Donnerstag, 28. März 2024

Archiv


"Stark überhöhtes Bild der amerikanischen Ureinwohner"

Winnetou war ein idealisierter "Edelmensch", die Armenier kamen schlecht weg und Pazifismus war ebenso im Angebot wie Hurrapatriotismus: Die Romane von Karl May liest der Gymnasiallehrer Ulf Debelius als "kulturhistorische Zeugnisse" des späten 19. Jahrhunderts.

Ulf Debelius im Gespräch mit Christoph Heinemann | 30.03.2012
    Christoph Heinemann: Zumeist recht abgegriffene grüne Einbände in den Bücherregalen von Kinderzimmern, Lektüre gern auch mit der Taschenlampe unter der Bettdecke, Nachbau mit den im Elternhaus verfügbaren Rohstoffen und Werkzeugen aller beschriebenen Waffen, Silberbüchse, Bärentöter oder Henrystutzen – viele Erinnerungen verbinden Erwachsene und Jungsenioren mit den Jahren, in denen Karl Mays Helden und Schurken einen Teil der Lebens- und einen großen Teil ihrer Traumwelt beherrschten.

    Heute vor 100 Jahren starb der Schriftsteller, Aufschneider und zwischenzeitlich sogar Zuchthausinsasse in Radebeul bei Dresden. Dort ist er begraben und dort befindet sich auch das Karl-May-Museum. Sein Werk mit einer Auflage von rund 200 Millionen Büchern hat viele Menschen beeinflusst, einer hat sogar eine Art politischer Berufung aus einem Schlüsselwerk herausgelesen. Wir hören den FDP-Politiker Rainer Brüderle:

    "Also ich bin alter Karl-May-Fan, ich habe alle Bände gehabt. Ich fand den Mann ungeheuer anregend. Natürlich war ich für Winnetou, klar! Das waren die vermeintlichen Underdogs, weitgehend ausgerottet auch in Amerika dabei, die Indianer, und mein Herz war immer bei den Kleineren, deshalb bin ich auch bei der FDP, und auch immer bei den Unterdrückten, deshalb bin ich ja auch für Minderheitsrechte. Und da kann man eigentlich schon Liberalismus, Menschenrechte und Ähnliches mit einimpfen, eine höchst sympathische Figur, bin da auch öfters bei Fastnacht als Indianer herumgelaufen. Für die Silberbüchse hat es nicht gelangt, aber für die braune Gesichtsfarbe ja."

    Und als Rothaut hat er auch keine Karriere gemacht. Rainer Brüderle war das, der FDP-Fraktionsvorsitzende im Deutschen Bundestag. Wir sind verbunden mit Ulf Debelius, dem Geschäftsführer der Karl-May-Gesellschaft. Guten Morgen!

    Ulf Debelius: Schönen guten Morgen.

    Heinemann: Herr Debelius, wann haben Sie erstmals Karl May gelesen?

    Debelius: Oh, da muss ich so zehn gewesen sein. Es war auf jeden Fall am Ende der Grundschule, in der vierten Klasse.

    Heinemann: Welches Buch, womit haben Sie angefangen?

    Debelius: Das hieß "Die Pyramide des Sonnengottes".

    Heinemann: Worum geht es da?

    Debelius: Das ist der zweite Band aus einem der berühmten, berüchtigten fünf Kolportageromane von Karl May, der heißt im Original "Das Waldröschen" und im Untertitel "Die Rächerjagd rund um die Erde", und das sagt eigentlich alles über dieses Buch aus.

    Heinemann: Und hat es bei Ihnen auch für die braune Farbe und die Silberbüchse gereicht?

    Debelius: Für die Silberbüchse nicht, für die braune Farbe schon eher. Ich bin zu Karneval ab und an als Indianer gegangen, wobei ich aus Marburg komme, das ist eher eine protestantische Gegend, da ist Karneval und Fastnacht nicht unbedingt jetzt so verbreitet wie zum Beispiel im Rheinland oder allgemein in katholischen Gegenden.

    Heinemann: Herr Debelius, die bekanntesten Bücher sind sicherlich die Winnetou- und die Old-Shatterhand-Bände, "Der Schatz im Silbersee", vielleicht manch einer der orientalischen Romane. Wie lesen Sie diese Bücher, als Reiseberichte, als Abenteuergeschichten, als anthropologische Beschreibungen?

    Debelius: In der Karl-May-Gesellschaft beschäftigen wir uns ja auf wissenschaftlicher Basis mit Karl May und für mich sind sie eher kulturhistorische Zeugnisse, die ich als solche auch lese. Sie sind für mich auch heute noch natürlich Unterhaltung, sie sind Abenteuerliteratur, aber darüber hinaus wie gesagt kulturhistorische Zeugnisse.

    Heinemann: Inwiefern kulturhistorische Zeugnisse? Was bezeugen sie?

