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Sprache als Droge

Von einem, der auszieht, das Staunen zu lernen und über dem Staunen das Leben vergisst, davon erzählt Barry McCreas Roman "Poeten der Nacht". Der Ich-Erzähler Niall Lenihan beginnt ein Literaturstudium, doch dann treibt ihn seine Suche nach einem Sinn im Dasein an die Wurzel allen Sinns: zu den Büchern, in die Sprache. Das ist der Beginn einer rauschhaften Reise, die ihn zu einer Art sprachlichem Geheimkult führt.

Von Antje Ravic Strubel | 01.04.2008
    Der Ich-Erzähler Niall Lenihan beginnt ein Literaturstudium am Trinity College, und wie jeder Student verbringt er anfangs die Nächte auf Partys und in Bars; in seinem Fall Dubliner Schwulenbars, aus denen er Männer für One-Night-Stands abschleppt. Aber diese Rituale des Erwachsenwerdens erscheinen ihm bald banal.

    Eine Kette von Zufällen und seltsamen Begegnungen verspricht eine verlockendere, erfüllendere Welt als sie der Studentenalltag bieten kann. Niall Lenihans jugendliche Suche nach einem Sinn in seinem Dasein treibt ihn an die Wurzel allen Sinns: zu den Büchern, in die Sprache. Die Bücher sind für ihn nicht länger gewöhnliche Forschungsobjekte eines Literaturstudenten, sondern werden zu Orakeln.

    Auf einer Party lernt er die beiden hochnervösen, geheimnisvollen, blassen Kommilitonen John und Sarah kennen, die älter sind als er und ihn die in die Sortes einweihen; sortes ist ein Begriff aus dem Lateinischen, der in der römischen Antike verschiedene Losverfahren bezeichnete, die zu Wahrsagungen benutzt wurden. Im Partyspiel stellt Niall eine Frage, wählt ein Buch nach dem Zufallsprinzip aus und liest die aufgeschlagene Textstelle als Antwort.

    Das ist jedoch nur der Beginn einer rauschhaften Reise, die ihn mit Sarah und John zu einer Art sprachlichem Geheimkult führt. Hier vibriert alles vor Bedeutung, die Alltagswelt mit ihren Vorlesungen und Gesprächen beim Kaffee erscheint dagegen grau und langweilig, selbst seiner besten Freundin Fionnula entsagt Niall schließlich. Er beginnt, überall Sortes zu entdecken, ein interpretatives Netz hängt über der Stadt, Fragmente von Texten enthalten Aussagen zu seiner Stimmung, zu seinem Verhältnis zu John, Straßenschilder und Werbetafeln werden ihm zu Anweisungen für sein Verhalten und die nächsten Schritte. Seine Wahrnehmung verändert sich. Sein scheinbar zielloses Umherstreifen in Dublins Straßen wird gesteuert durch eine unsichtbare zweite Realität, die in den nächtlichen Sitzungen der drei Geheimkultler zum Leben erweckt wird.

    In ihren Seancen reden sie sich im Schneidersitz und mit Bourbon in ein Delirium hinein, lesen sich in rasender Geschwindigkeit so lange immer die gleichen Abschnitte aus zufällig ausgewählten Büchern vor, bis die Texte sich von ihrem Kontext im Buch lösen, sich vermischen und im Ineinanderfließen neue Bedeutungen ergeben, bis Vergangenheit und Gegenwart in einem zeitlosen Raum der Sprache vereint sind, die Welt ins Schwingen gerät und das Unwahrscheinliche geschieht: Sprachlich werden Jahrhunderte überbrückt, mittelalterliche Kirchengesänge erheben sich über der schlafenden Stadt Dublin und die Statuen auf dem Dach der Bank of Ireland beginnen sich im Rhythmus zu wiegen.

    "Poeten der Nacht", der Debütroman von Barry McCrea, der vergleichende Literatur an der Yale-Universität lehrt, hätte ein aufregendes Buch werden können. Barry McCrea erzählt mit leisem Witz und jener gespannten Lockerheit, die seit Frank McCourts "Die Asche meiner Mutter" unter irischen Autoren schon Tradition hat, von der Sinnsuche in einer zerfasernden Welt. Es erzählt davon, wie wir uns mithilfe der Textfragmente, die uns täglich überschwemmen, zu orientieren versuchen, wie wir nach dem Ende der großen allgemeingültigen Bedeutungssysteme in allem, der Werbung, den Nachrichten, sms, E-Mails und eben auch in der Literatur nach Bruchstücken suchen, die uns und unserem Leben Sinn verleihen.

