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Sportmedizin
Der zweite Schlag kann tödlich sein

Gehirnerschütterungen wie sie der Gladbacher Christoph Kramer im WM-Finale erlitt, haben beim Weltfußballverband keine Priorität. Ein Spiel mit dem Leben, warnt der ehemalige US-Nationalspieler Taylor Twellman. Die Karriere des Amerikaners ging durch eine schwere Kopfverletzung vorzeitig zu Ende.

Von Jürgen Kalwa | 19.07.2014
    Der deutsche Nationalspieler Christoph Kramer wird während des WM-Finales 2014 von den Ärzten vom Platz geführt.
    Der deutsche Nationalspieler Christoph Kramer wird während des WM-Finales 2014 von den Ärzten vom Platz geführt. (dpa/picture alliance/Chema Moya)
    Auf die beiden Radio-Kommentatoren wirkte das Geschehen in der 17. Minute zunächst wie ein Allerweltszusammenstoß: ...der Ball ist im Spiel, soll auf Kramer kommen. Aber den räumen sie relativ robust auf die Seite." So robust, dass Christoph Kramer im Strafraum liegen blieb. "...hat sich in dem Zweikampf verletzt, hat jetzt die Hände vors Gesicht geschlagen. Das sieht überhaupt nicht gut aus. Der hat offensichtlich richtig etwas abbekommen."
    Das hatte er, wie die Zeitlupenwiederholung im Fernsehen sehr genau zeigte. Beim Kampf um den Ball war sein Kopf mit voller Wucht von der Schulter des Argentiniers Ezequiel Garay getroffen worden. Er rappelte sich auf, wirkte groggy, und wurde nach einer kurzen ärztlichen Untersuchung zurück aufs Spielfeld gelassen. Ehe dann in der 31. Minute das endgültige Aus kam. "...und Kramer muss jetzt gestützt von zwei Betreuern vom Platz gebracht werden..."
    Keinerlei Erinnerung an Finalauftritt
    Ein Fall von klassischer Gehirnerschütterung: Der Mönchengladbacher Mittelfeldspieler konnte sich hinterher an keine einzige Minute seines Auftritts im Finale erinnern. Nicht mal daran, dass er nach dem Knockout weitergespielt hatte, wie er dem Magazin "11 Freunde" sagte.
    Professor Dr. Jiri Dvořák, der Chefmediziner der FIFA, saß im Stadion und fand auch eine Woche später an dem Vorgang nichts weiter bemerkenswert: "Das war ein Vorgehen, das man sehr gut nachvollziehen kann und spricht für die Betreuung der deutschen Spieler durch ihre Ärzteschaft."
    Eine Einschätzung, die Taylor Twellman für fahrlässig hält. Der ehemalige Bundesligaprofi und amerikanische Nationalstürmer erlitt 2008 bei einer Angriffsaktion in einem Pflichtspiel der Major League Soccer bei einem Kopfball eine Gehirnerschütterung. Die sorgte für sein vorzeitiges Karriereende. Noch heute leidet er unter schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen.
    "Die FIFA ist grausam. Wenn sie sich nicht darum kümmern, wird wohl erst jemand sterben müssen, ehe etwas passiert. Wir haben bei der Weltmeisterschaft in Brasilien Kopfverletzungen gesehen, die zeigen, dass die FIFA blind ist. Sie wollen nichts damit zu tun haben."
    Ähnlich vehement wie am Freitag gegenüber dem Deutschlandfunk hatte sich Twellman, inzwischen Fernsehkommentator beim Sportsender ESPN, bereits in der Halbzeit des Spiels Deutschland - Argentinien im Studio in Rio de Janeiro geäußert. Das Risiko, vor dem er warnt, ist nicht die erste Gehirnerschütterung, die jemand davon trägt.
    Der zweite Schlag kann tödlich sein
    "Man nennt die Verletzung "Second Impact Syndrome". Da erleidet ein bereits geschädigtes Gehirn einen zweiten Schlag. Der kann tödlich sein."
    Das Wissen um dieses Risiko hat die Verantwortlichen in den USA aufgeschreckt. Auch weil enorme Schadenersatzansprüche drohen, die Sportarten wie American Football oder Eishockey wirtschaftlich in die Knie zwingen könnten. Doch bei der FIFA ist man der Ansicht, dass man wachsam genug ist. Professor Dvořák:
    "Ich würde sagen, dass die FIFA historisch einer der ersten und führenden Sportverbände ist, die die Diskussion ausgelöst hat. Wir haben die erste wissenschaftliche Untersuchung 2003/2004 durchgeführt. Das war damals im Zusammenhang mit dem repetitiven Kopfballspielen."
    Was man bei der FIFA als gesicherte Erkenntnisse ansieht, wurde - als Empfehlung - noch einmal an die Mannschaften in Brasilien weitergereicht. Mehr nicht. Verbindliche Richtlinien zum Verhalten der Teamärzte, wie man sie seit etwa 2010 in der amerikanischen Soccer-Liga MLS kennt, gibt es nicht.
    Die Folge: Die komplette Verantwortung lastet auf den medizinischen Betreuern vor Ort. Ganz egal, dass sie schwierig zu bewertende Symptome innerhalb von Sekunden einschätzen müssen. Ganz egal, dass sie mit ehrgeizigen, hochbezahlten Fußballern zu tun haben, die das Risiko selbst gar nicht abschätzen können und weiterspielen wollen. Nicht zu reden von den Erwartungen und Emotionen ganzer Nationen.
    Die Ratschläge, die man im Handbuch des FIFA Medical Assessment und Research Centre, kurz F-MARC, finden kann, sind für solche Situationen übrigens keine wirkliche Hilfe. Schon gar nicht, wenn man sieht. wie die in offiziellen Verlautbarungen gerne garniert werden - mit beschwichtigenden Aussagen. So werden neuere wissenschaftlichen Erkenntnisse über die Langzeitgefahren des Kopfballspiels gezielt desavouiert.
    Allein drei Fälle bei der WM 2014
    Dabei sollte schon der Umgang mit Informationen, wie etwa über die Anzahl von Gehirnerschütterungen nachdenklich stimmen. Gerne verbreitet wird etwa die Behauptung, dass es im Schnitt nur einen relevanten Zwischenfall pro Turnier gäbe. Wer die WM in Brasilien verfolgt hat, kam auf mindestens drei: neben dem Gladbacher Kramer, der Argentinier Javier Mascherano im Halbfinale gegen die Niederlande und Alvaro Pereira aus Uruguay in der Vorrunde gegen England. Beide Südamerikaner durften trotzdem weiterspielen.
    Dass diese Fälle bei der FIFA auch erfasst werden, sollte man eher nicht annehmen. Wie sagt Professor Dvořák: "Wir kriegen die Informationen eigentlich nicht in diesem Sinne, dass wir sie überprüfen würden."
    Was man nicht weiß, macht einen auch nicht heiß.