    Debelius: Sie bezeugen vor allen Dingen die Sichtweise des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts von Europa auf andere Kontinente, also eben zum Beispiel die Vereinigten Staaten, oder den Orient, und Karl May hat hier in einer ganz besonderen Art – und deshalb ist er heute auch immer noch so bekannt und immer noch so populär -, auf eine ganz besondere Art Fakt und Fiktion zusammengebracht.

    Heinemann: … was er ja auch persönlich hat. Welches Bild von den Indianern zeichnet Karl May?

    Debelius: Karl May zeichnet natürlich insbesondere in der Winnetou-Figur, von der eben schon die Rede war, ein ganz stark überhöhtes Bild der amerikanischen Ureinwohner. Im Laufe seines Werkes – die erste Winnetou-Erzählung erscheint 1875, die letzte 1910 – entwickelt sich Winnetou von einem ganz klassischen indianischen Helden hin zu einem, er hat ihn später als "Edelmensch" bezeichnet, zu einer absoluten Idealfigur, die sozusagen das beste der Menschheit letztendlich symbolisieren und darstellen soll.

    Heinemann: Und Pferd und Waffe tragen Namen auch bei Winnetou, fast wie im mittelalterlichen Heldenroman.

    Debelius: Ja, die Pferde nun sowieso. Ich glaube, es gibt kaum jemanden, der seinem Pferd keinen Namen gibt. Aber dass Waffen einen Namen bekommen, soll natürlich auch eine gewisse Verbundenheit mit diesen Gerätschaften, so nenne ich sie mal, dann auch darstellen – natürlich.

    Heinemann: Herr Debelius, Winnetou stirbt als Christ, schreibt Karl May. Er schrieb ja häufig aus einer christlichen, weniger einer theologischen jetzt vielleicht als einer missionarischen Perspektive. Wie hielt er es als Schriftsteller mit der Religion?

    Debelius: Er war auf jeden Fall Christ. Er ist Protestant gewesen, Lutheraner gewesen. Man muss aber dazu wissen, dass er die allermeisten seiner Reiseerzählungen zunächst erst mal als Fortsetzung in einer Zeitschrift veröffentlicht hat, und zwar in einer Zeitschrift, die hieß "Deutscher Hausschatz in Wort und Bild". Und das war eine katholische Familienzeitung, die in Regensburg beim Verlag Pustet erschien. Das heißt, man hat auch lange, lange geglaubt, Karl May sei Katholik. So stand es sogar im Kürschner, er hat dem auch nie widersprochen. Und als dann später herauskam, dass er diese Erzählungen alle nur erfunden hatte, dass er sie nicht tatsächlich erlebt hatte, ist er auch und gerade aus der katholischen Presse ganz massiv angefeindet worden.

    Heinemann: Die erste deutsche staatliche Vereinigung erlebte Karl May im Zuchthaus Waldheim. Das war bereits sein zweiter Aufenthalt hinter Gittern. Wie wurde aus dem armen Jungen und Gelegenheitskriminellen ein Schriftsteller?

    Debelius: Karl May hat ja zunächst sich als Volksschullehrer ausbilden lassen, in diesem Beruf auch kurze Zeit gearbeitet, bis er zum ersten Mal wegen einer Straftat verurteilt worden ist und zu dieser Arbeitshaus-Strafe verurteilt worden ist. Danach konnte er als Lehrer nicht mehr arbeiten, das durfte er nicht, nachdem er vorbestraft war, und musste ganz automatisch andere Möglichkeiten finden und bekam 1875 oder 1874, als er aus Waldheim entlassen wurde, das Angebot eines Dresdner Kolportageverlegers, Münchmeyer, für ihn als Redakteur, als Zeitschriftenredakteur zu arbeiten – ein Beruf, den er vorher nie ausgeübt hatte, von dem er eigentlich nichts verstand, aber den er sehr ordentlich gemacht hat, und der gab ihm dann natürlich auch die Möglichkeit, in diesen Zeitschriften seine ersten eigenen Erzählungen zu veröffentlichen. So hat sich das nach und nach entwickelt. Er hat dann bei einem zweiten Redakteur, Radelli, 1877 noch mal ein Jahr eine Redakteursstelle gehabt und ist danach erst freier Schriftsteller geworden.

    Heinemann: Mein und Dein hat er ebenso wenig klar getrennt – wir sprachen ja über den Gelegenheitskriminellen – wie Wirklichkeit und Erfindung. Er hat behauptet, er selbst sei Old Shatterhand.

