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Stefan Hertmans "Der Himmel meines Großvaters"
Ein flämischer Jedermann im Ersten Weltkrieg

Seit über drei Jahrzehnten publiziert Stefan Hertmans feinsinnige Geschichten. Doch erst mit "Der Himmel meines Großvaters" gelang dem belgischen Dichter, Essayisten und Romancier der Durchbruch. Nun ist der Roman auch auf Deutsch erschienen.

Von Volkmar Mühleis | 24.06.2015
    Stefan Hertmans
    Der Dichter, Essayist und Romancier Stefan Hertmans (imago/gezett)
    Für den belgischen Dichter, Essayisten und Romancier Stefan Hertmans wurden das letzte und dieses Jahr zum großen Durchbruch seiner Karriere. Seit über dreißig Jahren publiziert er im niederländischsprachigen Raum feinsinnige Betrachtungen und Geschichten, auch eine erste Gesamtausgabe seiner Poesie ist erhältlich. Einige vereinzelte Übersetzungen ins Französische, Spanische, Deutsche gab es in den letzten Jahren, doch erst mit seinem aktuellen Roman Der Himmel meines Großvaters gelang das große Kunststück: Nicht nur wurde der Roman mit dem Kulturpreis der flämischen Gemeinschaft in Belgien ausgezeichnet, er erscheint in diesem Jahr auch in Übersetzungen bei Gallimard in Frankreich, Knopf in den USA wie auch dem Hanser Verlag in Deutschland. Unser Mitarbeiter Volkmar Mühleis sprach mit Stefan Hertmans in seinem Wohnort bei Brüssel:
    Hertmans Roman "Der Himmel meines Großvaters" ist ein Buch über den Ersten Weltkrieg, und er präsentiert eine Gestalt, wie sie in der deutschen Wahrnehmung dieser Geschichte so nicht vorkommt. Es ist weder ein Anti-Held, der die Sinnlosigkeit des Krieges vor Augen führt, noch ein vermeintlicher Held, der die Schrecken des Krieges ästhetisch verklärt. Belgien ist ein kleines Land, das mehr Besatzer als eigene Herrscher gekannt hat, und wo ein entsprechend ironischer, surrealer Umgang mit den Herrschenden kultiviert wurde. Gerade der flämische Autor Louis Paul Boon, ein Klassiker der niederländischsprachigen Literatur, hat diesen Umgang darzustellen gewusst, etwa in seinem Buch aus dem Zweiten Weltkrieg, "Mein kleiner Krieg", das auch auf Deutsch erhältlich ist. Stefan Hertmans aber präsentiert keinen Underdog, keinen verschmitzten Soldaten Schweijk. Er zeigt einen Soldaten, der meinte, schlichtweg sein Vaterland verteidigen zu müssen, ein Vaterland, das seine Bedeutung in der Hölle des Krieges behielt, für das es sich zu kämpfen lohnte, also jemanden, der dieser Moral treu zu bleiben versuchte, die er nicht infrage gestellt sah. Heute diese Moral zu verstehen, ist auf mehrere Weisen schwierig: Zum einen steht heute die globalisierte Welt im Vordergrund, nicht der einzelne Nationalstaat. Und zum andern erscheint jene Moral, die der Soldat in dem Roman verteidigt, aus deutscher Sicht entweder als diskreditiert oder als regressiv. Warum sie also verstehen wollen? Weil sie aus belgischer Sicht keineswegs diskreditiert wurde, sondern historisch legitim ist und nach wie vor erzählenswert, vorausgesetzt, der Autor weiß sie sowohl historisch wie literarisch angemessen und kritisch zu gestalten. Und das tut Stefan Hertmans auf hervorragende Weise. Es ist also für deutsche Leser ein keineswegs einfaches Buch, weil es in der eigenen Wahrnehmung einen blinden Fleck aufzeigt, der aus belgischer Sicht keiner ist. Dem Buch zugrunde liegen die eigenen Erinnerungen des leiblichen Großvaters von Hertmans, ein Konvolut von 600 Seiten. Der Schreibprozess des Romans stand zunächst im Abgleich dieses Konvoluts mit einer angemessenen, historischen Lesart:
