Dienstag, 16. April 2024

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Steffen Kopetzky: Risiko
Pompöses Orient-Abenteuer

Steffen Kopetzkys Roman "Risiko" erzählt die abenteuerliche Geschichte einer deutschen Orient-Expedition im Ersten Weltkrieg. Dabei schafft der Autor wunderbare Bilder und behält seine Erzählfäden sicher in der Hand. Als Leser sollte man trotzdem sehr ausgeschlafen sein, um den vielen akribisch recherchierten Fakten folgen zu können.

Von Shirin Sojitrawalla | 22.03.2015
    Steffen Kopetzky , aufgenommen am 15.10.2008 , auf der 60. Frankfurter Buchmesse in Frankfurt am Main
    Der Autor Steffen Kopetzky (picture alliance / dpa / Uwe Zucchi)
    "Tatsächlich, der Krieg zwischen den Großmächten Europas hatte es in den vier Monaten seit seinem Ausbruch geschafft, sich weit über das Spielfeld fast der ganzen Welt auszubreiten; zwar waren Teile davon noch unberührt, doch lagen schon überall Lunten und Zünder bereit, die ihn weitertragen sollten, weiter und immer weiter, nach Arabien, Ägypten, in den Sudan, nach Persien und sogar bis ins Herzland Zentralasiens: Afghanistan.
    Dieses Land, das noch kein Deutscher und auch kein Österreicher zuvor betreten hatte, war die Bestimmung der Niedermayer-Expedition. Fast 5.000 Kilometer lagen vor ihr, die sie im direkten Auftrag des Sultans von Deutschland zurücklegen würde.
    Hadschi Wilhelm el-Almani hatte auf seiner geheim durchgeführten Wallfahrt gen Mekka geschworen, der starke Beschützer aller dreihundert Millionen Moslems zu sein und zusammen mit seinem Bruder Sultan Mehmed Resat, dem wahren Kalifen, die ungläubigen Imperialisten aus den Ländern der Gläubigen zu vertreiben. Jeder Mann, der sich zum Propheten Mohammed bekenne, solle zu den Waffen greifen und in den Dschihad ziehen, den der Kalif befohlen habe."
    Das klingt absurd und hat sich doch vor 100 Jahren so oder so ähnlich zugetragen. Im Auswärtigen Amt in der Berliner Wilhelmstraße gründete der Orientalist Freiherr Max von Oppenheim zu Beginn des Ersten Weltkriegs die Nachrichtenstelle für den Orient, deren Aufgabe unter anderem darin bestand, die deutsche Propaganda bis in die Kolonien der Feinde zu posaunen. Die Muslime wollte er zu einem Heiligen Krieg anstacheln, um sie gegen ihre Kolonialherren in Stellung zu bringen. Auch im Halbmondlager in Berlin wurden die Kriegsgefangenen ganz selbstverständlich mit deutscher Propaganda versorgt, etwa in Form einer Zeitschrift mit dem Titel "El Dschihad". Eine geheime Expedition nach Afghanistan sollte die Völker am Hindukusch zudem gegen das Britische Empire in Stellung bringen. Die Expedition scheiterte, der Krieg ging weiter, und es sollte noch Jahrzehnte dauern, bis sich etwa Indien von der Herrschaft der Briten befreien konnte.
    Afghanistan-Expedition auf mehr als 700 Seiten
    Die deutschen Orient-Aktivitäten während des Ersten Weltkrieges sind kein Geheimnis und doch stand zum 100. Jahrestag des Ausbruchs des Ersten Weltkrieges im vergangenen Jahr anderes im Vordergrund. Um so schöner, dass sich Steffen Kopetzky dem fantastisch anmutenden Stoff angenommen hat. Auf mehr als 700 Seiten begleitet er die Afghanistan-Expedition in ferne Weltgegenden. Dabei hält er sich an die Fakten und nimmt sich alle Freiheiten, die ein Schriftsteller hat. Natürlich kommt auch Max von Oppenheim in seinem Buch zu seinem Recht. Liebevoll und doch ironisch angehaucht schildert er den Diplomaten in seinem Berliner Amtssitz:
    "Dass das Büro des Leiters einer reichsbehördlichen Abteilung, die Nachrichtenstelle für den Orient hieß, mit entsprechenden Fundstücken und Reminiszenzen aufwarten würde, war nur natürlich. Doch Oppenheims im Vergleich zu der drückenden Enge, in der seine Mitarbeiter hausten, recht großzügiges Büro bildete auf den ersten Blick eine Mischung aus Bibliothek, archäologischer Sammlung und Grabungszelt, da auf einer hölzernen Arbeitsbank kleine Spachtel, Pinsel jeder Art, Vergrößerungsgläser und eine Reihe von Holzkisten standen, in die Scherben und Gesteinsbrocken einsortiert waren. Ein Stück uralten behauenen Steins lag in der hereinfallenden Morgensonne. Daneben kräuselte sich die bläuende Spur einer nahezu verglommenen Salem-Aleikum-Zigarette im Cendrier.