    Der Roman beschreibt, wie jemand, der sich ein stimmiges sinnhaftes System schafft, in dem jeder Geste, jeder Äußerung Bedeutung zukommt, nichts mehr zufällig, sondern alles zwangsläufig geschieht, wie jemand, dem alles zum Zeichen wird, an den Rand einer Gesellschaft gerät, die sich immer stärker differenziert und in der Zeichen nur noch für immer kleinere Sinneinheiten Gültigkeit haben.

    Barry McCrea geht von der interessanten Vorstellung aus, dass alles, was je gedacht, gesagt und geschrieben wurde, in der Sprache dauerhaft lagert, und wer diesen rein sprachlichen, von Gegenwart und Körper losgelösten Raum betritt, der müsste in der Lage sein, mit der gesamten Menschheit, unabhängig von Raum und Zeit, in Kontakt zu treten. Hier müsste es möglich sein, die Vorstellungen und Regeln des eigenen Lebens zu überwinden und einen Selbstentwurf zu schaffen, der dem Zeitgeist etwas entgegenzusetzen vermag.

    Leider ging dem Autor seine Ausgangsidee mitten im Schreiben verloren. McCrea versäumt es, die Verlockungen dieses Bedeutungsrausches, dieser sprachlichen Verrückungen, ja sogar das Verführerische der nächtlichen Seancen zu schildern. Seine sonst so lebhaften Beschreibungen sind da seltsam fade und abstrakt. Auch das Verhältnis der drei Geheimkultler untereinander bleibt blass, und so hängt es von den Lesern ab, sich den Reiz dieser Verbindung auszumalen.

    Das Buch nutzt sein großes Potential nicht, sondern geht dort, wo es aus der Innenperspektive Nialls von einer mehrschichtigen Realität, von alternativen Möglichkeiten erzählen könnte, von den Rückkopplungseffekten, die rein sprachliche Entwürfe auf die Wirklichkeit haben, wieder zurück in die Außenperspektive und erklärt die Erlebnisse des Ich-Erzählers zum Resultat einer gewöhnlichen Sucht. Niall ist jetzt nur noch der Suchtkranke, einer, der aus sozialen Zusammenhängen fällt, sein Stipendium verliert, bei einer Therapeutin auf der Couch sitzt und zum Schluss erkennt, dass er vielleicht lieber sein Studium und das normale Leben fortsetzen sollte, als sich auf die Verlockung des Ungekannten einzulassen. Aber da, wo Sprache als Droge verstanden wird und Sprachrausch als Sucht, sind zwangsläufig auch Bücher gefährlich; dieses alte kulturfeindliche Motiv schwingt auf ärgerliche Weise (und absurderweise) in diesem Roman mit, aber es gibt ja den Literaturprofessor, der uns von der falschen, gefährlichen Lesart abhalten wird...

    Liest man "Poeten der Nacht" als Entwicklungsroman eines schwulen Jungen aus Dublin, dem die Bücher schließlich orakeln, er solle nach Paris abhauen, wo er seine Geschichte einem Amerikaner ins Diktiergerät spricht, ist das Buch so vergnüglich und unterhaltsam wie das Partyspiel der sortes. Dass der Autor, wie er in einem Interview sagt, Beckett, Joyce und Proust bemühte, um sein Buch zu schreiben, macht daraus noch keinen Geniestreich. Die Übersetzung aus dem Englischen von Bettina Stoll allerdings ist ein Geniestreich. Dass sich das Deutsche dem ironischen, teils spöttelnden, teils jugendlich überschwänglichen Tonfall des Autors so gut fügt, zeugt von einem großen Rhythmus- und Sprachgefühl der Übersetzerin und von ihrem besonderen Gespür für die Lebendigkeit von Dialogen in diesem dialoghaltigen Buch.