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Steg: Die Situation war Pest oder Cholera

Der stellvertretende Regierungssprecher unter Kanzler Gerhard Schröder, Thomas Steg, glaubt, dass der Schaden mit dem SPD-Ausschluss von Thilo Sarrazin noch größer hätte werden können. Aus dem "Provokateur" wäre "möglicherweise noch ein Märtyrer geworden", sagte Steg.

Thomas Steg im Gespräch mit Dirk Müller | 28.04.2011
    Dirk Müller: Gründonnerstag alles soll geräuschlos wie möglich verlaufen, doch spätestens jetzt ist klar, dass sich die Sozialdemokraten ein nachhaltiges Osterei ins eigene Nest gelegt haben. Die Entscheidung der SPD-Schiedskommission, Thilo Sarrazin weiterhin als Parteimitglied zu halten, sorgt in vielen Teilen der Parteibasis für richtigen Ärger. Die hessischen JuSos fordern sogar, dass Generalsekretärin Andrea Nahles den Hut nehmen soll. Über 1000 Unterschriften waren zuvor aus den Kreis- und Ortsverbänden der SPD zusammengekommen – Unterschriften mit einem klaren Votum: Der frühere Berliner Finanzsenator und Buchautor muss raus, aus der Partei! Nun ist der Schaden groß, was ist schiefgelaufen. Das wollen wir nun wissen von Kommunikations- und Politikberater Thomas Steg, jahrelang stellvertretender Regierungssprecher unter Gerhard Schröder und in der großen Koalition. Guten Morgen!

    Thomas Steg: Schönen guten Morgen, Herr Müller!

    Müller: Herr Steg, kann die Partei im Fall Sarrazin nur Fehler machen?

    Steg: Also jedenfalls war das von Anfang an eine Loose-Loose-Situation. Das Ausschlussverfahren, darauf haben viele hingewiesen, konnte kaum mit einem Ausschluss enden, aber es musste etwas getan werden. Nichts zu tun, das ging im vergangenen Herbst nicht, und was die Partei auch immer tun wollte, das konnte sich am Ende fast nur als falsch erweisen. Und Sarrazin hat in der SPD und in der Gesellschaft polarisiert, und Sie haben die genannt, die jetzt empört sind, aber erinnern Sie sich: Männer wie Helmut Schmidt oder Peer Steinbrück haben gesagt, so einen Mann müssen wir in unserer Partei ertragen.

    Müller: Wer hat nun recht?

    Steg: Das ist so leider nicht zu beantworten, weil der Streit um Sarrazin ist seit vielen Monaten geführt worden auch in der öffentlichen Debatte als eine Auseinandersetzung um die Meinungsfreiheit: Darf man so etwas sagen, was Thilo Sarrazin in seinem Buch aufgeschrieben hat? Und dann muss man sagen, dass das Grundgesetz mit dem Recht auf Meinungsfreiheit weite Grenzen absteckt, und das ist auch gut so, und dass ein Ausschlussverfahren nach dem Parteistatut der SPD auch nach strengen Regeln abläuft, und die Frage eben nur gestellt wird: Hat er der Partei geschadet? Und das hat diese Schiedskommission, die zuständig ist, verneint. Also insofern, man kann nicht sagen, wer recht hat, und es ist für die SPD eine schwierige, eine verfahrene Situation, die über diesen administrativen Weg nicht zu lösen war.

    Müller: Wenn wir dem folgen, was Sie sagen, Herr Steg, hat Thilo Sarrazin der Partei genutzt?

    Steg: Nein, er hat der Partei natürlich nicht genutzt, das ist ganz offensichtlich, denn es ist ihm gelungen, seine provozierenden Thesen – und er gefällt sich ja in der Rolle als Provokateur – auch in der Öffentlichkeit zu platzieren als Mitglied der SPD. Und sozusagen ein Tabu-Bruch ist, ihn zu begangen haben, weil in der SPD traditionell diese Positionen, die er öffentlich vertreten hat, nicht laut vertreten sind oder gar nicht vertreten sind. Insofern, für die SPD waren die letzten Monate und sind aktuell die Debatten eine Belastung.

    Müller: Welche Rolle hat der Berliner, der landespolitische Berliner Wahlkampf gespielt?

    Steg: Ich glaube, da wird zu viel hineininterpretiert. Die Auseinandersetzung war schwierig, darüber sind wir uns einig, für die SPD war es eine verfahrene Situation, die am Ende nicht gewonnen werden konnte. Dann ist es sinnvoll, wenn eine Schiedskommission sagt, wir werden nicht auf Ausschluss plädieren, wenn man dann sagt, wir gehen nicht mit dem Kopf durch die Wand, wir beenden das Verfahren – das würde vor jedem ordentlichen Gericht ein vernünftiger Anwalt einem auch raten. Es ist jetzt sicherlich keine Entscheidung, dass man sagt, demnächst wird in Bremen gewählt, und dann wollen wir diese Debatte los haben. Das Ergebnis ist doch, die Debatte wird gerade wieder intensiv geführt. Also da wird zu viel hineininterpretiert.

