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Staatsfeind oder Aufklärer?

Die Enthüllungsplattform WikiLeaks macht macht weder vor Kriegsverbrechern oder Steuersündern noch vor lästernden Botschaftern halt. Die beiden Spiegel-Redakteure Marcel Rosenbach und Holger Stark gehen in ihrem Buch der Mission der Internetseite auf den Grund.

Von Mirko Smiljanic | 24.01.2011
    Am 4. Oktober 2006 – im rasenden Internetzeitalter war das vor gefühlten Jahrzehnten – bittet Julian Assange den Cyberaktivisten John Young um einen Gefallen: Gemeinsam mit Freunden möchte er eine Website betreiben, auf der massenhaft vertrauliche Informationen aus Politik und Wirtschaft veröffentlich werden sollen. Die Domain müsse aber von einer Person "mit Rückgrat" angemeldet werden. Ob Young, der schon ein vergleichbares Portal betreibt, das erledigen könne, wollte Assange wissen. Young konnte und ließ die Adressen "wikileaks.org", "wikileaks.cn" und "wikileaks.info" registrieren.

    "WikiLeaks kann der mächtigste Geheimdienst der Welt werden, ein Geheimdienst des Volkes... ", schrieb Assange ein paar Monate später in einer Selbstdarstellung, ein Satz, den seine Freunde und Unterstützer als üblichen Superlativ des schon damals unter Dauerstrom stehenden Australiers ablegten. Kaum einer konnte sich die Wirkung von WikiLeaks ausmalen. Mit Ausnahme des rast- und ruhelosen Julian Assange – eine Eigenschaft, die viel mit seiner Biografie zu tun hat. Seine Eltern betrieben bis zu ihrer Trennung einen Wanderzirkus, anschließend zog seine Mutter mit ihm auf eine kleine Insel vor der australischen Ostküste, heiratete einen gewalttätigen Musiker, bekam einen zweiten Sohn und trennte sich wieder.

    "Wir müssen jetzt verschwinden, eröffnet sie ihrem ältesten Sohn. Damit beginnt die zweite Odyssee in Julians Kindheit; es ist diesmal keine Theatertournee, sondern eine Flucht, die seine Mutter mit ihren beiden Kindern quer durch den australischen Kontinent führt. Sie leben und reisen teilweise unter falschen Namen, immer in panischer Angst vor dem Musiker."

    Minutiös – schon das macht "Staatsfeind WikiLeaks – Wie eine Gruppe von Netzaktivisten die mächtigsten Nationen der Welt herausfordert" lesenswert – minutiös zeichnen Marcel Rosenbach und Holger Stark das Leben des WikiLeaks-Gründers nach: dass er nur unregelmäßig Schulen besuchte, dass er introvertiert war, dass er nur wenige Freunde hatte, dass er Physik und Mathematik ohne Abschluss studierte, dass er schon früh seinen Intelligenzquotienten testen ließ, der angeblich bei sensationellen 140 Punkten liegt – ein Wert, den er bis heute jeden normalintelligenten Menschen spüren lässt, der ihm begegnet. Assange passt in kein Klischee – weder sozial noch politisch.

    "Assange hat das Staatsverachtende eines Anarchisten und die Unerbittlichkeit eines Stalinisten, aber er ist kein klassischer Linker. Er ist ein Kind der neuen Linken und der Achtundsechziger-Bewegung, er ist antiautoritär erzogen worden und hat den Geist jener Generation geatmet, die mit Begriffen wie Freiheit, Selbstverwirklichung und Autonomie hantiert und die gegen Krieg und Imperialismus auf die Straße ging."

