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Sprachwissenschaftler
Die Legende vom verschollenen Indo-Germanen

Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist das Thema Indo-Europäer bei den Geisteswissenschaftlern ein zyklischer Dauerbrenner. Nach und nach schälte sich in den Geisteswissenschaften die Idee heraus, diese Ähnlichkeiten seien auf eine Proto-indo-europäische Sprache zurückzuführen - die eventuell von einem Proto-indo-europäischen Volk stamme. Doch nun fragt Jean-Paul Demoule "Wo sind bloß die Info-Europäer abgeblieben?"

Von Suzanne Krause | 05.02.2015
    Seit Ende des 18. Jahrhunderts ist das Thema Indo-Europäer bei den Geisteswissenschaftlern ein zyklischer Dauerbrenner. Seit der britische Jurist und Indologe William Johns bei ersten Sprach-Vergleichen auffallende Ähnlichkeiten zwischen dem Sanskrit und vielen europäischen Sprachen bemerkte.
    Nach und nach schälte sich in den Geisteswissenschaften die Idee heraus, diese Ähnlichkeiten seien auf eine Proto-indo-europäische Sprache zurückzuführen - die eventuell von einem Proto-indo-europäischen Volk stamme. Doch nun fragt Jean-Paul Demoule "Wo sind bloß die Info-Europäer abgeblieben?". Unter diesem Titel hat der französische Archäologe kürzlich ein Buch, einen wahren Wälzer, veröffentlicht, in dem er das Konzept der Indo-Europäer gegen den Strich bürstet. Suzanne Krause berichtet
    Vor über 30 Jahren widmete sich Jean-Paul Demoule erstmals den Indo-Europäern. Seither hat das Thema den Professor für europäische Vor- und Frühgeschichte an der Pariser Sorbonne, der auch das französische Institut für Rettungsgrabungen mitgründete, nicht losgelassen. In seinem neuen Buch resümiert er kompakt, aber allgemein verständlich, den wissenschaftlichen Stand.
    "Tatsache ist: Ein Großteil der Sprachen Europas und der aus dem Iran, Indiens, Pakistans und Afghanistans sind einander sehr ähnlich. Betreffs Vokabular und Syntax sind sie näher miteinander verwandt als mit den semitischen oder auch den sino-tibetischen Sprachfamilien."
    Eine Beobachtung, die vor zwei Jahrhunderten die Linguisten sehr beschäftigte. Sie erklärten sich diese Ähnlichkeiten mithilfe des klassischen Stammbaum-Modells der lateinischen Sprache, die von den römischen Eroberern quer durch Europa getragen wurde und die den heutigen romanischen Sprachen zugrunde liegt.
    "Und so ging man bald davon aus, dass die linguistische Verwandtschaft zwischen den europäischen und den westasiatischen Sprachen auf einer Ursprache beruhe, von einem Urvolk gesprochen wurde, das einer Urheimat entstamme. Seit dem 19. Jahrhundert begannen die Gelehrten, danach zu suchen – sie suchen heute noch."
    Ursprache, Urvolk, Urheimat – Demoule verwendet diese deutschen Begriffe nicht von ungefähr. Geprägt wurden sie von deutschen Gelehrten, die im 19. Jahrhundert sogenannte indo-germanische Studien in Form vergleichender Grammatik betrieben und lange Zeit als federführende Spezialisten im Bereich Indo-Europäer galten. Demoule postuliert:
    "Damals war die Deutschen noch längst nicht geeint, es gab Preußen, das österreichische Reich und unzählige Herzogtümer, in denen deutsch gesprochen wurde. Erst ab 1871 entstand nach und nach eine politische Einheit. Bis dahin war es die Sprache, die jemanden als Deutschen definierte. Deshalb war das Interesse an der Sprachforschung im deutschen Sprachraum wesentlich größer als in Frankreich. Dort wurden die Indo-Europäer erst Ende des 19. Jahrhunderts zum Thema."