    Oppenheim, eine Leinenschürze über dem massigen Leib, mit fliehendem Haaransatz und Vollbart, der am Kinn ein wenig gestutzt war, blickte schmunzelnd auf ein steinernes Fragment, das er gerade mit einem Pinsel bearbeitete, hob es ein wenig an, wie um es noch einmal zu wiegen, legte es in ein Holzkästchen und wischte sich die Hände an seiner Schürze."
    Bis es so weit kommt, haben die Leser und vor allem die Hauptfigur des Romans aber schon so einiges hinter sich. Den jungen Marinefunker Sebastian Stichnote kürt Kopetzky zum Protagonisten, für die Leser wird er nicht selten zum Leuchtturm in einem Meer aus Namen, Orten und Ereignissen. Im Prolog lernen wir ihn kennen, da ist er bereits im Orient. Der Roman erzählt dann im Rückblick, was davor geschah. Die Geschichte Stichnotes beginnt auf dem Marinekreuzer Breslau, der vor der Küste Albaniens liegt, genauer gesagt vor Durazzo. Stichnote ist die einzige Figur, die so ganz der Fantasie Kopetzkys entstammt. Er ist von der ersten bis zur letzten Seite mit dabei, erlebt den Krieg und die Expedition nach Afghanistan am eigenen Leib und erweist sich als begnadeter Funker, ist ein schlaues Kerlchen und ein smarter Typ, und das, obwohl er das Leben und die Liebe noch gar nicht kennengelernt hat.
    "Gelernt hat er immer gerne. Die Volksschule absolvierte er mit Leichtigkeit und wusste dabei, dass hinter dem ABC und dem Einmaleins, das ihnen ihr schon frühmorgens angetrunkener Lehrer Maier einpaukte, ein Weg auf ihn wartete, der ihn aus der übel riechenden Gerberei in der Kühbachstraße fort in eine andere Welt führte. In seiner Familie hatte Sebastian eine gewisse Sonderstellung, nicht allein durch die traurigen Umstände seiner Geburt, die seine Mutter das Leben gekostet hatte. Sein damals zum zweiten Male verwitweter Vater war darüber vollends schwermütig geworden, hatte den Buben zwar doch lieb, kümmerte sich aber nicht um ihn, sondern überließ ihn der Obhut seiner Amme, eines bitterarmen Mädchens aus Haidhausen, dessen sieben Monate alter, unehelicher Säugling zuvor an Keuchhusten verstorben war. Zenz. So hieß die Amme. Sie kümmerte sich, da der kleine Sebastian der Mensch war, der sie ernährte, indem sie ihn ernährte, mit solcher Sorgfalt um ihn, als wäre er eines Grafen Kind, säugte ihn, bis er zwei Jahre alt war und blieb auch danach als skrupulöse Haushälterin, Köchin, Waschmagd dort wohnen."
    Lektüretipps im Roman von "Tod in Venedig" bis "Biene Maja"
    Die Zenz ist eine der zahllosen Nebenfiguren in diesem personenstarken Roman. Eine Figur, die kurz auftaucht, um dann wieder zu verschwinden, nicht ohne wesentliche Details aus ihrem Leben da zu lassen. Dabei kommt der Autor gern vom Hölzchen aufs Stöckchen und erweist sich als Meister der Abschweifung. Die Zenz ist darüber hinaus eine der sehr wenigen Frauenfiguren in diesem Roman. Die anderen Frauen dienen vornehmlich der Liebe, den Krieg besorgen die Herren selbst. Die nachrangige Behandlung der Frauen teilt Kopetzky mit Karl May, der einem bei einem Abenteuerroman mit dem Schauplatz Orient natürlich sofort in den Sinn kommt. Auch Kopetzky erwähnt ihn immer mal wieder in seinem Roman, ohne dass das eine größere Rolle spielen würde. Wichtiger ist die Fährte, die der Titel seines Buches legt, das nicht zufällig den Namen des beliebten Brettspiels trägt. Ebenso wie dessen Spieler kämpfen auch die handelnden Figuren im Roman um die Weltherrschaft. Der Marineoffizier Dönitz, im Einsatz auf der Breslau, spielt ein ganz ähnliches Brettspiel, genannt das Große Spiel, passend zum Großen Krieg. Während in Sarajewo der österreichische Thronfolger erschossen wird, liegt die Breslau gerade vor Durazzo. Das Große Spiel zieht sich dabei wie ein roter Faden durch den Roman; Stichnote beherrscht es meisterlich und verdankt seine Karriere nicht zuletzt seinen Künsten am Brett. Wie überhaupt das Spielen eines der großen Themen bildet, denen der Roman beständig folgt. Nicht nur das Große Spiel beschäftigt die Figuren, sondern auch Polo, Schiffe versenken und Fußball. Der spielende Mensch, der homo ludens, steht bei Kopetzky im Mittelpunkt, wobei auch der Krieg selbst zum gefährlichen Spiel gerät. Und manches Mal lässt sich kaum noch unterscheiden, wo das Brettspiel endet und der Krieg in Wirklichkeit beginnt.
