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Stadt und Katastrophe

Ein Reisebericht, der sich über den gesamten europäischen Kontinent erstreckt, und der gleichzeitig nicht weniger anstrebt, als eine Zeitreise durch das zwanzigste Jahrhundert zu unternehmen. Der niederländische Publizist Geert Mak hat sich damit ein geradezu enzyklopädisches Projekt vorgenommen.

Von Sabine Peters | 14.05.2006
    Schon die dickleibigen vorausgegangenen Bücher zeigten, dass Mak eine wichtige Voraussetzung für großen Unternehmungen mitbringt: Er hat einen langen Atem, ohne dass seine Texte etwas Langatmiges an sich hätten. So konnte er das Phänomen des Niedergang der europäischen Dörfer am Beispiel eines einzelnen niederländischen Dorfes unter dem Titel "wie Gott verschwand aus Jorwed" als eine breit angelegte Geschichte erzählen, die aus vielen kleinen konzentrierten Geschichten bestand. Wer dies Buch kennt, ist von ihm nicht nur informiert, sondern auch sensibilisiert worden für Vorgänge, die zwar jeweils schleichend und nur vereinzelt stattzufinden scheinen, die aber überall in Europa ganze Gegenden und Gesellschaften nachhaltig verändern. Maks weitere Veröffentlichungen, eine Geschichte der Stadt Amsterdam und seine Auseinandersetzung mit dem niederländischen Kolonialismus unter dem Titel "das Jahrhundert meines Vaters" wurden ebenfalls Bestseller, und nicht nur in den Niederlanden. Die Beliebtheit seiner Bücher hat wesentlich damit zu tun, dass sie leserfreundlich geschrieben sind. Dass sie abstrakte Fakten mit konkreten Einzelschicksalen verbinden, dass der Autor immer auch individuelle, oft widersprüchliche Zeitzeugen zu Wort kommen lässt. Und jetzt also die Reise durch europäische Orte und Zeiten. Ein Jahr lang, 1999, ist Mak im Auftrag seiner Zeitung durch die kleinen und großen Orte Europas gereist, und täglich brachte das niederländische Handelsblad einen Beitrag. Auf dieser Grundlage entstand das jetzt vorliegende Buch. Die Landschaften und Städte, die Mak besuchte, stehen für historische Einschnitte, und vor allem für historische Katastrophen: So Verdun, Dachau, Guernica, Auschwitz, Prag, Belfast, Tschernobyl oder Sarajevo.

    Die großen Städte zu Beginn des 20 Jahrhunderts: Aus Bauern werden Städter. Industrialisierung. Das Elend in den Mietskasernen. Streiks und ihre Niederschlagung. Und doch schien die Modernisierung auch Hoffnungen zu verheißen. Da war die Pariser Weltausstellung, auf der man Röntgenapparate bewundern konnte, auch ein völlig neues Phono-Cinematheater mit zitternden Bildern und eine Dampflokomotive, die volle 120 Stundenkilometer fahren konnte. Man würde, so glaubte man zuversichtlich, durch die Entwicklungen der Technik Unvorstellbares erreichen. Geert Mak besucht in Paris ein Flugzeugmuseum.

    " Hierauf basiert also der Fortschritt: Klugheit, Nonkonformismus und vor allem Schneid. Zum Beispiel ... Félix du Temple ... ich sehe ihn vor mir, in seiner Werkstatt. Sein Flugzeug ist eine Art Schwalbe mit sich auf und ab bewegenden Flügeln; oben auf der Flugmaschine ist ein Schiffsruder montiert, daneben ein Kupferkessel mit Dampfpfeife. ... Und das Flugzeug von Lois Blériot selbst. ... In diesem mit Leinwand bespannten Gestell flog er nach England. Kurz vor dem Start drohte das Flugzeug auseinander zu fallen. Der Fischleim, der alles zusammenhielt, löste sich nach und nach. Bevor er in die Luft stieg, fragte er beiläufig, in welche Richtung Dover eigentlich liege. Und dann die Fotos der Flugpioniere. Vonimon (1909, mit Mütze) schaut entschlossen nach vorn; hinter ihm steht ein Motor, der so aussieht, als sei er für ein Frachtschiff bestimmt. Coudron (1910, mit bretonischem Barett) strahlt Ungezwungenheit aus; der hat eine Chance. Gilbert (1910, Anzug und Krawatte) liegt wie ein ordentlicher Familienvater in einer Art Hängematte unter seinem Bambusflugzeug. Das ganze Ding ist mit Troddeln verziert. Ich schaue Octave Gilbert in die Augen. Seine väterlichen Hände halten angespannt die dünnen Steuerseile fest, die mit den beiden Rädern des Fahrwerks verbunden sind und an einem Fahrrad gute Dienste leisten würden. Angst, Würde, alles an ihm ordnet sich dem Fortschritt unter. Sein Gesichtsausdruck ist voller Mut und Verzweiflung."

