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Staat und Religion
Wie sich der Protestantismus mit der Demokratie anfreundete

Protestantismus und Demokratie: lange Zeit eine höchst ambivalente Beziehung. Warum tat sich gerade in Deutschland auch die evangelische Kirche so schwer mit der demokratischen Staatsform? Die Gründe reichen bis zu den Wurzeln der Reformation, sagt der Kirchenrechtler Hans Michael Heinig.

Hans Michael Heinig im Gespräch mit Sven Töniges | 21.12.2015
    Ein Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz
    Denkmal Luthers auf dem Wittenberger Marktplatz (Hendrik Schmidt / dpa)
    Sven Töniges: Das Jubiläumsjahr der Reformation rückt näher: Offiziell los geht es erst in zehn Monaten, ab dem 31. Oktober 2016. Ab dann gedenkt die evangelische Kirche ein Jahr lang des 500. Jahrestages des Beginns der lutherischen Reformation.
    Längst hat auch die Bundesregierung eine "Positionsbeschreibung" zum Reformationsjubiläum vorgelegt. Also so etwas wie die amtliche Sicht auf die Reformation. Das Papier nennt die Reformation das, was sie fraglos war: Eines der zentralen Ereignisse der deutschen Geschichte. Und, so heißt es da weiter: "Die Aufklärung, die Menschenrechte und auch die Demokratie heutiger Prägung wurden durch die Reformation entscheidend beeinflusst".
    Das wollen wir uns jetzt etwas genauer anschauen. Denn ganz so einfach, ganz so linear ist diese Geschichte vielleicht nicht. Der Protestantismus, also das Produkt der Reformation, und die Demokratie: Das Verhältnis zwischen beiden war über lange Zeit nicht das Beste. Und hat sich nicht gerade der deutsche Protestantismus ziemlich schwer getan mit der Staatsform Demokratie? Darüber habe ich gesprochen mit Hans Michael Heinig. Er ist Professor für Öffentliches Recht in Göttingen und Chef des Kirchenrechtlichen Instituts der Evangelischen Kirche.
    Und Hans Michael Heinig forscht genau zum Thema, unter anderem in der DFG-Forschergruppe "Protestantismus in den ethischen Debatten der Bundesrepublik". Ich habe ihn gefragt, ob er sich diese Beschreibung der Reformation als Motor der Demokratie, ob er sich die zu eigen machen würde.
    Hans Michael Heinig: Wirkungsgeschichte der Reformation – das zeigt ja gerade das Jubiläum oder das Erinnern an das bevorstehende Jubiläum – ist auch von Ambivalenzen gekennzeichnet. Die evangelische Kirche hat sich lange mit der Demokratie schwer getan – nicht ganz so schwer wie die katholische Kirche, aber auch sehr schwer – und hat diese Erblast erst in der neueren Geschichte dann überwunden. Also man muss sehr zwischen der Ideengeschichte des Christentums und der Wirkungsgeschichte der Kirche unterscheiden, damit man ein ganzheitliches Bild von den Ereignissen bekommt.
    Töniges: Wenn wir das geschichtlich aufziehen, warum tat sich der Protestantismus, insbesondere der deutsche Protestantismus besonders schwer mit der Demokratie?
    Luthers Pakt mit den Landesherren
    Heinig: Ich glaube, es gibt ein ganzes Bündel an Gründen, das man das festmachen muss. Zum einen war es ja nicht nur der Protestantismus, sondern die Deutschen insgesamt taten sich schwerer als einige europäische Nachbarn oder die Bevölkerung in Nordamerika. Aber wenn wir theologiespezifisch schauen, dann können wir ganz zu den Wurzeln der Reformation noch mal zurückgehen und uns daran erinnern, dass die Reformation Luthers nur gerettet werden konnte, indem die sich gründende evangelische Kirche eine Pakt mit den Landesherren damals einging. Das so genannte landesherrliche Kirchenregiment bildete sich aus, weil die damaligen Bischöfe nicht bereit waren die Reformation mitzugehen, irgendjemand die Kirche leiten musste, eine gewisse Ordnung in der Kirche ja auch erforderlich ist, wie man damals feststellte. Und das übernahm der Staat, der Landesherr. Daraus entstand eine sehr enge Verbindung mit dem sich ausbildenden neuzeitlichen obrigkeitlichen Staat.