    Akribisch belegt der französische Wissenschaftler, wie in Gelehrtenkreisen die heute gängige These von indo-europäischer Ursprache, Urvolk, Urheimat entstand, Schicht auf Schicht auf- und ausgebaut wurde. Dem Geist der jeweiligen Epoche folgend. Demoule rollt diese Entwicklung von hinten auf. Der Forscher nahm als gegeben, dass es in grauer Vorzeit an einem bestimmten Ort ein Volk gab, das eine Sprache pflegte, auf der andere, heutige Sprachen fußen. Seine Spurensuche, auf 750 Seiten dokumentiert, führt zu einem ernüchternden Ergebnis.
    "Ich habe mir angeschaut, welche archäologischen Funde die sprachwissenschaftliche Forschung und das Postulat von der Ursprache und dem Urvolk untermauern würde. Und nach heutigem Wissenstand gibt es da nichts, was eindeutig wäre."
    Gleiches gelte auch in der Linguistik, in der Biologie, in der Mythologie. Der Sorbonne-Professor resümiert: die Proto-Indo-Europäer - unsere Ur-Ahnen ... - nichts als ein Mythos, eine Legende.
    "Die Europäer befinden sich in einer Lage, die ich als schizophren bezeichnen würde. Alle Völker der Welt besitzen ihren Ursprungsmythos, der erklärt, woher sie stammen oder dass sie von einem Gott erschaffen wurden [und dass sie viel schöner und besser sind als alle Nachbarvölker.] Der Ursprungsmythos der Europäer jedoch, der die Entstehung der Welt und der Menschen erklärt, ist in der Bibel verankert. Und diese Heilige Schrift verdanken die Europäer denen, die sie als ihre ärgsten Feinde sehen, die im Laufe der Jahrhunderte vertrieben, massakriert werden."
    "Fortschrittsgläubige Geister wie allen voran Voltaire suchten die europäischen Ursprünge anders zu bestimmen, in einem anderen Volk inkarniert. Anfangs waren die Gelehrten von Indiens früherer Hochkultur fasziniert. Das war auch der Fall bei den deutschen Romantikern, bei Herder, Schlegel und anderen."
    Demoule beschränkt sich nicht auf die wissenschaftliche Seite. Er beleuchtet gleichfalls die politischen Exzesse, die im Namen des viel beschworenen indo-europäischen Urvolks zu Rassenlehre und Arier-Theorien führten. Der Mythos vom reinrassigen europäischen Urvolk beflügelt rechtsextreme Kreise bis heute. Und ist der Grund, weshalb französische Medien vehement auf die Diskussion seiner Thesen eingehen. Die Tageszeitung Le Monde bezeichnet seine wissenschaftliche Dokumentation als 'explosiv'. Wie explosiv, das zeigt auch die Reaktion von Emilia Masson, Mitglied des französischen Wissenschaftsrats CNRS.
    "Was mich an Demoules Buch stört, ist, dass er sich nicht strikt auf Wissenschaftliches begrenzt, sondern dass er auch die Politik, Nationalismus und Rassismus mit einwebt."
    Emilia Masson forscht seit Langem zur Entwicklung der Schriftsprache, anhand der Schrifttafeln der Hethiter.Das Hethitische gilt als älteste bekannte indo-europäische Sprache. Masson lehnt vehement Demoules These ab, die indo-europäische Ursprache sei nichts als ein konstruierter Mythos. Sie verweist auf die protohistorischen Felszeichnungen in den südfranzösischen Alpen, die sie seit nunmehr einem Vierteljahrhundert erforscht. Die Gravuren am dortigen Mont Bego repräsentieren für Emilia Masson die letzte Stufe vor der Einführung der Schriftsprache. Hier hätten Indo-Europäer ihren Göttern gehuldigt, ihr Weltbild-Konzept verewigt.
    "Jean-Paul Demoule scheint mir kaum die richtige Person beim Thema der Indo-Europäer. Als Archäologe, spezialisiert auf Vor- und Frühgeschichte, arbeitet er im allgemeinen nicht mit Schriftzeugnissen. Hat also keinen Zugang zu philologischen, linguistischen, grammatikalischen Feinheiten. Ohne die genaue Kenntnis dieser Quellentexte jedoch fehlt ihm der richtige Einblick in die Sprachen, in die Kulturen. Schließlich vermitteln die Schriftzeugnisse die Traditionen einer Gemeinschaft, ihre sozialen Strukturen, ihre religiösen Praktiken. Dass Demoule die Existenz der Indo-Europäer anzweifelt, ist somit gewissermaßen normal."