sondern wenn man das ganze nach Russland gibt, dass es auch ein Konzept am Ende geben muss, wie diese Barrierefreiheit sich dann auch fortsetzt.“
    Wie die Olympischen so sind auch die Paralympischen Spiele nicht von Politik zu trennen. Der deutsche Neurologe Ludwig Guttmann erkannte Ende der 1930er-Jahre, dass körperliche Herausforderungen für behinderte Menschen von Vorteil sein können. In der englischen Kleinstadt Stoke Mandeville revolutionierte er die Behandlung von Querschnittsgelähmten. 1948 organisierte Guttmann im Park eines Krankenhauses einen Wettkampf im Bogenschießen für Kriegsversehrte – die Geburtsstunde der Paralympics. Der Vierjahresrhythmus der Spiele begann 1960 in Rom. Seit 1988 finden die Paralympics am selben Ort wie Olympia statt. Seitdem ist der Einfluss der Spiele gewachsen. Deutlich wurde das 2008 bei den Sommerspielen in Peking. Willi Lemke ist seit April 2008 Sonderberater für Sport des UN-Generalsekretärs.
    "Das hat die Häuser von neunzig Millionen Menschen geöffnet. Vorher hat kaum ein Chinese es gewagt, sein behindertes Kind auf die Straße zu bringen.“
    Die Kommunistische Partei konnte sich als sozialbewusst präsentieren. Als eines der ersten Länder unterzeichnete China die UN-Behindertenrechtskonvention. Peking verabschiedete ein Antidiskriminierungsgesetz, gründete ein Forschungsinstitut, eröffnete ein Sportzentrum. Tausende Rampen und Fahrstühle wurden in der Hauptstadt gebaut. An der Spitze der Offensive stand Deng Pufang, der Sohn des früheren Staatsreformers Deng Xiaoping. Während der Kulturrevolution war Deng Pufang von den Roten Garden zu einem Sprung aus dem vierten Stock gedrängt worden, seitdem ist er querschnittsgelähmt. Die Paralympics 2008 wurden in China auf mehreren Fernsehkanälen übertragen. Doch noch sind die Strukturen zwischen Peking und dem Hinterland sehr unterschiedlich. Menschen mit einer geistigen Behinderung müssen nach wie vor mit einer Zwangseinweisung rechnen. UN-Sportberater Willi Lemke nutzt die positiven Effekte der Peking-Paralympics, wenn er auf Reisen geht. Lemke wirbt mit dem Medium Sport für die Behindertenrechtskonvention, für gesellschaftliche Gleichstellung. Er ist 260 Tage des Jahres unterwegs – wie geht er auf die Sportminister der Länder zu?
    "Ich habe gehört, Ihr Land, Ihre Regierung hat die UN-Konvention noch nicht unterzeichnet. Warum nicht? Kann ich Ihnen irgendwie helfen, den Staatspräsidenten davon zu überzeugen? Dann kriegen die meisten ein schlechtes Gewissen und versprechen mir dann hoch und heilig, dass sie dafür sorgen werden, dass das von der Regierung beschlossen wird. Ich habe einmal erlebt, dass es bekannt gegeben worden ist. Praktisch am gleichen Tag ist dann gesagt worden, ja, und jetzt gibt es die hervorragende Beschlusslage hier. Das war in einem afrikanischen Land, und wir werden das hier heute oder morgen oder in diesen Tagen unterzeichnen. Das ist ein Jahr her, ungefähr. Vor wenigen Tagen habe ich um eine Liste gebeten. Derjenige, der das unter großem Beifall vor den Delegierten verkündet hat, in dem Land ist es trotz der Verkündung bis heute nicht umgesetzt.“
    Die Paralympics sind eine Zweiklassengesellschaft, das wird besonders bei den Sommerspielen deutlich. In London 2012 kamen vierzig Prozent der 4500 Teilnehmer aus neun wohlhabenden Ländern, insgesamt waren 164 Nationen vertreten. Aber: Von weltweit einer Milliarde Menschen mit Behinderung leben achtzig Prozent in Entwicklungsländern. Willi Lemke:
