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Sprengstoff für den geeinten Kontinent?

Im polnischen Schlesien formiert sich eine neue Autonomiebewegung, Waliser und Schotten wollen weg von England, Katalonien hadert mit Spanien. Populistisch ausgeschlachtetes Identitätsgefühl kombiniert mit handfesten Machtinteressen kann zum Sprengstoff für die Vision eines geeinten Europas werden.

Von Mirko Schwanitz | 26.12.2012
    Ist die durch die internationale Finanzkrise ausgelöste Osteoporose der Europäischen Union noch aufzuhalten? Das Röntgenbild Europas zeigt einen überraschenden Befund: Die Knochen der Patientin werden an Stellen porös, wo die Experten es am wenigsten erwartet hatten. Dort nämlich, wo sie historische Brüche längst verheilt glaubten - Waliser und Schotten wollen weg von England, Katalonien hadert mit Spanien und im polnischen Schlesien formiert sich eine neue Autonomiebewegung. Müssen wir Angst vor einem Zeitalter neuer Kulturkonflikte haben? Nein, sagt Peter Mares, beim Institut für Auslandsbeziehungen zuständig für den Bereich Konfliktprävention.

    "Wichtig ist zu sehen, dass Konflikte nichts Negatives sind. Sie sind für mich eher positiv besetzt, denn sie sind ein Motor, eine treibende Kraft bei Entwicklungen. Sodass für mich Konflikte immer nur die Frage mit sich führen, wie gehen wir damit um und wie können wir Gewalt ausschalten oder raushalten."

    Der erste in diesem Jahr nach langer Regierungskrise beigelegte Konflikt zwischen Flamen und Wallonen gibt einen Hinweis darauf, wo eine der Bruchstellen in der Zukunft verlaufen könnte - entlang nach wie vor vorhandener Sprachgrenzen. Künftige Kulturkonflikte könnten damit genau das betreffen, was alle Europäer – einschließlich der Einwanderer - als Fundament ihrer Kultur und Identität betrachten.

    "Und dadurch ist für mich immer wichtig, in der Kultur ein Mittel der Abgrenzung zu sehen nicht zwingend negativ, sondern positiv zu sehen für den Lauf der Geschichte: Wer bin ich im Gegensatz zu anderen? Problematisch ist es, wenn ich meine Identität über die anderer setze, dann habe ich den Konflikt. Zurückzugehen auf Identität ist für mich immer die Frage der Gruppenzugehörigkeit, was eben auch in Populismus ausarten kann. Und das ist schon Missbrauch von Kultur."

    Diesen Populismus macht auch Hanna Reich, lange Jahre beim Berghof-Forschungszentrum für konstruktive Konfliktbearbeitung tätig, als einen der Hauptgründe für die Krankheitssymptome Europas aus. Sprachen- und Religionskonflikte sind für sie nicht Ursache der europäischen Osteoporose, sondern Folge von Machtinteressen, die der Vision der Europäischen Union zutiefst widersprechen.

    "Wir haben in diesem Konzept, was sehr wirtschaftlich aufgebaut wurde, wichtige Komponenten vergessen, weil eine Ökonomisierung des Sozialen, wo plötzlich Menschen sehr stark nach Leistung und Erfolg bewertet werden, dazu führen, das stärker andere Gruppen abgewertet werden. Natürlich findet dann auch dieses ‘invented of tradition’ statt. Also dass eine Gruppe ihre gemeinsame Tradition wieder erfindet, um sich als eigene Gemeinschaft zu definieren, ist etwas ganz Selbstverständliches. Was ich dann schwierig finde, ist, wenn es passiert in einem Zusammenhang der Abwertung des Anderen."

    Zu beobachten etwa, wenn der Kapitän der Walisischen Nationalmannschaft bei der Europameisterschaft der europäischen Minderheiten vor der Presse davon spricht, das er niemanden so sehr hasse wie die Engländer. Oder in Ungarn, wo ein Parlamentarier die Erfassung von Juden fordert. In solchen Äußerungen offenbart sich ein Denken, das Sprengstoff für die Vision eines geeinten Europa ist. Soziologen wie der Bielefelder Professor Wilhelm Heitmeyer prägten für diese sich verstärkenden Prozesse bereits den alarmierenden Begriff der "gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit". Der Begriff beschreibt ein Verhalten, das in allen gegenwärtigen Konflikten in Europa zu beobachten ist. Hanna Reich ist besorgt:

    "Ich glaube, dass momentan das Problem der gruppenbezogenen Menschenfeindlichkeit gefährlicher wird. Wir haben derzeitig nicht gewalttätig ausgetragene Konflikte. Aber das bedeutet, dass wir gerade jetzt daran arbeiten müssen, dass es nicht gewalttätig eskaliert. Das wäre vielleicht etwas, das wir bräuchten in einem Europa – ein Fach "Konfliktkultur". In dem wir wirklich lernen, das praktiziert wird, wie man Konflikte austragen kann, ohne auf Positionen zu verharren ohne zu sagen meines ist richtig oder meines."

    Konfliktbeobachter wie Hanna Reich und Peter Mares plädieren deshalb dafür, solche Schulfächer in allen europäischen Ländern nach gleichen Standards und mit gleichen Inhalten einzuführen.

    "Dadurch kreieren wir einen Bereich, in dem wir das Ganze reflektieren können, einen reflektierenden Erfahrungsraum. Ja, also es muss wirklich nachhaltig an unserem Bildungskonzept gearbeitet werden. Unsere Schulbücher! Wir müssen gucken, inwieweit sind die eigentlich europatauglich? Inwieweit sind die Stereotypen, die wir da verbreiten, unser kulturelles Gedächtnis."

    Es geht also darum zu erkennen, wie unser heutiges kulturelles Gedächtnis Stereotype befördert. Die Bildungs- und Kulturpolitik aller EU-Staaten unter dem Aspekt der Werte eines geeinten Europa unter die Lupe zu nehmen, sei eine der wichtigsten Aufgaben für die Zukunft. Nur so, argumentieren Hanna Reich und Peter Mares mit Blick auf die regionalen Konflikte in Europa, ließen sich die Werte der Europäischen Union auch im kulturellen Gedächtnis jedes einzelnen langfristig verankern.

    Serie im Überblick:
    Clash of Cultures - Neue Kulturkonflikte