    "Diese Frage nach den geschichtlichen Lagen ist für mich eigentlich eine der Treue, der ich verpflichtet war. Das heißt, ich habe angefangen, sagen wir, in seiner Tonart sozusagen zu schreiben, das heißt altmodisch Flämisch. Aber nach einigen Seiten dachte ich, das ist zu artifiziell, das hat nicht diese Integrität, die er hatte. Weil ich doch nicht so rede und nicht so schreibe. Und dann hab ich diese Künstlichkeit durchbrechen wollen, und den Roman zu schreiben angefangen von meinem Standpunkt aus. Da habe ich gedacht, ich kann nicht das Buch meines Großvaters schreiben. Oder ich muss buchstäblich das herausgeben lassen und dabei einige Notizen machen, das ist wie mein Großvater es selbst niedergeschrieben hat. Aber das wirkte nicht. Das ist für den Leser, der diesen Mann nicht gekannt hat, ist das eigentlich nicht von selbem Wert. Ich war also gezwungen, einen Roman zu konstruieren. Und dann habe ich das Buch zu schreiben angefangen in meinem Stil. Und dann habe ich hier und dort ihm das Wort gegeben, sodass man dann eine Distanz bekommen könnte, eine Art von dramatische, ironische Distanz – das ist wie er redete, das bin ich. Und dann fang das an, lebendig zu werden, weil ich dann diesen Abstand auch stilistisch, sprachlich und emotionell gestalten konnte."
    Der Roman von Hertmans gliedert sich in drei Teile, die familiäre Vorgeschichte der Kriegszeit, der Erste Weltkrieg aus der Sicht des Großvaters und die familiäre Nachgeschichte. Angesichts der umfangreichen Erinnerungen des leiblichen Großvaters bildet erstaunlicherweise der erste Teil, die Vorgeschichte, den weitaus längsten von allen dreien, und nicht die Zeit an der Front. Während des Lesens mag einen das zunächst irritieren. Doch zum einen eröffnet der erste Teil den gesamten Horizont, vor dem überhaupt nur das Gedankengut aus dem 19. Jahrhundert plausibel wird, das für den Großvater von Bedeutung blieb. Und zum andern hat Stefan Hertmans sich auf jene Passagen konzentrieren wollen, deren Situation auch historisch verbürgt ist, schließlich hatte der Großvater erst in weitem Abstand zu den Ereignissen seine Erinnerungen verfasst. Der Autor gibt eine Kostprobe aus dem zweiten Teil, den Erlebnissen an der westflämischen Front:
    "Ungefähr eine Woche später hörten wir morgens ein Kind schreien. Ein etwa zehnjähriger Junge stand am anderen Ufer. Der Kommandeur verbot uns, den Jungen zu holen. Carlier rief, es sei eine Schande, zog die Uniform aus, sprang ins Wasser und schwamm ans andere Ufer. Doch in dem Moment, als er dem Kind die Hand reichen wollte, rannte es weg, und die Deutschen feuerten aus allen Rohren, uns war schleierhaft, woher. Carlier ließ sich nach hinten fallen und die Böschung herunter ins Wasser rollen, tauchte unter und kam erst wieder zum Vorschein, als er auf unserer Uferseite war. Alle hatten mit angehaltenem Atem zugesehen, jetzt zogen wir Carlier an Land. Der Kommandeur sah von einer Strafe ab, als er wahrnahm, wie sehr uns die Handlungsweise der Deutschen empörte. Wir machten uns keine Illusionen darüber, dass wir es mit einem Feind zu tun hatten, der keinerlei moralische Skrupel besaß. Diese Art der psychologischen Kriegsführung war uns unbekannt. Unsere militärische Ausbildung hatte sich um Ehre, Moral und Kriegskunst gedreht, uns war beigebracht worden, elegant das Florett zu führen und Menschen zu retten, die Soldatenehre hatte uns genauso wichtig zu sein wie die Vaterlandsliebe. Was uns hier aber begegnete, war ein ganz anderes Kaliber und widersprach allem, was wir dachten und fühlten. Doch gleichzeitig bemerkten wir angstvoll, dass wir nicht unbeeinflusst blieben, dass es uns ebenfalls zu anderen Menschen machte und dass auch wir bereit waren, Dinge zu tun, die wir vorher weit von uns gewiesen hätten."