    "Was ich spüre, in solchen Debatten, dass sie Angst haben, dass sie da festgenagelt werden. Wenn man die Konvention unterzeichnet, hat man ja gesagt: wir machen etwas. Also wir sorgen dafür, dass hier Barrierefreiheit geschaffen wird. Wir müssen dann auch bei den Ausschreibungen für Neubauten immer darauf achten, dass das ganze immer behindertengerecht gestaltet wird. Und das umzusetzen, wird Millionen kosten. Und das kann sein, dass sie sagen: Ne, wir haben ganz andere Sorgen, als jetzt Rampen zu bauen und behindertengerechte Toiletten einzurichten. Das schaffen wir nicht und wir lassen das lieber.“
    Die Winter-Paralympics fallen kleiner aus, die meisten Athleten leben auf der nördlichen Halbkugel. So fällt die Strategie des Gastgebers besonders auf: Russland stellt seinen Goldmedaillen-Gewinnern eine Prämie von vier Millionen Rubel in Aussicht, 81<ins cite="mailto:Rawohl,%20Astrid" datetime="2014-02-24T10:56">.</ins>000 Euro. Deutsche Gewinner würden ein Viertel erhalten. Zum ersten Mal sind Paralympier aus Deutschland mit ihren olympischen Kollegen gleichgestellt, für Gold gibt es 20000 Euro. Karl Quade beobachtet seit Jahrzehnten die internationale Szene. Als Volleyballer hat er an drei Paralympics teilgenommen, seit 1996 leitet er das deutsche Team als Chef de Mission.
    "Das war damals in großen Teilen von den Rahmenbedingungen Amateursport. Das schönste war natürlich, dass man einfach in den Paralympischen Dörfern rein und raus gehen konnte, was heute natürlich unter den Sicherheitsvorkehrungen nicht der Fall ist. Also wenn ich an Barcelona denke. Der Trainer wusste das nicht, wie oft wir abends ausgebüchst waren und am Strand waren und dort Partys gefeiert haben mit den Spaniern – undenkbar heute, das geht nicht mehr. Und dass man doch vor leeren Räumen seinen Sport getrieben hat. Also das hatte teilweise den Charme von Dorfsportfesten, das ist heute alles ganz anderes. Von daher freue ich mich für die Athleten heute, dass sie auf der einen Seite diese enorme Aufmerksamkeit genießen, auf der anderen Seite aber auch einen enormen Druck fühlen.“
    Das Nationale Paralympische Komitee Russlands wurde 1995 gegründet. Der Präsident des Komitees ist Wladimir Lukin, ein Vertrauter Putins und seit zehn Jahren Beauftragter für Menschenrechtsfragen. Lukin hat die Politik des Kremls immer wieder verteidigt. Karl Quade:
    "In Russland haben wir bis zur Perestroika natürlich sehr zentralistische Systeme gehabt, wie das auch früher in der DDR war. Das ist alles zerschlagen, mehr oder weniger. Da sind einzelne Bausteine noch über bis heute, aber die wirken natürlich nicht zusammen, wie das früher der Fall war. Auch im Behindertensport kennen wir diese sogenannten Oligarchen. Die, wie auch immer sie an das Geld gekommen sind, dort mit dem Füllhorn bestimmte Bereiche sehr stark unterstützen. Wir wissen, dass Spitzensportler sich mit einem Sieg in Sotschi bei den Paralympischen Spielen lebenslang sozial absichern können.“
    Viel ist international nicht bekannt über das paralympische Fördersystem von russischen Sportlern. Angeblich sollen tausende Menschen mit einer Behinderung gesichtet worden sein, ähnlich war es vor den Sommerspielen in China. Bei den vergangenen beiden Winter-Paralympics gewann das russische Team die meisten Medaillen: 2006 waren es 33, vier Jahre später 38. In beiden Fällen wurden die Wettkämpfe nicht im russischen Fernsehen übertragen. Nach den Spielen 2010 in Vancouver wurden die Sportler erstmals vom Präsidenten empfangen, damals von Dmitri Medwedew. Der Paralympics-Experte Karl Quade.