    Töniges: Und so was wie eine Win-win-Situation. Die Territorialfürsten, die Landesherren sind auch auf den Geschmack gekommen und haben durchaus den politischen Nutzen und den Disziplinierungsnutzen des Bündnisses mit dem Altar gesehen.
    Heinig: Die Kirche der Reformation konnte deshalb politisch überleben. Und umgekehrt sahen die Fürsten zum einen hierin eine Möglichkeit, sich vom Kaisertum zu emanzipieren und zum anderen Religion zu instrumentalisieren zu Zwecken der Sozialdisziplinierung, in der Tat. Und erst im 19. Jahrhundert bildeten sich dann doch starke Autonomiebestrebungen innerhalb der evangelischen Kirche aus, die dann zu so etwas wie ersten Synodalbewegungen oder der Auslagerung der Kirchenverwaltung aus der Staatsverwaltung führten.
    Töniges: Wenn wir den Protestantismus im Kaiserreich etwas genauer in den Blick nehmen, wie sieht es da aus? Wir haben eine starke protestantische Dominanz, das Kaiserreich ist mehrheitlich protestantisch geprägt, es ist quasi eine Staatskirche. Wie entwickelt sich das Verhältnis weiter?
    Heinig: Es gibt maßgebliche Bestrebungen im Protestantismus, die mehr Autonomie fordern, aber keine völlige Loslösung. Also die Idee des Leitbilds des christlichen Staates ist doch weitgehend konsensfähig in der damaligen Zeit. Dass der Landesherr zugleich Schutzherr der Kirche ist, das nimmt man gerne hin. Und das geht einher zu der damaligen Zeit mit einer relativ pessimistischen Anthropologie, also einem Menschenbild, das stark von der Sündhaftigkeit des Menschen ausgeht und deutliche Skepsis gegenüber eine forcierten Aufklärung, dem Liberalismus, dem Individualismus - Bestrebungen, die in dem 19. Jahrhundert dann auch starke kulturprägende Wirkung entfalteten. Und die Mehrzahl der Protestanten zeigte sich kritisch dem gegenüber. Das ist die Gemengelage, die dann im Kaiserreich dazu führt, dass die evangelische Kirche zur der Zeit noch nicht maßgebliche Trägergruppe einer demokratischen Bewegung war. Eher im Gegenteil.
    Töniges: Gleichzeitig gibt es eine starke liberale Strömung in der protestantischen Theologie. Wir haben hier im Programm zuletzt noch mal prominent Ernst Troeltsch vorgestellt. Warum geriet diese liberale Strömung ins Hintertreffen?
    Heinig: Ja, es ist eine liberale Theologie, aber die ist nicht automatisch politisch liberal. Liberal in dem Sinne, dass sie bestimmten aufklärerischen Traditionen sich verpflichtet, das Individuum ganz in den Mittelpunkt stellt – insoweit schon. Aber diese politische Liberalität, die gerät im 19. Jahrhundert eher in die Defensive. Das merken wir zum Beispiel am Verhalten von Bismarck, der ursprünglich als Liberaler gestartet war und als Konservativer endete. Und das merken wir auch an einer Figur wie Ernst Troeltsch, der später dann einer der wenigen republiktreuen Demokraten war, aber 1917 sich hat hinreißen lassen kriegsverherrliche Texte zu schreiben, in denen der deutsche Geist beschworen wird und seine Überlegenheit gegenüber der französischen Zivilisation. Also da sieht man, wie anfällig auch die sogenannten liberalen Theologen in der damaligen Zeit waren.
    Töniges: Blicken wir auf die Weimarer Republik, blicken wir auf die Zeit nach 1918. Wie ist es da um die innerprotestantischen Befindlichkeiten bestellt? Wie würden Sie das beschreiben?