    Debelius: Ja, das hat er. Diese Fiktion hat er über viele, viele Jahre aufrecht erhalten. Da gibt es durchaus unterschiedliche Theorien dazu. Unser langjähriger Vorsitzender der Karl-May-Gesellschaft und heutiger Ehrenvorsitzender, Professor Claus Roxin, ein international bekannter Strafrechtsexperte, hat Karl May eine Pseudologia fantastica attestiert. Das heißt, das ist keine Krankheit, keine psychische Krankheit in dem Sinne, sondern ein Gemütszustand, der in harmloser Form dazu führt, dass man mit einem imaginären Freund spricht, Selbstgespräche führt, aber in dieser extremen Form, wie May sie wohl zumindest zeitweise gehabt hat, dazu führt, dass er nicht mehr in der Lage war, zwischen Realität und der selbst geschaffenen Fiktion zu unterscheiden, was letztendlich dazu führt, dass er dann natürlich auch aus ökonomischen Gründen diese Fiktion so lange fortgeführt hat und so ausgeweitet hat, bis sie zwangsläufig zusammenbrechen musste.

    Heinemann: Welche Rolle spielte Karl May in der Nazi-Zeit und in der DDR? Wie sind die Regime offiziell mit ihm umgegangen?

    Debelius: Es wird ja immer gesagt, Karl May sei Hitlers Lieblingsschriftsteller gewesen. Ob das nun tatsächlich so stimmt oder nicht, das kann ich gar nicht so genau beurteilen. Er wurde in der Nazi-Zeit auch gelesen, er wurde in der Nazi-Zeit auch massiv bearbeitet, seine Werke. Vor allen Dingen das Spätwerk auch, das pazifistische Spätwerk, wurde zurechtgebogen, um es der nationalsozialistischen Ideologie irgendwie anzupassen. In der DDR war er lange Zeit unter anderem deshalb verboten, er wurde nicht gedruckt, und erst Anfang der 80er-Jahre hat man sich dann entschlossen – aber dann hat man auch viele andere wiederentdeckt, Friedrich II. zum Beispiel, Friedrich den Großen -, Karl May wieder zu drucken und auf den Markt zu bringen.

    Heinemann: Gibt es bei ihm rassistische Tendenzen?

    Debelius: Nein, das würde ich nicht sagen. Im Gegenteil. Gerade im Spätwerk hat er eine sehr, sehr weltoffene, sogar pazifistische Weltanschauung zum Ausdruck gebracht. Er hat zum Beispiel Kürschner für seinen China-Band diesen Roman "Et in terra pax / Und Friede auf Erden!" sozusagen untergejubelt. Das war ein hurra-patriotisches Werk, das Kürschner anlässlich der Niederschlagung des Boxeraufstandes gemacht hat, und da hat er diesen China-Roman, diesen pazifistischen China-Roman zu geschrieben. Es gibt gewisse, sage ich mal, allgemeine Dinge, zum Beispiel, dass die Armenier, die armenischen Christen bei ihm relativ schlecht wegkommen. Das ist aber auch bis zu einem gewissen Grad dem Zeitgeist geschuldet, also da würde ich ihm keinen Rassismus unterstellen – keinesfalls.

    Heinemann: Herr Debelius, wieso lesen heutige Jugendliche kaum noch Karl May?

    Debelius: Das ist eine gute Frage, die ich mir als Gymnasiallehrer für Deutsch und Geschichte auch immer wieder stelle und durchaus auch versuche, das zu ändern. Die Sache ist natürlich die: Karl May ist – ich habe das ja am Anfang gesagt – auf der einen Seite Informationsliteratur, Reiseliteratur, zwar "gefälschte", aber immerhin, aber es ist natürlich auch klassische Fluchtwelten-Literatur, und die Fluchtwelten von Jugendlichen heute, 130, 140 Jahre später, sind einfach andere, die bewegen sich im Bereich des "Herr der Ringe" oder Harry Potter oder durchaus auch im virtuellen Bereich heute natürlich immer stärker. Sie taugen also als Fluchtwelten in dem Sinne nicht mehr, deshalb werden sie wahrscheinlich durchaus etwas weniger gelesen.

    Heinemann: Welches ist Ihr Lieblingsbuch oder Ihr Lieblingstext von Karl May?

    Debelius: Mit großem Abstand der zweite Teil des Romans "Im Reiche des silbernen Löwen", also die Bände drei und vier, für mich Höhepunkt des Spätwerkes und von der sprachlichen Gestaltung her für mich sein eindrucksvollstes Werk.

    Heinemann: Ulf Debelius, der Geschäftsführer der Karl-May-Gesellschaft, am 100. Todestag des Schriftstellers. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Debelius: Ich danke Ihnen! Auf Wiederhören!

    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
    Karl May Cover "Der Schatz im Silbersee"
    Karl May Cover "Der Schatz im Silbersee" (dpa / picture alliance / Matousek Zdenek)
    Karl May als Redakteur, 1890
    Karl May als Redakteur, 1890 (Karl-May-Gesellschaft e.V.)
    Büste von Karl May im Karl May Museum in Radebeul
    Büste von Karl May im Karl May Museum in Radebeul (dpa / picture alliance / Martin Förster)