    "Als Ausrichterland hat man immer zwei Dinge. Es geht ein Ruck durchs Land, das war auch in London nicht anders, das war auch mit den Kanadiern nicht anders. Das war in Australien 2000 ganz extrem, aber in Australien ist da relativ wenig von übrig geblieben. Also einmal gibt es einen Ruck und in der Regel fließen auch Mittel. Und diese beiden Dinge gepaart, wenn man dann ein vernünftiges Programm hat, immerhin kann man ja sieben Jahre lang vorbereiten, das führt dann dazu, dass man dann bei den Spielen in der Regel erfolgreich ist. Dazu kommt noch, dass man als Ausrichter besonders viele Startplätze bekommt. Das heißt, die Chancen an sich sind schon vergrößert. Aber das trifft natürlich nicht die Gruppe der Menschen mit Behinderung. Und ich denke mal, dass da sicherlich viele, also die große Majorität dieser Menschen froh wäre, unter Bedingungen zu leben, wie das hier in Deutschland möglich ist.“
    Die Sommerspiele in London 2012 haben die paralympische Bewegung beflügelt. Erstmals hatte es einen Bieterstreit um die Fernsehrechte gegeben: Der britische Privatsender Channel 4 überbot die BBC und sendete mehr als 150 Stunden. Auch in der Vermarktung von Athleten wie Oscar Pistorius erinnerten die Paralympics zunehmend an den Unterhaltungsbetrieb Olympia. Nun, 2014, will auch die amerikanische Sendekette NBC aus Sotschi berichten. Werden die Paralympics nach fast siebzig Jahren lukrativ?
    "Wir haben ja 14 Sportler und Sportlerinnen schon auf Arbeitsstellen des öffentlichen Dienstes außerhalb der Bundeswehr gehabt. Und als wir vor anderthalb Jahren mit dem damaligen Verteidigungsminister De Maizière zusammengesessen haben, wollte er so was aufbauen wie eine Sportfördergruppe für den paralympischen Bereich. Das ließ sich am Ende nicht realisieren, also deshalb haben wir jetzt eine Lösung gefunden, wo die nicht auf so genannten Stellen des öffentlichen Dienstes sitzen. Also wir erhoffen uns durch die Kooperation mit der Bundeswehr, dass wir dort auch verstärkt Sportlerinnen und Sportler temporär finanziell absichern können, damit sie sich auf den Sport konzentrieren. Die Bundeswehr hat ja diese Sportfördergruppe, diese berühmten 744 Stellen für Spitzensportlinnen und Spitzensportler. Da können wir mit unseren paralympischen Sportlern nicht einsteigen, weil der Soldatenstatus nicht möglich ist. Also gab es jetzt diese andere Lösung, so dass die Bundeswehr die Sportler unterstützt. Es gibt gewissen Gegenleistungen dort, Repräsentationspflicht.“
    Einer der wichtigsten Partner des Internationalen Paralympischen Komitees ist Otto Bock, mit Sitz in Duderstadt. Der weltweit agierende Anbieter für Orthopädie-Technik stellt den Athleten seit den Paralympics 1988 einen Service zur Verfügung, für Prothesen, Rollstühle, Mono-Ski. Otto Bock beschäftigt an zwei russischen Standorten 100 Mitarbeiter. Einige von ihnen werden in Sotschi als Wettkampf-Mechaniker tätig sein und Auskunft geben, gegenüber Journalisten, Funktionären, Besuchern. Ist das Eigenmarketing? Oder Aufklärungsarbeit für behinderte Menschen in Russland? Unternehmenssprecher Karsten Ley.
