Start einer Intendanz

Schauspielhaus soll zum Treffpunkt in Dortmund werden

43:51 Minuten
Mitten in Dortmund wird die neue Republik der Dichter und Denker ausgerufen.
Mitten in Dortmund wird die neue Republik der Dichter und Denker ausgerufen - Spielen für alle und jeden ist das Ziel © Birgit Hupfeld
Von Susanne Luerweg · 09.10.2020
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Julia Wissert hat afrikanische Wurzeln, ist noch jung und schon neue Intendantin am Schauspiel Dortmund. Ihr Ensemble ist divers, ihr erstes Stück wurde wegen Corona fast komplett in den öffentlichen Raum verlegt. Entsteht hier das Theater der Zukunft?
Das Schauspielhaus und die Stadt – zwei Pole die zusammengehören, zusammenwachsen, miteinander reifen sollen. So stellt sich die neue Intendantin Julia Wissert am Schauspiel Dortmund die Zukunft des Hauses vor. Sie ist mit 36 Jahren die jüngste Intendantin eines Stadttheaters und die erste schwarze Theaterleitung. Julia Wissert steht für eine neue Form der Führung. Sie will weg von hierarchischen Strukturen, sowohl im Theater als auch in der persönlichen Begegnung.
Raum für Widerstand
Ihr Ensemble, ihr Team, ist divers, weiblich, international und sie hat zwei Stadtdramaturginnen engagiert, die dem Theater, dem Schauspiel den Zugang zu den Menschen in Dortmund erleichtern sollen. Mega Kono Patel und Bernice Ekoulo kommen aus der politischen Arbeit, haben bislang eher freie Bühnen besucht und stehen der Institution Theater durchaus kritisch gegenüber. Sie wollen "vor allem den Widerstand sichtbar machen", erzählt Megha Kono Patel.
Zusammen mit dem Team erhofft sich Julia Wissert eine neue Sichtbarkeit in Dortmund, eine breite Akzeptanz und ein Theater als Ort, an dem man sich trifft, um miteinander ins Gespräch zu kommen und wo niemand Angst haben muss, nicht verstanden zu werden oder selbst etwas nicht zu verstehen.
Einige ihrer Ideen sind, wie so oft in diesen Tagen, der Pandemie zu Opfer gefallen. So kann das frisch renovierte Foyer noch nicht zum Austausch genutzt werden, denn es dürfen immer nur wenige Zuschauerinnen und Zuschauer gleichzeitig die Räume betreten. Maske tragen, Hände desinfizieren, Abstand halten ist hier wie überall oberstes Gebot.
Julia Wissert hebt grüßend die Hand und lächelt das Publikum an. Sie trägt einen roten Blazer, eine markante schwarze Brille und die Haare offen.
Julia Wissert begrüßt die Anwesenden.© Florian Dürkopp
Exklusiver Start
Der ausgerufene "Neustart" musste deshalb sehr viel kleiner ausfallen, der Spielplan musste geändert werden, das erste Stück wurde fast ganz nach draußen in die Stadt verlegt.
Einen Tag vor der Premiere stellt sich das Ensemble dem Publikum, der Stadt vor. Kleine Gruppen mit jeweils zwanzig Besucherinnen und Besuchern kommen in den Genuss, sehr spielfreudige Ensemblemitglieder zu erleben sowie eine Intendantin, die mit viel Verve und sehr sympathisch vor die kleine Zuschauergruppe tritt und alle freudig begrüßt:
"Schön, dass ihr alle da seid an diesem sehr besonderen Abend. Ihr seid jetzt mit uns der Anfang. Ein sehr spezieller Anfang, ein sehr außergewöhnlicher Anfang, unter außergewöhnlichen Bedingungen. Deshalb erlebt ihr jetzt vermutlich den exklusivsten Intendanz-Start in der Geschichte des Stadt- und Staatstheaters."
Julia Wissert hat sich in die Präsentation der einzelnen Ensemblemitglieder nicht eingemischt, sondern jedem und jeder freigestellt wie er oder sie sich darstellen möchte. Ähnlich einem Speed-Dating erzählen die Schauspielerinnen und Schauspieler in zehnminütigen Auftritten von sich, ihrem Beruf, ihrem Theaterverständnis. Eine von ihnen ist die 26-jährige Sarah Quarshie, die an der Ernst Buch Schauspielschule in Berlin studiert hat und nun mit der Intendanz von Julia Wissert ans Schauspiel Dortmund gekommen ist.
Sarah Quarshie, eine Schwarze Frau, steht barfuß im Scheinwerferlicht eine Bühne. Sie hält fragen ihre Hände vor den Körper und ist einheitlich in schwarz gekleidet.
Sarah Quarshie präsentiert sich ungeschminkt und ungefiltert.© Florian Dürkopp
"Ich würde mir wünschen, dass wir in Zukunft in die Richtung gehen, dass wir Theater machen, was wirklich jedermann versteht. Ich komme nicht aus einer Familie, wo man abends über Brecht gesprochen hat, sondern ich komme aus einer Arbeiterfamilie und meine Freunde, meine Familie, die verstehen oftmals nicht, was ich, was meine Kollegen auf der Bühne machen."
Liebeserklärung an die Stadt
Das Premierenstück "2170 - wie wird die Stadt gewesen sein, in der wir leben" möchte genau das sein – Theater, das alle verstehen. Ein Stück, das wegen der Pandemie, fast komplett draußen spielt. Geschrieben von fünf Autorinnen und Autoren, die besondere Orte in Dortmund aufgesucht haben und sich tief in die DNA der Stadt eingegraben haben. So stehen die Zuschauerinnen und Zuschauer hinter dem Hauptbahnhof und erfahren vom Leid der Flüchtlinge, die hier ankommen, blicken auf ein seit Jahren leerstehendes Hochhaus, dessen Fenster nur noch Folie sind und dessen Fassade verwittert ist, aber dessen ehemalige Bewohner und Bewohnerinnen wieder lebendig werden, und hören von der ehemaligen Synagoge, die genau dort stand wo jetzt das Schauspiel seinen Platz hat.
Die erste Premiere, die Uraufführung von "2170" ist eine Liebeserklärung an Dortmund und seine Bewohnerinnen und Bewohner. Das Theater zeigt sich in der Stadt. Ist präsent, nicht abgehoben, sichtbar zwischen Fußballmuseum, Bibliothek und Multiplexkino.