    "Trauerarbeit" in Weimar
    Heinig: Trauerarbeit war angesagt. Die evangelische Kirche war mental nicht vorbereitet auf das, was dann kam. Auf die republikanische Staatsform, auf die Abschaffung der Staatskirche, auf ein sich selbst als säkular begreifenden Staat, der republikanisch und demokratisch ausgerichtet war. Ein berühmter Staatsrechtslehrer der damaligen Zeit, Rudolf Smend, hat da eigentlich in ganz schöne Worte gefasst. Man werde sich loyal zur Obrigkeit verhalten, weil das das Traditionsgut, das evangelische, sei, das mit Luthers sogenannter Zwei-Reiche-Lehre verbunden ist. Also die Obrigkeit ist von Gott eingesetzt, sie herrscht und das ist eben auch jetzt die neue demokratische Regierung. Insoweit ist man ihr gegenüber loyal. Aber das Kaiserhaus oder die Fürsten als Schutzmächte der Kirche, die die Cura religionis, die Religionssorge auch für sich in Anspruch nahm, der sei man doch einfach näher gewesen und dabei bleibt es auch.
    Töniges: Das heißt, das Ganze ist theologisch grundiert. Da kommt sicher auch in den 20er Jahren, in den späten 20er Jahren, der Name Barth ins Spiel. Spielt Karl Barth eine bedeutende Rolle in diesem Zusammenhang?
    Heinig: Ja, liberal und konservativ sind Schlagworte, die wir heute benutzen, um das Gefüge zu beschreiben. Tatsächlich waren die Verhältnisse dann doch noch viel komplexer. Wir hatten Lutherorthodoxie eines Karl Holl. Wir hatten volks- und ordnungstheologische Vorstellungen, die später dann von den Deutschen Christen adaptiert werden konnten. Und wir hatten religiöse Sozialisten. Und zu denen gehörte dann später vielleicht auch zu Teilen Karl Barth, der aber in Weimar noch so eine Theologie der Krise betrieb. Also eine modernitätskritische Theologie, die gar nicht so weit entfernt war von einer politischen Theologie Carl Schmitts, der später dann Kronjurist des Nationalsozialismus werden sollte. Die Krisenwahrnehmung, die Krisenerscheinungen dominierten damals auch das theologische Denken, so dass man von einem gelassenen liberal-demokratischen Selbstbewusstsein, auch bei Karl Barth in der damaligen Zeit wirklich nicht sprechen konnte.
    Töniges: Und Barth und Carl Schmitt und die politische Theologie, ein politisches Verständnis von Theologie hatte gemein die Ablehnung von Demokratie oder eine eindeutige Distanz zur Demokratie.
    Heinig: In seinem theologischen Denken, jedenfalls in seiner theologischen Existenz war er in den Anfängen in Weimar sehr darauf bedacht kenntlich zu machen, dass vom Christentum kein direkter Weg zur Bejahung einer demokratischen Staatsform führt. Und diese Position hat er später dann revidiert. Aber am Anfang war er doch sehr klar, dass er die liberale Tradition der Theologie als "Entartung" etwa beschrieben hat und von einer besonderen Affinität des Christentums zur Demokratie bei ihm dezidiert nicht die Rede war am Anfang.
    Keine "Stunde Null"
    Töniges: Die Deutschen Christen haben Sie schon erwähnt. Wie sieht es mit der Bekennenden Kirche während der Zeit des Nationalsozialismus aus? Welches Demokratieverständnis liegt da vor?
    Heinig: Die Bekennende Kirche war eine sehr heterogene Bewegung und wir können dort ebenso engagierte Demokraten in der Rückschau festmachen wie Trägergruppen, die eher eine ständestaatliche Neuorientierung Deutschlands sich vorstellen konnten. Also auch hier kann man nicht sagen, dass es politisch eindeutig ist. Die Bekennend Kirche hat ja vor allen Dingen zum Ziel, das Evangelium in der Kirche zu verteidigen. Es war eben keine Widerstandsbewegung gegenüber dem Nationalsozialismus – nicht primär. Solche Gruppierungen stießen auch dazu, aber im Kern ging es darum die Wahrheit des Evangeliums zu verteidigen und nicht eine demokratische politische Ordnung.
    Töniges: Wie sieht es nach 1945 aus? Man würde jetzt meinen, dass der Protestantismus nach 1945 Lehren aus dem NS ziehend ein wohlwollendes Verhältnis zur Demokratie entwickelt hat. War das so?
    Heinig: '45 beginnt schon eine Zäsur, die zugleich aber sich in der Rückschau eher als ein schleichender Übergang darstellt. Also die evangelische Kirche wurde von einer vordemokratischen Institution, was Fragen der politischen Ordnung angeht, zu einer maßgeblichen Trägergruppe der Bonner Republik – aber das in Etappen, langsam.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.