    Das zwanzigste Jahrhundert als ein großer Sprung nach vorn? Ja - wenn man sich die rasante technische Entwicklung klarmacht, wenn man die neu entstandene Architektur aus Eisen und Glas ansieht, wenn man Namen wie Siegmund Freud, Ludwig Wittgenstein, George Grosz, Gustav Mahler denkt. Ein großer Sprung nach vorn? Nein. Die Ideen der Aufklärung sind durch zwei Weltkriege, durch die Shoa in immer noch unfassbarem Ausmaß beschädigt worden. Gerade in den zu Beginn des Jahrhunderts sich entwickelnden Hauptstädten wie Berlin, Wien, Paris sieht Mak die Gegenbewegung zur Modernisierungs-Euphorie, eine starke Modernisierungsangst. Daraus war etwas zu machen: Antisemitische Propaganda hatte sehr früh, längst vor den dreißiger Jahren Erfolg, ein Sündenbock war in den Juden gefunden. Dazu kamen patriotistische, nationalistische Strömungen, die speziell in der stark militarisierten deutschen Gesellschaft nach 1900 großen Zulauf fanden. Krieg als Ventil für soziale Spannungen und Angst. Krieg auch als Ventil für überschüssige Kraft, wie Stefan Zweig vermutete. Krieg als romantischer Heldenkampf, als Feld der Ehre - in diesem propagandistischen Getöse des Jahres 1914 zerfielen Pläne für einen internationalen Generalstreik. Der Satz des deutschen Kaisers illustriert beispielhaft, dass die Interessengegensätze zwischen unterschiedlichen Parteien, zwischen oben und unten eingeebnet wurden: Er behauptete, er kenne keine Parteien mehr, er kenne nur noch Deutsche. Und so zogen die Europäer in das, was später erster Weltkrieg genannt wurde: Am Anfang manchmal noch in bunten Uniformen und lanzenbewehrt, ritten sie in das Knattern hochmoderner Maschinengewehre auf der gegnerischen Seite. Die Urenkel derer, die etwa in den Schützengräben von Verdun fielen, können diesen historischen Platz heute wie ein makaberes Disneyland bestaunen, für sie ist der erste Weltkrieg nicht mehr mit starken Emotionen verbunden. Und was ist mit ihren Vätern und Großvätern, was haben sie aus der Erfahrung des ersten Weltkriegs gemacht? Die entstehende Sowjetunion wurde in Westeuropa als Bedrohung empfunden, man fürchtete nicht zu Unrecht, die sozialistische Bewegung könnte überschwappen. Überall formierten sich Gegenbewegungen. Die Weimarer Republik hatte zudem auszubaden, was Kaiser und Generale lieber den Sozialdemokraten überließen, den Versailler Friedenschluss. Mak erklärt, ein Großteil der obrigkeitshörigen Bevölkerung habe den abrupten Wechsel von einem halbabsolutistischen Staat hin zu einer parlamentarischen Regierung nicht nachvollziehen können. Aber auch in Ländern wie Italien, Frankreich oder Spanien sieht er die zunehmende Neigung - und nicht zuletzt die der Intellektuellen - zum autoritären Staat. Hitler wurde durchaus als treibende Kraft gegen den Bolschewismus verstanden. Mak lässt diverse Zeitzeugen zu Wort kommen, die schildern, wie noch 1940 die doch sehr unterschiedlichen Bevölkerungen eines ganzen Kontinents tief beeindruckt gewesen seien von der "Dynamik", von der "Vitalität" der Nazis, die sich nach 1933 ein Land nach dem anderen einverleiben konnten. Mak spielt die Hauptverantwortung der Deutschen auch für den zweiten Weltkrieg nicht herunter, benennt aber darüber hinaus das Versagen anderer Länder: Österreich bejubelte den Anschluss. Oder: In Italien und Spanien herrschten Mussolini und Franco. Oder: Weder England noch die USA waren bereit, zur Rettung der Juden in den Krieg zu ziehen - diese und andere Fakten sind bekannt.