    "Also grundsätzlich ist natürlich das Thema, die Paralympics in einem Land zu haben, immer eine gute Möglichkeit für Verbände, vor Ort aufzuzeigen, mit Behinderung ist auch etwas möglich. Die Rolle von Otto Bock steht eigentlich hinter der Rolle der Verbände zurück. Es ist eigentlich für uns irrelevant, wo die Spiele stattfinden. Die Entscheidung wird vom IOC beziehungsweise IPC getroffen, und wir haben den Fokus auf den technischen Part. Wir sind eben ein Teil der paralympischen Familie, der immer von Standort zu Standort wechselt und wir haben null Einfluss auf die Entscheidung, wo die Spiele stattfinden und diskutieren diese Themen auch nicht. Also für uns steht der sportliche Wettkampf im Vordergrund.“
    Und was bringen die Paralympics einem Land, in dem die Standards für Menschen mit Behinderung vergleichsweise hoch sind? Vor den Winterspielen in Vancouver setzten sich Aktivisten für einen behindertengerechten Tourismus ein. Vor den Sommerspielen in London verpflichteten sich britische Medien, mehr behinderte Menschen zu Redakteuren auszubilden. In beiden Ländern, in Kanada und Großbritannien, rückten behinderte und nichtbehinderte Sportler näher zusammen, in Trainingslagern, Förderprogrammen und Wettkämpfen. Diese Debatte um Inklusion steht in Deutschland erst am Anfang. 1972 fanden die Sommer-Paralympics in Heidelberg statt, weil der Umbau des Olympischen Dorfes in München unmittelbar nach den Spielen geplant war. Für die zweiten Paralympics in Deutschland macht sich auch Friedhelm Julius Beucher stark, der Präsident des Deutschen Behindertensportverbandes. Bislang vergeblich.
    "Wenn ich die Bewerbung München 2018 in Erinnerung rufe, dann war der paralympische Teil dort bei dieser Bewerbung der größte paralympische Teil, der je bei einer Bewerbung stattgefunden hat. Das hätte in München ein paralympisches Dorf gebracht mit barrierefreien Wohnungen, die München auch nach 2018 für die Bürgerinnen und Bürger gebraucht hätte.“
    Die Olympischen und Paralympischen Winterspiele 2018 finden im südkoreanischen Pyeongchang statt. Die Münchener haben sich in einem Bürgerbegehren auch gegen eine Bewerbung für 2022 entschieden. Die Gesellschaft wird älter, daher ist der Deutsche Behindertensportverband in den vergangenen fünf Jahren um ein Drittel gewachsen, er zählt nun 650<ins cite="mailto:Rawohl,%20Astrid" datetime="2014-02-24T13:10">.</ins>000 Mitglieder. Die große Mehrheit ist im Rehabilitationssport aktiv, ihr Durchschnittsalter liegt bei über sechzig. Friedhelm Julius Beucher:
    "Die Zugstrecke von München nach Garmisch, die 2018 viele Zuschauerinnen und Zuschauer hätten benutzen müssen, hatte eben nicht behindertengerechte Bahnhöfe. Der Martin Braxenthaler hat das denn mal ausprobiert, wo man über die Gleise getragen werden muss und was verändert werden muss, mit Aufzügen. Das ist nicht nur etwas, was der paralympischen Bewegung nutzt. Das nutzt auch den älteren Besuchern des Kurortes Garmisch-Partenkirchen, die mit dem Rollator anreisen.“
    Zunächst wird Sotschi im paralympischen Mittelpunkt stehen. Führen die Debatten um Menschenrechte und Umweltschäden zu anderen Vergabekriterien von sportlichen Großereignissen? Der ehemalige SPD-Bundestagsabgeordnete Friedhelm Julius Beucher will sich dafür einsetzen, auch gegenüber Thomas Bach.
    "Ich erwarte auch von einem deutschen Präsidenten an der Spitze des IOC zukünftig, dass er genau da auch den Fokus stärker legt. Das ist ja ein Kriterium, was offensichtlich nicht immer an erster Stelle bei der Entscheidung für die Vergabe von Olympischen und Paralympischen Spielen gestanden hat.“
    Das vollständige Gespräch können Sie bis mindestens 2. September 2014 als Audio-on-demand abrufen.