    Detailreich beschreiben Rosenbach und Stark die Entwicklung WikiLeaks von den Anfängen bis zum Showdown im Jahre 2010, in dem vier Veröffentlichungen – das Collateral-Murder-Video, die Kriegstagebücher aus Afghanistan und dem Irak, sowie die Botschaftsdepeschen – die mächtigsten Nationen mit weitreichenden Konsequenzen herausfordern. Das Imperium schlägt zurück: Es lässt Server abschalten und Konten sperren – und stellt plötzlich dreierlei fest: Was immer die USA auch tun, WikiLeaks lässt sich nicht mehr aus dem Netz verbannen; zweitens solidarisieren sich immer mehr Menschen mit den Whistleblower-Methoden; und drittens sehen sich die mächtigsten Staaten der Welt inmitten eines Kulturkampfes, der weit über die Person Julian Assange hinausreicht. Die Frage nach öffentlicher und geheimer Diplomatie steht unvermittelt im Raum; ein Thema, das schon Immanuel Kant beschäftig hat.

    "Alle auf das Recht anderer Menschen bezogene Handlungen, deren Maxime sich nicht mit der Publizität verträgt, sind Unrecht."

    Eine radikale These, die Kant – vereinfacht formuliert – damit begründet, Individuen, worunter er Menschen und Staaten fasst, würden Widerstand gegen Ungerechtigkeit leisten, wenn sie nur davon wüssten! Ein Frontalangriff gegen jede Geheimdiplomatie und eine philosophische Rechtfertigung von WikiLeaks! Damit endet das Buch "Staatsfeind WikiLeaks": mit Ausblicken auf die zukünftigen Kämpfe um die Meinungsfreiheit und auf das Spannungsfeld zwischen Medien, Politik und WikiLeaks. Genau dort beginnt das Buch "WikiLeaks und die Folgen – Netz - Medien - Politik". 16 Autoren beschäftigen sich in fünf Kapiteln mit den Auswirkungen von WikiLeaks auf das Internet, auf die Medien, auf die Diplomatie und auf die Demokratie. Es sind Aufsätze und Interviews, die teilweise schon an anderer Stelle erschienen sind, und die sich dem Phänomen WikiLeaks durchaus kritisch nähern. Der amerikanische Computeraktivist Jaron Lanier stellt etwa fest.

    "Die Strategie von Wikileaks, wie sie Julian Assange dargelegt hat, besteht darin, die Welt transparent zu machen, und zwar in einer Weise, die geschlossene Organisationen hart trifft, wohingegen die offenen unangetastet bleiben. Hier jedoch irrt Herr Assange. In Wahrheit kann ein freier Fluss digitaler Informationen in zwei diametral entgegengesetzte Muster münden: in eine ambitionslose Anarchie auf der einen Seite und in eine absolute Geheimnistuerei, gepaart mit ehrgeizigen Zielen, auf der anderen, ... "

    ... was wir ja tagtäglich zum Beispiel bei Facebook erleben: Da sind die einen, weitgehend sinnfreien Informationen der User frei verfügbar, während die anderen, brisanten Informationen über das Verhalten der User im Internet allerstrengster Geheimhaltung unterliegen. Die Niederländer Geert Lovink und Patrice Riemens stellen zudem fest:

    "Im derzeit aufgeführten Drama' Der Untergang des US-Imperiums' erscheint Wikileaks als Mörder eines eher 'weichen' Ziels. Es wäre schwer vorstellbar, in gleicher Weise gegen die russische oder chinesische Regierung vorzugehen – und selbst in Singapur hätten die großen Enthüller wohl ihre Schwierigkeiten. Die USA sind also ein vergleichsweise leichter Gegner."

    Die Bücher "Staatsfeind WikiLeaks" und "WikiLeaks und die Folgen" sind unbedingt lesenswert. Wer sich mit dem Phänomen "WikiLeaks" gründlich auseinandersetzen möchte, sollte beide kaufen: Es gibt kaum Überschneidungen!

    Marcel Rosenbach und Holger Stark: Staatsfeind WikiLeaks. Wie eine Gruppe von Netzaktivisten die mächtigsten Nationen der Welt herausfordert, Spiegel-Buch, erschienen im DVA Verlag. 336 Seiten. 14,99 Euro. ISBN: ISBN: 978-3-421-04518-8

    Heinrich Geiselberger (Hrsg.): WikiLeaks und die Folgen. Netz - Medien – Politik. Edition Suhrkamp. 238 Seiten. 10 Euro. ISBN: 978-3-518-06170-1