    Die Voraussetzungen und Besonderheiten der Jahre 1900 bis 1945 nehmen knapp zwei Drittel von Maks neuem Buch ein. Und gelegentlich fragt man sich beim Lesen, ob das erzählerische Abschreiten von Orten wie Frankfurt und Amsterdam, ob die Umschau vom heutigen Warschau ins frühere Stalingrad, ob der Blick von Vichy bis Dresden nicht zwangsläufig an der Oberfläche bleiben muss. Bleibt es in diesem Buch für jeden Leser, der sich mit europäischer Geschichte beschäftigt hat, beim bloßen Wiedererkennungswert? Man bedauert auch, dass dem Autor im Verlauf seiner Arbeit einige seiner vielen Fäden abhanden kommen; so findet man für die Jahre 1945 bis 2000 kaum noch Darstellungen der technischen und kulturellen Entwicklung. Ein anderes Problem von Geert Maks Projekt ist, zumindest teilweise, die Argumentation. Hier wird oft weniger analysiert, als moralisiert. Dass Hitler sich von den großen Konzernen finanzieren ließ, wird konstatiert - natürlich streben Politiker nach Macht. Helle Empörung zeigt Mak dagegen über den nach Macht strebenden Politiker Lenin: Die Oktoberrevolution von 1918 wurde auch vom deutschen Außenministerium mitbezahlt. In Lenin und den deutschen Diplomaten fanden, gelinde gesagt, sehr unterschiedliche Ideologen bzw. Realpolitiker zueinander: Die Deutschen wollten Frieden an der Ostfront, Lenin brauchte ihn, um die bolschewistische Revolution voranzutreiben. - Obwohl dies Buch so umfangreich ist, muss der Autor natürlich Fakten kürzen, zusammenfassen. Daher wirken einige Kapitel zumindest fragwürdig. So die Auseinandersetzung mit dem Hitler-Stalin-Pakt von 1939.

    " Sowohl Hitler als auch Stalin waren ultraradikal. Um ihre Utopien zu verwirklichen, gingen beide bis zum Äußersten. Doch Stalin war ein Revolutionär, während man Hitler, der immer die etablierten Mächte beschützte, nicht als einen solchen bezeichnen kann. Und Stalins Wunschvorstellung war in gewisser Hinsicht auch rationaler und optimistischer. Der ideale Mensch und die ideale Gesellschaft entstanden Stalin zufolge nicht durch Geburt und Selektion der Rasse, sondern waren Ideale, die geschaffen werden konnten. Ein Krimineller konnte zu einem guten Bürger umerzogen werden, die rückständigen russischen Massen konnten zum Baustein der neuen Gesellschaft umgeformt werden. ... Massenmord war für ihn darum auch kein Endziel, sondern ein revolutionäres Mittel zum Aufbau seines idealen Sowjetstaats. ... Hitler und Stalin litten beide an einer Art gesellschaftlichen Sauberkeitsfimmel. Sie verabscheuten alles, was ihre erhabene Ordnung durcheinander bringen konnte, und versuchten, jede Abweichung mit Stumpf und Stiel auszurotten. ... Beide strebten eine "reine" Gesellschaft an und hatten bei der Verwirklichung dieses Ziels nicht die geringsten moralischen Skrupel. Doch während Hitlers Blut- und Boden-Fanatismus auf dem Gedankengut der Romantik basierte, folgte Stalin dem Machbarkeitsideal der Aufklärung bis zur perversesten Konsequenz."

