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Stärker als vermutet

Physiologie. - Bisphenol A (BPA) ist eine Chemikalie, mit der jeder Mensch im Alltag andauernd konfrontiert ist. In Plastikflaschen etwa kommt BPA als Weichmacher vor. Der Stoff gilt als hormonähnlich, und soll sich störend auf das menschliche Hormonsystem auswirken können. Französische Forscher haben jetzt nachgewiesen, dass BPA nahezu ungehindert durch die Mundschleimhaut in den Körper gelangen kann.

Von Suzanne Krause | 21.06.2013
    Bisphenol A kann über die Mundschleimhaut in den Körper gelangen- und damit direkt in den Blutkreislauf. Das zeigen Tierversuche, die Wissenschaftler des INRA, des staatlichen französischen Instituts für Agrarforschung, durchführten. Dabei wurde Hunden BPA in unterschiedlicher Dosierung beispielsweise ins Maul eingeträufelt. Selbst bei 0,05 Milligramm pro Kilogramm Körpergewicht wurde Bisphenol A im Hundeblut nachgewiesen. Diese Dosis entspricht dem Richtwert, den die europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit, EFSA, als für den Menschen unschädliche Tagesdosis definiert. Die Versuchstiere waren Beagles: da die Mundschleimhaut von Hunden der unseren sehr ähnlich ist, dienen sie als Labormodell für den Eintrittsweg menschlicher Arzneimittel in den Körper. Véronique Gayrard ist eine der Autoren der Studie aus dem INRA-Labor in Toulouse.

    "Wird Bisphenol über die Mundschleimhaut aufgenommen, ist seine biologische Verfügbarkeit sehr hoch. Soll heißen: 70 bis 90 Prozent des solchermaßen aufgenommenen BPA gehen direkt ins Blut. Und damit liegt der BPA-Gehalt im allgemeinen Blutkreislauf fast 100 Prozent über dem Wert, der erwartet wird, wenn die gleiche Menge Bisphenol über den Magen-Darm-Trakt aufgenommen wird."

    Diese Entdeckung wirft die bisherige Vorstellung über den Haufen. Laut gängiger Meinung würden nur knapp zwei Prozent des aufgenommenen hormonaktiven Wirkstoffs in den allgemeinen Blutkreislauf gelangen. Denn über die Ernährung, bislang als Haupteintrittsweg für Bisphenol A bekannt, kommen, so meinen viele Wissenschaftler, nur geringe Mengen der giftigen Chemikalie in den Körper. Zudem: vom Darm gehen Nährstoffe direkt in die Leber. Und dort wird BPA weitestgehend unschädlich gemacht, der hormonähnliche Stoff umgewandelt in Stoffwechselprodukte wie das hormonell inaktive BPA Glucuronid. Gayrard:

    "Derzeit gehen viele Wissenschaftler und die meisten Gesundheitsbehörden davon aus, dass der BPA-Spiegel im menschlichen Blut äußerst niedrig ist, einige Pikogramm pro Milliliter. Und dieser Wert liegt weit unter dem, was laut Tierversuchen als gesundheitsschädigend angesehen wird."

    Die INRA-Studie legt nahe, dass die Belastung tatsächlich viel höher sein könnte. Wobei: Ob auch beim Menschen BPA über die Mundschleimhaut direkt in den Blutkreislauf des gesamten Körpers geht, bleibt zu erforschen. Ebenso wie die Frage, ab welcher Verweildauer die giftige Chemikalie die Schleimhaut durchdringen kann. Dennoch könnte die INRA-Arbeit auch erklären, warum weltweit in über 50 Studien zur gesundheitlichen Überwachung der Bevölkerung erhöhte BPA-Werte gemessen wurden. Zumeist wird die BPA-Konzentration im Körper hochgerechnet: aufgrund des Spiegels des Stoffwechselprodukts BPA Glucuronid im Urin. Bei den direkt im Blut gemessenen Bisphenol-Konzentrationen allerdings lag mancher Studien-Teilnehmer im Bereich Nanogramm pro Milliliter, soll heißen tausendfach über der Größenordnung Pikogramm. Véronique Gayrard:

    "Aufgrund des gängigen Modells hieß es bei solchen Ergebnissen immer, die Proben seien durch BPA im Umfeld verschmutzt gewesen. Oder die Analysen wären fehlerhaft. Hohe Werte werden zurückgewiesen, die Gesundheitsbehörden ziehen sie bei der Risikoabschätzung nicht in Betracht."

    Alain Cicolella forscht seit Jahrzehnten zum Thema Umwelt und Gesundheit, als Spezialist für gesundheitliche Risikoabschätzung kann er die Bedeutung der INRA-Studie einschätzen.

    "Diese INRA-Studie zeigt zum ersten Mal auf, dass die Mundschleimhaut eine direkte Eingangspforte für Bisphenol A darstellt. Die Ergebnisse lassen sich nicht diskutieren. Sie belegen: bei BPA gibt es keinen Schwellenwert."

    Dank der INRA-Studie wird ein Schwachpunkt bisheriger Forschungsarbeiten sichtbar: sehr häufig wird Bisphenol A an Nagetieren getestet, oft gespritzt. Aber auch beim Verfüttern dürften die Ergebnisse nicht unbedingt auf den Menschen übertragbar sein: die Mundschleimhaut von Nagetieren ist weitaus weniger durchlässig als unsere.