Zwei Männer in seltsamen, Weltraumanzug-ähnlichen Kostümen stehen lachen Rücken an Rücken.
Vermählung von Stadt und Schauspiel mit leichten Hindernissen.© Florian Dürkopp
Am Ende steht dann sogar der Kulturdezernent auf der Bühne, ist Teil des Ensembleabends und vermählt in einer feierlichen Zeremonie die Stadt mit dem Schauspiel. Es scheint der Beginn einer fruchtbaren Verbindung, zunächst auf fünf Jahre angelegt, aber schon jetzt mit viel Liebe und gegenseitigem Respekt für einander ausgestattet. Und durchaus nah und nahbar, trotz des vorgeschriebenen Abstands.
Auch der Antisemitismusforscher und Publizist Max Czollek freut sich auf die neue Intendantin in Dortmund. Er betont zwar, dass die Beschäftigung mit Klassenunterschieden und gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht neu sei, dass das zeitgenössische Theater aber die Aufgabe übernehme, "die früher vielleicht mal das Feuilleton innehatte, nämlich die Diskussion unterschiedlicher politischer Positionen, den Konflikt auszutragen auf und neben der Bühne". Dabei hat er nicht die Erwartung, dass das Theater die Gesellschaft verändern könnte, sondern sieht die darstellende Kunst im engen Austausch mit gesellschaftlichem Diskurs und erhofft sich eine gegenseitige Befruchtung beider Sphären: "Ich glaube, die Utopie des Theaters muss eine Utopie der Gesellschaft sein, sonst hat man, glaube ich, das Problem nicht wirklich gepackt."

Anmerkung der Redaktion: In der Sendung sind uns zwei Fehler unterlaufen. Wir haben die entsprechenden Sätze aus der Audiofassung herausgeschnitten. Das neue Ensemble des Theater Dortmund wurde missverständlich beschrieben, und der ehemalige Intendant des Schauspiel Dortmund, Kay Voges, ist ans Volkstheater in Wien gewechselt.
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