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Sprachlosigkeit an der Odenwaldschule

Auch zweieinhalb Jahre nach Bekanntwerden des Missbrauchskandals an der Odenwaldschule bleiben entscheidende Fragen unbeantwortet. Die Fraktion der Grünen im hessischen Landtag lud nun zum "Runden Tisch". Er offenbarte die Entfremdung zwischen Missbrauchsopfern und Schulvertretern.

Von Ludger Fittkau | 08.10.2012
    Der Rechtsanwalt Michael Frenzel war nach dem Aufdecken des Skandals 2010 eine zeitlang Vorsitzender des Trägervereins der Odenwaldschule. Er versucht zu erklären, warum eine systematische Aufarbeitung der Taten bis heute nicht stattgefunden hat:

    "Das liegt an einer großen Zerstrittenheit im Verein, die sich möglicherweise auch auf die Schule überlagert. Wie man dieses Problem Aufarbeitung und auch Entschädigung der Opfer, das ist nämlich auch Teil der Aufarbeitung, am besten löst. Meines Erachtens wäre die beste Werbung für die Schule gewesen, eine gute Aufarbeitung zu machen, sich mit den Opfern möglichst schnell zu versöhnen. Versöhnung ist ein ganz wichtiges Stichwort bei dieser Sache. Und dann wäre auch das Ansehen der Schule eher wieder hergestellt, als es jetzt ist. Das ist eigentlich das Problem, das wir hier haben."

    Doch versöhnlich ist die Atmosphäre nicht, die beim Treffen der Vertreter der Schule mit den Sprecher des Opfervereines "Glasbrechen" am vergangenen Freitag in Heppenheim herrscht.
    Im fast fünfstündigen Gespräch werfen die Missbrauchsopfer dem Vorstand des Trägervereins der Odenwaldschule immer wieder vor, sie nicht ernst zu nehmen und gerade bei der Entschädigungsfrage Entscheidungen über ihren Kopf hinweg zu treffen. Jochen Weidenbusch ist Opfer sexueller Gewalt an der Odenwaldschule und Vorstandmitglied der Betroffenen - Selbsthilfeorganisation "Glasbrechen".
    "Es geht da um Selbstachtung. Man nimmt im Grunde dem Betroffenenverein 'Glasbrechen' die Selbstachtung."

    Wenig Verständnis zeigen die Missbrauchsopfer auch dafür, dass die heutige Schulleitung die Aufarbeitung der Taten an den Vorstand des Trägervereins der Odenwaldschule delegiert. Das Argument der Schule: Wir müssen uns vor allem um die Neuorganisation des laufenden Betriebs kümmern, etwa das "Vier-Augen-Prinzip" konsequent umsetzen, damit kein Pädagoge vor allem im Internatsbereich künftig mehr über längere Zeit mit den Kindern allein ist. Der ehemalige Trägervereinsvorsitzende Michael Frenzel hält es jedoch für einen Fehler, dass sich die heutige Schulleitung aus der aktiven Aufarbeitung der Vergangenheit weitgehend heraushält. Schon deswegen, weil an der Odenwaldschule noch Lehrer arbeiten, die bereits dort waren, als die Taten passierten:

    "Man kann das nicht einfach scharf trennen und sagen, das eine ist operatives Tagesgeschäft und das andere ist Vergangenheitsbewältigung. Das wäre ja genau so, als wenn wir hier in Deutschland sagen: Na ja, die Nazi-Vergangenheit, das war das eine und jetzt gucken wir mal in die Zukunft und scheren uns um das Andere nicht mehr. Das kann nicht sein, wir müssen auch zu unserer Vergangenheit stehen und deswegen überlagert sich das und deswegen brauchen wir eine entsprechende Aufarbeitung auf beiden Seiten."

    Wie schwer es der Schule bisher fällt, möglicherweise gefahrvolle Strukturen zu verändern, zeigt ein aktueller Konflikt mit dem hessischen Landtag. Der fordert, Internate wie die Odenwaldschule sollen künftig dafür sorgen, dass am Abend andere Pädagogen die Schüler in ihren Unterkünften betreuen als tagsüber. Der Politik geht es darum, zu starke Abhängigkeiten von den Lehrern zu vermeiden.

    In einer ersten Reaktion auf diese neue Vorgabe der Politik verteidigt Gerhard Herbert, der heutige Vorsitzende des Trägervereins der Odenwaldschule das sogenannte "Familienprinzip" im Internatsbereich. Das bedeutet, dass auch Lehrer als sogenannte "Familienoberhäupter" mit ihren Schülern unter einem Dach zusammenleben:

    "Es gibt ja viele Beispiele, die Belegen, dass Schüler in den vergangenen Jahrzehnten die Schüler die Odenwaldschule aufgesucht haben, weil es dieses Familiensystem gab und sich dort behütet und beschützt gefühlt haben. Und dann auch ihre Schulkarriere dort beendet haben und sehr viele populäre Beispiele zeigen ja auch, dass sie ja auch dann im richtigen Leben etwas geworden sind."

    Matthias Wilkes ist Landrat des Kreises Bergstraße, in dem die Odenwaldschule liegt. Für ihn ist die zögerliche Reaktion des Trägervereins auf das Reformkonzept des hessischen Landtages ein Grund mehr, vorerst weiterhin keine Kinder durch sein Jugendamt im Internat der Odenwaldschule unterbringen zu lassen:

    "Ich glaube, dass die Tatsache, das man hier nicht zu einem Konsens kommt schon ein Zeichen schlichtweg dafür ist, dass man in der Ursachenforschung noch nicht so weit ist, dass man sagen kann, man kann die Akte zumachen. Dieser Befund ist glaube ich sehr eindeutig. Ich glaube schon, dass Abhängigkeiten in Internaten eine große Gefahr darstellen, gerade gegenüber Kindern zusätzliche Macht auszuüben. Und ich glaube, wenn man solche Internatsstrukturen hat, alles getan werden muss, damit solche Machtstrukturen so gering wie möglich sind. Darauf zielt die Überlegung, die Lehrer von den Erziehern in den Familien, in denen die Kinder leben, klar zu trennen. Damit nicht die Note am Ende das Druckmittel ist, um vielleicht am Ende wieder zu sexueller Gewalt zu kommen."