    "Auf dem Weg zu seinem Zimmer kam Stichnote durch den spärlich beleuchteten Saal, in dessen Zentrum das große Spiel stand. Gerade eben erst, so schien es, hatten die letzten Spieler den Tisch verlassen. Armeen aus kleinen Soldaten, Geschützen und Reitern waren über das Spielfeld verteilt, standen sich gegenüber, jederzeit bereit, sich mit ein paar beherzten Würfen aus den bereitstehenden Bechern gegeneinander zu wenden, Gebirgspässe zu überwinden und strategisch bedeutsame Linien einzunehmen. Er nahm ein grünes Reiterlein in die Hand, die winzige Husarenmütze auf dem Kopf und den stecknadelgroßen Speer zur Attacke bereit, drehte die Figur im Dämmerlicht und rief sich all die Schlachten in Erinnerung, die er am Spielbrett erlebt hatte. Gerade zuletzt war es ihm erschienen, als seien sie realer als die Wirklichkeit, als übersteige das Spiel diese an Wahrheit und Aussagekraft. Doch so sehr sie entflammt gewesen sein mochten, waren sie vielleicht einfach nur kleine Jungs, die mit Bleisoldaten spielten."
    Ebenso bedeutend wie das Spielen ist für den Roman das Lesen, Schreiben und Kommunizieren. Stichnote ist Funker, entschlüsselt über sein ganz eigenes Zeichensystem die Welt. Darüber hinaus ist er ein begeisterter Leser und würde für Kopetzkys dicken Roman keine Woche brauchen. Lektüretipps finden sich einige in "Risiko", von Thomas Manns "Tod in Venedig" über "Der Tunnel" von Bernhard Kellermann bis hin zu "Die Biene Maja", mal geben sie Hinweise auf das Geschehen im Roman, mal stützen sie seinen kulturgeschichtlichen Hintergrund. Auch viele Schriftsteller und Schreiberlinge tauchen auf, darunter Adolph Zickler, Sonderkorrespondent der NZZ, eine der hinreißendsten Figuren des Romans. Sein Schicksal ist eng mit dem Stichnotes verwoben. Dabei ist Zickler mit allen Eitelkeiten seines Berufsstandes gewaschen. Der dickliche feine Herr mit der Vorliebe für schöne Knaben gehört später auch zum bunten Völkchen der Afghanistan-Expedition, die von Konstantinopel an den Hindukusch führt. Doch ebenso wie Stichnote selbst bleibt er ein erstaunlich eindimensionaler Mensch, was vor allem daran liegt, dass Kopetzky sich für das psychologische Innenfutter seiner Figuren nicht interessiert. Alles, was sie machen, tun und sind, bewegt sich an der Oberfläche ihres Seins. Einfache Rückschlüsse auf ihr Handeln bietet die Geschichte zwar immer wieder, aber nie lotet sie die inneren Beweggründe der Figuren wirklich aus. Selbst die Tagebucheinträge Adolph Zicklers, die der Roman uns hier und da bietet, erreichen den Kern der Figur nicht:
    "Querung der Kewir. Tagesmärsche sehr hart. Bis zu 70 Kilometer zw. Wasserlöchern. Wasser meist ungenießbar. Morgens schon 40 Grad und mehr. Stürme. Salzauskrustungen stellenweise wie Eisschollen, gebrochen und nach oben gedrückt. Abflussrinnen ausgesalzen, Anblick in Sonne wie Silberfäden. Mehrere Männer und Kamele in Morast eingebrochen. Zwei Pferde gebr. Knöchel. Gnadenschuss. Erlebnisse in aller Stille. Jeder für sich. Bin selbst schon sehr erschöpft, alle anderen auch physisch am Ende, doch seltsam heitere Stimmung. Niedermayer: durch Salzinhalation eine Art Rausch. Ankunft Tschardeh, 50 Häuser, 400 Menschen, 800 Palmen. Kaufen Eier, Hühner und Datteln. Gegen Mittag 50 Grad Celsius. Große Oase Tebbes etwa 30 Kilometer weiter. Niedermayer besorgt wg. Spionen in Tebbes. Schickt Voraustrupp. Ashraf dabei. Ich selbst nicht. Verhalten Ashraf seltsam zuletzt. Scheint Angst zu haben. Wollte aber unbedingt nach Tebbes. Beschließe, heimlich zu gehen. Muss auf ihn aufpassen."