    Trotz allem, was an diesem Gedankengang unmittelbar plausibel scheinen mag, bei längerem Nachdenken stellen sich doch Zweifel ein. Ist es nicht etwas holzschnittartig, Hitler zum Romantiker, Stalin zum Aufklärer zu stilisieren? Wird hier nicht ein äußerst komplexes Phänomen durch ein Jonglieren mit Abstrakta handhabbar gemacht? Stalin war doch wohl eher ein Feudalherr als ein Revolutionär.

    (Und die Sowjetunion als Mittelpunkt der Weltrevolution? Diese Einschätzung mag zwar weit verbreitet gewesen sein, erscheint allerdings nicht erst im Nachhinein naiv. Denn die exilierten Kommunisten konnten von den stalinistischen Verbrechen etwa in den Moskauer Schauprozessen wissen. Und die Verstörung der Antifaschisten Westeuropas angesichts des Hitler-Stalin-Paktes war immens.)

    Weiter: Was ist rational gewesen daran, dass Stalin in Erwartung des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion die Spitze von Partei und Armee vernichtete, zahllose Kommunisten, Revolutionäre und fortschrittliche Intellektuelle umbrachte? Oder andersherum: Hatte nicht auch der Faschismus durchaus rationale Ziele wie beispielsweise die Organisation und Konzentration der Produktivkräfte? War es nicht rational, nach der Zerschlagung der Gewerkschaften die Arbeitsfront einzurichten, mithin störende Klassenkämpfe abzuschaffen? So ausführlich auch die Zeit zwischen 1933 und 1945 geschildert wird, hier könnte man immer wieder nachfragen oder ergänzen.

    (Immerhin: Was die "Rationalität" des Nationalsozialismus anlangt, thematisiert Mak selbst an anderer Stelle, unter Berufung auf Sebastian Haffner, den Unterschied zwischen Nazi-Ideologen und Nazi-Technikern. Die Beunruhigung ging für Haffner eher von den so genannten Technikern oder Managern, von rationalen, intelligenten Leuten wie Hitlers Gewährsmann, dem Architekten und Politiker Albert Speer aus. Der war kein abstoßender pittoresker Bösewicht, kein Rassefanatiker. Haffner betont, dass gerade das Fehlen von psychologischem und seelischen Ballast Albert Speer völlig ungezwungen die Maschinerie des Faschismus handhaben ließe. Man könne die Hitlers und Himmlers loswerden, die Technokraten aber würden länger bleiben. Das ist auch Geert Maks Sorge. Auf seinen Wegen etwa im heutigen Sarajewo stellt er fest, dass Verfolgungen von Minderheiten mit modernsten Techniken, bürokratischen Apparaten, Repressions- und Manipulationssystemen - und eben geleitet durch "Techniker" jederzeit und überall stattfinden können. Und angesichts des Bürgerkriegs in Irland kommt er zurück auf die ewigen Fragen, die alle Toten aller Kriege stellten. Sie lauteten, so Mak, entweder: "Ist es nicht genug, sind nicht zu viele gefallen?" Oder aber: "Soll das etwa alles gewesen sein, sind wir dafür gestorben, warum kämpft ihr nicht weiter?" Der Einfluss der toten Generationen auf die Lebenden ist einer der roten Fäden, die sein Buch durchzieht und der den oft melancholischen Ton bestimmt. )

    Bei aller Kenntnis der europäischen Katastrophen, bei aller Kritik an dem früheren wie heutigen Europa setzt der Autor große Hoffnungen in das Projekt der Einigung, so es denn verbunden wäre mit fortschreitender Demokratisierung. Sein Buch versteht sich einerseits als Plädoyer dafür, einander fortgesetzt die eigenen Geschichten zu erzählen, Verständnis für die andere Seite zu erlangen und so vielleicht die je eigenen nationalen Mythen zu relativieren. Andererseits ist sein Buch selbst eine lose Abfolge von Erzählungen aus den unterschiedlichsten Perspektiven. So wird der phasenweise weit verbreiteten westeuropäischen Naivität oder Ignoranz, die besagte, nach 1989, nach dem unblutigen Zerfall der sozialistischen Länder sei das Ende der Geschichte erreicht, die alltägliche

