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Sprachstandsmessung und frühe Einschulung

Die jüngsten Veränderungen der Grundschulbildung in den 16 Bundesländern scheinen Nord und Süd, Ost und West näher zusammen zu bringen: Mehr und mehr Ganztagsschulen bieten zumindest die nachmittägliche Betreuung der Grundschüler an, Lerninhalte orientieren sich mehr und mehr an bundesweit erarbeiteten Standards und die Begabtenförderung wird vielerorts intensiviert - das heißt, die Reformschritte in den Ländern ähneln sich. Dennoch beharrt jedes Bundesland auf seinen tradierten Eigenheiten - was die Chance bietet, dass auf regional höchst unterschiedliche Realitäten Rücksicht genommen werden kann.

Von Jacqueline Boysen | 26.08.2005
    Zudem reagieren neue Regelungen natürlich auch auf singuläre Vorkommnisse: Der Schulzwang in Hamburg beispielsweise wurde eingeführt, nachdem dort ein siebenjähriges Mädchen dem Sadismus ihrer Eltern zum Opfer gefallen war. Jetzt sollen staatliche Institutionen in der Hansestadt eingreifen können, wo Familien Tendenzen von Verwahrlosung erkennen lassen oder Kinder vernachlässigt oder gar gequält werden.

    Viele Bundesländer haben mit dem laufenden Schuljahr die Modalitäten der Schulpflicht geändert und das Einschulungsalter auf fünf herabgesetzt. In Berlin, das ein so genanntes Reformschuljahr ausgerufen hat, werden alle Kinder in dem Jahr schulpflichtig, in dem sie sechs Jahre alt werden. Nordrhein-Westfalen wiederum hat das Einschulungsalter schrittweise vorgezogen. Der Freistaat Bayern hat den Stichtag 31. Juli gewählt: Wer an diesem Tag oder vorher seinen sechsten Geburtstag gefeiert hat, kommt in die Schule, wobei die Eltern ihre Kinder auch zurückstellen lassen können, wenn die persönliche Disposition des Fünf- oder Sechsjährigen dies erfordert.

    Es gilt nicht zuletzt, das Sitzenbleiben der Schüler zu vermeiden - nicht nur in Sachsen-Anhalt, wo den Lehrern ausdrücklich aufgegeben ist, die Kinder soweit zu fördern, dass sie versetzt werden können.

    Der individuell unterschiedlichen Schulfähigkeit der ABC-Schützen sollen zum Beispiel in Berlin oder Brandenburg die so genannten flexiblen Schuleingangsphasen gerecht werden: Der Grundschüler absolviert die ersten Schuljahre nicht mehr schrittchenweise Klasse für Klasse, sondern je nach individueller Lerngeschwindigkeit, Auffassungsgabe, Konzentrationsfähigkeit und entsprechend seinem Sozialverhalten in ein, zwei oder drei Jahren. Wer möchte, überspringt beispielsweise nach herkömmlichem Verständnis die zweite Klasse. In der Unterrichtspraxis erlebt also der jahrgangsübergreifende Unterricht eine Renaissance.

    Auch in Bundesländern, die in der klassischen Folge vier Grundschuljahre für alle anbieten, kommt der Beurteilung der Schüler, aber auch der Lehrer eine neue Rolle zu. So erwägen verschiedene Bundesländer die Evaluierung der Lehre, und sie modernisieren die Notenvergabe. Nicht allein die oft diskutierte Frage, ob Kinder schon in den ersten Klassen mit Zensuren konfrontiert oder über ein Berichtszeugnis beurteilt werden sollen, beschäftigt die Verwaltungen. Der Begriff der "Erziehung" hält wieder Einzug in den Aufgabenkatalog der Lehrer, in Nordrhein-Westfalen erteilen diese nun auch wieder Kopfnoten. In Bayern, aber auch in Brandenburg und in Sachsen sind die Lehrer ausdrücklich dazu aufgerufen, neben dem Fachwissen verstärkt auch das Verhalten in der Klassengemeinschaft, die Konfliktfähigkeit und Aufmerksamkeit der Kinder zu bewerten sowie deren individuelle Lernstrategien genau zu beobachten. Die sächsischen Richtlinien für Lehrer mahnen Respekt vor dem einzelnen Schülern an und weisen wörtlich darauf hin, dass die "Leistungsbewertung kein geeignetes Mittel der Schülerdisziplinierung" ist!

    Zur Begutachtung der individuellen Entwicklung der Kinder gehört insbesondere in den Stadtstaaten und den urbanen Zentren die Sprachstandsmessung und der Ausbau eines gezielten Deutschunterrichts bereits vor der Einschulung. Zum Beispiel in Hamburg werden die Kinder eineinhalb Jahre vor der Einschulung getestet und gegebenenfalls in der Kita gefördert. Und in Bremen, dem Bundesland mit dem höchsten Anteil von Migrantenkindern, zielt die Sprachdiagnose auch auf Kinder deutscher Herkunft, die in ihrer Sprachentwicklung gehemmt sind und nach besonderer Förderung verlangen. Im Saarland soll diese Schülern aus bilingualen Familien zuteil werden. In anderen Ländern wiederum erscheint künftig schon auf dem Stundenplan der Erstklässler eine Fremdsprache - auch dies ein Novum.
    Nicht zuletzt werden die Curricula in der Lehrerausbildung in vielen Bundesländern reformiert - den Effekt aber werden selbstredend erst kommende Schülergenerationen erleben.