    Zehn Jahre Arbeit am Roman - mit enormer Recherche
    Der Telegrammstil ist freilich den Strapazen der Expedition und der zunehmenden Erschöpfung Zicklers zuzuschreiben. Ashraf ist ein indischer Spion in Diensten des britischen Empire, der die Pläne der Deutschen zu durchkreuzen sucht. Auch er ist Teil der sechzig Mann starken Truppe, die sich aufmacht, per Bagdadbahn, auf Pferden und auf Kamelen Wüsten- und Gebirgslandschaften zu durchqueren. Am Hindukusch soll der Emir von Afghanistan sowie die paschtunischen Stämme zum Angriff auf Britisch-Indien angestachelt werden. Dabei wünschte man sich als Leser sehnlichst eine Karte, auf der man den Wegen, die den Roman beinahe rund um die Welt führen, nachfolgen könnte. Von Albanien geht es erst auf dem Schiff über das Mittelmeer bis nach Konstantinopel. Die anschließende Expedition führt dann über Bagdad, Teheran und Isfahan nach Afghanistan. Ein Kartenauszug schmückt zwar das Cover des Buches, doch auf eine gescheite Karte im Inneren sowie auch auf ein Glossar, das ebenfalls gute Dienste geleistet hätte, meint der Verlag verzichten zu können. Das passt irgendwie zum allwissenden Erzähler, der den Roman vor uns ausbreitet. Wenn sein Erzählton eine Farbe hätte, wäre es Sepia, das gelbliche Braun, das man von alten Fotografien kennt. Als Leser droht man inmitten all der Namen, Orte und Kriegstreibereien immer mal wieder den Überblick zu verlieren; das dürfte insbesondere für diejenigen gelten, die den Kriegsverlauf in entlegenen Weltgegenden nicht vor Augen haben. Kopetzky behält seine Erzählfäden zwar sicher in der Hand, aber als Leser sollte man trotzdem sehr ausgeschlafen sein, um dem Faktengeschwader folgen zu können.
    Zehn Jahre hat er an dem Roman gearbeitet, der von enormer Recherche und etwas blühender Fantasie zeugt. Durch unwegsames Gelände führt er die Geschichte zum himmlisch ausgedachten Frieden von Verdun. Seinem Funker Stichnote verpasst er nicht nur höllische Zahnschmerzen, die klein anfangen und sich zum Äußersten steigern, sondern er gibt ihn auch der Heroin- und Opiumsucht anheim. Ein ganzes Kapitel überschreibt er mit "Rausch". Den anschließenden Entzug schildert er dann in grellen Farben. Dabei ist Kopetzky weit mehr am körperlichen Zustand seiner Figuren interessiert als an ihrem seelischen. Ihrer Auszehrung, den Strapazen der Expedition und ihren Unannehmlichkeiten widmet er sich mit aller Genauigkeit. Eine der stärksten Szenen des Buches ereignet sich dann beim Marsch durch die Wüste:
    "So erreichten sie kurz vor Sonnenaufgang einen Ort namens Mogul Betsch. Niemand wohnte dort. Verlassene Saatfelder und zusammengebrochene Kanäle aber ließen ihre Augen leuchten – sollte es hier irgendwo Süßwasser geben?
    Tatsächlich entdeckte der zähe Abdul Wehab, ohne den die Expedition verloren gewesen wäre, einen halbeingestürzten Kanal, der voller Wasser stand. Stichnote, Niedermayer und andere rissen sich die Kleider vom Leib und stiegen hinein, stellten dann aber fest, dass das Gewässer fast mehr Blutegel enthielt als Wasser.
    Panik brach aus, ein Infanterist aus Graz, dürr wie ein Gerippe, wälzte sich auf der Erde, da mehr als ein Dutzend ausgehungerte Egel sich an ihm festgesaugt hatten, an seinem Glied und seinen Hoden.