    Der heutige Abstand zu der Zeit des Ersten Weltkriegs wird auf vielfältige Weise verdeutlicht: durch Bilder, im buchstäblichen und übertragenen Sinn, durch Beschreibungen und Reflexionen. Der Autor schreibt mit, woran er schreibt, er legt von vornherein sein Projekt offen, bindet seine Zweifel mit ein, auch die Vergeblichkeit seiner Suche nach einer verlorenen Zeit, in jeder Hinsicht – kein Baum auf den Schlachtfeldern von einst stammt noch aus der Zeit, und auch der Erinnerungsstein, den sein Großvater ihm einst aus Italien mitgebracht hatte, kennt keinerlei Steine wie ihn mehr am Strand von Rapallo:
    "Dort ist der Stein, er liegt dort. Und das ist nur ein Stein, und das ist nur gepinselt drauf. Und die Stille von solch einem Stein, das ist natürlich auch Symbol von die Ewigkeitsauffassung von Kunst, die man früher hatte, die wir nicht mehr haben. Für mich ist Kunst mehr ein Strom geworden, der über die Steine fließt. Aber meine erste Auffassung, als ich jung war und Paul Celan las usw., dann war für mich Kunst etwas steinern fast. Das war die Stille von Objekten. Sicher in der Lyrik. Und mit den Jahren habe ich mich befreit von diese fast auch dogmatische Idee, von Kunst muss ein schweigsamer Stein sein, muss etwas sein, dass in Stille, und das ist: Askese – und dort unanfassbar liegt. Wann ich nach diese Vergangenheit meines Großvaters verlangte und auch versuchte, dass zu verstehen, dann bin ich natürlich immer wieder getroffen worden, durch was ich fand. Seine kleine Messer, seine Pinseln, seine Ehrzeichen, die hier irgendwo liegen. Und das ist, sagen wir, hier irgendwo, dass man die Ohnmacht fühlt, das alles wirklich zu berühren. Es gibt nur diese stille Oberfläche von diese bemalten Stein. Ich versuche, das zu verstehen, weil er das mitgebracht hat von irgendwo in Italien von einem Strand. Und ich bin einige Jahre her mit meine Frau noch nach diesem Strand in Rapallo gefahren, und hab zu ihr gesagt, hier irgendwo liegen diese Steine, weil ich doch zehn Jahre davor noch in Rapallo gewesen war, und dann gab es noch diese Steine überall. Jetzt sind sie verschwunden. Man hat nur feinen Sand dort angeführt, und es gibt Disco usw., und alles ist verschwunden. Eben die Steine verschwinden! Dann hab ich gedacht: Das, wovon ich dachte, es ist ewig, es ist unantastbar, unanrührbar, eben das ist verschwunden. Und vielleicht ist das Buch dann der härteste Stein, der übrig bleibt."
    "Der Himmel meines Großvaters" ist eine schwierige und äußerst gelungene Übung in dem Versuch zu verstehen, wie ein flämischer Jedermann den Ersten Weltkrieg erfuhr, und wie sich aus heutiger Sicht davon erzählen lässt. Dieser Jedermann wollte später Maler werden, und hat es nie zum Künstler gebracht. Auch davon handelt dieser Roman. Im Original heißt er "Oorlog en terpentijn", "Krieg und Terpentin", in Anlehnung an die Themen von Krieg und Kunst, aber natürlich auch als Ironie auf Leo Tolstois Titel "Krieg und Frieden". Der Frieden nach dem Krieg war im Falle von Hertmans Großvater einer der unauflösbaren Traumatisierung und baldigen Arbeitsunfähigkeit. In der Kunst suchte er eine Vergangenheit, mit der er keine Zukunft in ihr fand. Das Drama der Unbedeutendheit durchzieht dieses Leben, wie jedes. Über den Zweiten Weltkrieg schrieb der Großvater kein einziges Wort.
    Stefan Hertmans: "Der Himmel meines Großvaters". Aus dem Niederländischen übersetzt von Ira Wilhelm, erschienen bei Hanser Berlin
    320 Seiten, 21,90 Euro.