    Erfahrung der Osteuropäer entgegengehalten. Sie erlebten, so die Aussagen zahlreicher Zeitzeugen, Geschichte einmal mehr als etwas von einem anonymen "Oben" Konstruiertes, sie erlebten den Gewinn der Abstrakta Freiheit und Demokratie konkret als Verlust von sozialer Sicherheit. Allerdings muss man auch hier sagen: Maks im Grunde sympathischer Haltung der Anteilnahme für die Osteuropäer fehlt teilweise die analytische Schärfe. Es ist schwierig, den Autor auf eine klare Position festzulegen. Sein an sich reizvolles "einerseits - andererseits", sein Verfahren, widersprüchliche Zeugenaussagen nicht oder nur selten selbst zu kommentieren, gibt sich als gedankenvolle Ausgewogenheit, vielleicht gar als Neutralität, und man könnte fragen, ob es die in jeglicher Form von Geschichtsschreibung tatsächlich geben kann. Diese Reise durch das zwanzigste Jahrhundert, so muss man wohl sagen, will nicht polarisieren. Mak will sich nicht die Zunge verbrennen, er greift nicht an, wie der Soziologe Jean Ziegler, der immer wieder den immensen europäischen und amerikanischen Einfluss auf die ehemaligen Kolonien, auf die so genannten Drittwelt- und Schwellenländer thematisiert. Mak unterwandert die gängige Geschichtsschreibung auch nicht, so wie es ein Alexander Kluge mit seinen planvoll chaotischen, subversiven Texten unternimmt. Mak will, ähnlich wie Karl Schlögel, Gesprächsangebote machen. Er möchte einladen, das zerrissene Europa zusammenzudenken.

    Bei allem, was einem während der Lektüre an Allgemeinwissen zu viel und an Spezialwissen zu wenig sein mag - es ist Maks Warmherzigkeit und Neugier, die dem Buch immer wieder seinen Charme gibt. Seine Schilderungen der Witterung übers Jahr hinweg, seine Stadt- und Landschaftsbeschreibungen sind äußerst plastisch. Und es sind oft kleine Deatials, die einen für Unterschiede in den verschiedenen Mentalitäten innerhalb der europäischen Bevölkerungen aufmerksam machen. So erfuhr die verblüffte Rezensentin über das heutige Finnland: In diesem kargen kalten Land heißt das Wort für "bunt" sinngemäß "grell", oder gar "augenschmerzerregend". Und eine finnische Bekleidungsfirma wirbt für ihre Anzüge mit der Nachricht: In diesen Kleidern fallen Sie nicht auf. Freude wecken auch die poetischen, geradezu vorbildlichen Namen von Straßen im heutigen Istanbul: Allee des struppigen Bartes. Weg des Huhns, das nicht fliegen kann. Straße des Ibrahim aus der schwarzen Hölle. - Die ewigen Lindenstraßen in baumlosen deutschen Schlafstädten könnten sich ein Beispiel nehmen.

    Wie sehr Europa gealtert ist im zwanzigsten Jahrhundert, wie weit man von den anfänglichen Hoffnungen entfernt ist, wird dem heutigen Leser geradezu schmerzhaft klar, wenn ein sehr alter Mann, ein niederländischer Bekannter Geert Mak zu Beginn seiner Arbeit aus einem 1906 veröffentlichten Buch vorliest, in dem ein junger Mann aus dem 19. Jahrhundert im Jahr 2000 erwacht:

    " Er findet sich in einer Stadt ... wieder. Dank des allgegenwärtigen elektrischen Lichts gibt es keine Dunkelheit mehr. Jedes Haus hat ein Musikzimmer, das über eine Telefonleitung mit einem der städtischen Konzertsäle verbunden ist ... Zu Hause haben wir unsere Bequemlichkeit, aber der Glanz unseres Daseins, an dem wir alle gemeinsam teilhaben, zeigt sich erst in unserem geselligen Leben. ... Geld würde nicht mehr die geringste Rolle spielen. Alle Bürger wären vor Hunger, Kälte und Blöße beschützt, Waren und Dienstleistungen würden über ein geniales Kreditsystem ausgetauscht ... Die Geschlechter würden frei und ungezwungen miteinander umgehen, private Läden wären verschwunden, Reklameschilder gäbe es nicht mehr, Verlage wären Gemeinschaftsbesitz, Zeitungsredakteure würden von den Lesern gewählt ... Erziehung und gute Sitten wären nicht mehr das Monopol einiger weniger, sondern allen gemeinsam ... Niederkniedend, mein Angesicht im Staube, bekannte ich, wie wenig ich wert sei, die Luft dieses goldenen Jahrhunderts zu atmen ... Der lange und traurige Winter der Gattung ist vorüber. Ihr Sommer hat begonnen Die Menschheit hat ihre Puppenhülle durchbrochen. "