    Ohne auf die Gefahr von Entzündungen zu achten, rissen sie sich die Blutsauger vom Leib und glaubten dann, eine durch eine Art Wehr abgetrennte Stelle im Kanal gefunden zu haben, die unverseucht war. Stichnote trank als Erster und riss entsetzt die Augen auf, da ihm ein Blutegel in die Kehle geschlüpft war. Er glaubte für einen Moment, zu ersticken. Niedermayer brüllte ihn an, das Maul aufzumachen, aber der Schlagmeister und Funkoffizier hatte den Parasiten schon verschluckt, spuckte wie verrückt herum und schlug sich panisch auf den Bauch, da er den in der Salzsäure seines Magens sich windenden Egel zu spüren glaubte. Der Ekel war so groß, dass er sich übergab, und da zuckte tatsächlich das schwarze Würmchen in seinem jämmerlich dünnen Erbrochenen herum und wurde von Niedermayers Stiefel zertreten."
    Bildgewaltige Szenen
    Die Szene kann es in ihrer Bildgewalt aufnehmen mit dem berühmten Aalfang mit Pferdekopf aus Günter Grass' Roman "Die Blechtrommel". Doch während Grass mit solchen Szenen in seinem Buch nicht geizt, tut Kopetzky genau das. Er hält sich im Zweifel lieber an die Faktenlage und lädt die Wirklichkeit nur selten magisch auf. Dabei gelingen ihm trotzdem immer wieder auch sehr ironische und witzige Passagen, die etwa an Christian Krachts Roman "Imperium" denken lassen, wobei in "Risiko" der Detailreichtum des Erzählten dem Lesegenuss oft im Weg steht. Was einem das Lesen indes versüßt, sind die kulturgeschichtlichen Einschübe, die sich trefflich in den Roman fügen. Vieles kommt da zur Sprache: die Erfindung des Heroins aus dem Hause Bayer oder die Einnahme von Coca-Cola. Mal geht es um die Entwicklung des Echolots, dann um die des Brettspiels "Mensch ärgere Dich nicht", ein weiteres Spiel, das in diesem Roman vorkommt. Aus all diesen Versatzstücken baut der Roman die Welt vor hundert Jahren wieder auf. Dabei kreuzen natürlich auch viele bekannte Persönlichkeiten die Seiten, mal tritt Churchill auf, dann Mahatma Gandhi, der erst noch dabei ist, den Indern den gewaltlosen Widerstand gegen die Kolonialherren schmackhaft zu machen. Auch Lucien Camus, der Vater von Albert taucht überraschenderweise auf.
    "Camus stammte aus einer Vorstadt von Algier. Seine älteren Geschwister hatten ihn nach dem Tod des Vaters in ein Waisenhaus abgeschoben, wo er eine vollständig lieblose, traurige Kindheit verbrachte. Mit seinen Geschwistern wollte er seitdem nichts mehr zu tun haben und war froh, als er später bei einer Tante unterkam. Er lernte bei einem Weingärtner und traf dort die bildschöne Catherine, die nahezu taub war, seine Liebkosungen dafür umso besser verstand. Noch bevor sie verheiratet waren, konnte er zu ihr und ihrer Familie nach Belcourt ziehen, einem Kleineleuteviertel Algiers. Nach seinem Militärdienst, den er als Angehöriger der Zuaven bei der "Operation Casablanca" beendet hatte, besorgte ihm sein Schwager eine Stelle bei Ricome & fils, einem der größten Weinproduzenten des Landes mit Sitz in Algier."
    In der Verknüpfung unterschiedlicher Lebensläufe und geschichtlicher Ereignisse erweist sich der Roman als brillant komponiert. Dabei ist, bei seiner Geschichte nicht verwunderlich, auch immer wieder vom Islam die Rede. Ein Zitat aus dem Koran gibt dem Roman gar sein Motto, die Differenzen zwischen Sunniten, Schiiten und Wahhabiten werden zudem angesprochen. Einhundert Jahre nach den geschilderten Ereignissen scheint diese Religion viel von ihrem Zauber eingebüßt zu haben. Selbes gilt für viele der Orte, die im Roman zum Schauplatz werden. Wer kann den Namen Aleppo hören, ohne an das Morden in Syrien zu denken? Ähnliches gilt für den Balkan, den Taksim-Platz in Istanbul und den Iran. Die Exotik von einst ist dem Ernst der Nachrichtenlage gewichen. Aber genau darin liegt der Reiz des Romans. Schade also, dass Kopetzky ihn so überfrachtet hat.
    Steffen Kopetzky: Risiko. Verlag Klett Cotta, 726 Seiten, € 24,95