    Geert Mak kommt nach mehr als 900 Seiten seiner Reise durch europäische Orte und Zeiten auf diese sozialistisch- anarchistisch angehauchte Utopie des Anfangs zurück. Nach der Lektüre seines Buchs hat man den Eindruck, er selbst setze nun auf einen Kapitalismus mit menschlichem Antlitz. Daher seine Appelle: Europa dürfe nicht zur Festung werden. Europa solle nicht zerfallen in einen übersatten reichen Euro-Block und arme Satellitenstaaten mit nationalistischen Tendenzen. Die Kluft zwischen den Bürgern und ihren Repräsentanten dürfe nicht weiter wachsen. Es brauche ein größeres Interesse am europäischen Parlament, an gesamteuropäischen Medien und Parteien. Einhergehend mit solchen Appellen immer wieder auch Maks Pragmatismus, seine Würdigung dessen, was immerhin bisher erreicht worden sei: Abgesehen vom Krieg in Jugoslawien, der in seinem Buch natürlich thematisiert wird, habe es seit 60 Jahren keine innereuropäischen Kriege mehr gegeben. Zu würdigen wäre Europa auch als größter Wirtschaftsraum der Welt; oder: Die Lebensqualität sei im internationalen Maßstab gesehen vergleichsweise gut, die Einrichtung des europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte sei weltweit einmalig und dergleichen. Man müsse langfristig, in Generationen denken, was die europäische Einigung angehe. Als Mak seine Notizen und Artikel von 1999 in den Jahren 2004/2005 auswertete und bearbeitete, hatte der 11.9.2001 die Welt und mithin auch Europa in unabsehbarer Weise verändert. Natürlich konnte man angesichts der Weltkarte auch vorher schon wissen, wo Europa liegt, und daher etwas bescheiden werden angesichts seiner Größe im Verhältnis zum "Rest". Weitblickend und spöttisch schrieb ein brasilianischer Autor einmal: Die Europäer haben noch nicht verstanden, dass Europa eine relativ kompliziert gegliederte Halbinsel ist, am westlichen Rande Asiens, nördlich von Afrika liegend. Nicht mehr, und nicht weniger. Der Niederländer Geert Mak sieht natürlich auch, wie sich das internationale Machtverhältnis nach dem zweiten Weltkrieg von Europa weg hin zu den USA verlagert hat, er sieht die rasante Entwicklung diverser asiatischer Staaten - aber er besteht auf dem europäischen Projekt. Die Vielgestaltigkeit des Kontinents, so Mak, ist nicht nur seine Schwäche, sie könnte auch zu einer Stärke werden. Und jenseits seiner Appelle betont er als Realist, völlig zurecht: So etwas wie nationale Identität entstand weniger aufgrund schöner Gefühle, sondern hatte, etwa im Frankreich zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts, vielmehr mit dem Bau von Straßen, Eisenbahnlinien, Schulen und mit der Einführung der Wehrpflicht zu tun. Daran hätten sich diejenigen zu orientieren, die über europäische Identität nachdenken.
    Mythen, das ist bekannt, sind Versuche, "Welt" mithilfe von Erzählungen, von Geschichten zu deuten. Wer sich von den nationalen Mythen zugunsten eines neuen europäischen Mythos trennen will, müsste, so das Paradox, zunächst anerkennen, dass es so etwas wie kulturelle Einheit um 1914 noch eher gab als in den neunziger Jahren, und dass bis heute kein europäisches Volk existiert. Es ist das Anerkennen und Aushalten solcher Widersprüche, das Geert Maks Buch zu einer wichtigen Lektüre macht.