    Müller: Aber gerade bei der Parteibasis in Berlin wie auch in vielen anderen Parteigliederungen, wir haben immer wieder Umfragen gehört, wonach ja die Mehrheit der SPD-Mitglieder durchaus positiv gestimmt war über das, was Sarrazin gesagt hat – spielt das keine Rolle?

    Steg: Das muss man eben ganz genau sehen. Egal, wie dieses Verfahren – deswegen war dieses Verfahren am Ende, mit welchem Ergebnis es auch immer ausgeht, ein problematisches Verfahren, sozusagen eine Loose-Loose-Situation für die SPD. Wenn Sarrazin ausgeschlossen worden wäre, hätten ganz viele empört reagiert, Mitglieder der SPD, vielleicht aber noch mehr Wähler der SPD, die sich durchaus von ihm angesprochen fühlen. Bleibt er in der Partei, wie es jetzt entschieden ist, sind ebenso viele, vor allen Dingen jüngere Aktivisten empört. Im Grunde genommen war das eine klassische Situation: Pest oder Cholera?

    Müller: Wir haben – das, glaube ich, nicht nur im Deutschlandfunk – das aber so verstanden, dass Sigmar Gabriel beispielsweise doch ganz klar plädiert hat für einen Rausschmiss.

    Steg: Ja, ich glaube, Sigmar Gabriel musste im vergangenen Herbst als Parteivorsitzender einfach deutlich machen, weil dort die Empörung und die Zuspitzung der Debatte ja kulminierte im September, Oktober, dass er als Parteivorsitzender diese Debatte nicht nur laufen lässt. Und er ist ein Risiko eingegangen, er hat eine Position bezogen, und er hat gesagt, das muss überprüft werden, ob solche Positionen mit dem Parteistatut übereinstimmen, ob sie toleriert werden.

    Müller: Aber er ist doch weitergegangen, Herr Steg, er hat doch gesagt, wir müssen uns von ihm trennen.

    Steg: Ja, ich glaube, er musste diesen Trennungsstrich auch ziehen, obwohl er wusste, dass das Ergebnis nicht sicher ist bei einem Ausschlussverfahren. Und vergessen wir nicht, Sigmar Gabriel war derjenige, der dann in mehreren Interviews und vor allen Dingen in einem langen Zeitungsbericht sich intensiv mit dem Buch auseinandergesetzt und begründet hat, warum er glaubt, dass Thilo Sarrazin nicht in die SPD gehört, nicht mehr in die SPD gehört. Und insofern, Gabriel wollte ein anderes Ergebnis.

    Müller: Jetzt sprechen Sie von einem Trennungsstrich, de facto hat es den jetzt nicht gegeben.

    Steg: Ja, insofern bin ich sicher, dass Gabriel bedauert, dass es zu diesem Ergebnis gekommen ist. Er hätte sich den Parteiausschluss gewünscht, aber das Parteigericht ist unabhängig und wollte diese Entscheidung nicht herbeiführen. Vielleicht – das ist jetzt aber Spekulation – wird die SPD in einem Jahr sagen, so kann irgendwann mal Gras über die Sache wachsen und es ist dann in Ordnung. Es gab in der SPD mehrere Meinungen, wie man mit Thilo Sarrazin umgeht. Gabriel wollte den Ausschluss, das Parteigericht hat gesagt, wir schließen ihn nicht aus, jetzt hat es die Verständigung Gründonnerstag gegeben, und wir werden uns mit dieser Debatte noch beschäftigen. Wobei ich ganz ehrlich sagen muss: Stellen wir uns vor, Sarrazin wäre ausgeschlossen worden, dann wäre aus einem Provokateur möglicherweise noch ein Märtyrer geworden, der Schaden hätte sogar noch größer werden können.

    Müller: Ich muss Sie das dennoch noch mal fragen, Herr Steg, Sie sind nicht Mitglied der Schiedskommission, ich will jetzt auch nicht fragen, wie Sie votiert hätten, aber wie viel Opportunismus war dabei?

    Steg: Ich hoffe, dass da kein Opportunismus dabei war, sondern wie das in einem Gerichtsverfahren üblicherweise ist, dass nach den Statuten entschieden worden ist. Ich persönlich glaube, dass die Thesen von Thilo Sarrazin so empörend waren, so deutlich waren in dem, was er gesagt über das genetische Material von bestimmten Bevölkerungsgruppen, dass eigentlich ein Parteiausschluss aus meiner Sicht in der Tat notwendig gewesen wäre, um deutlich zu machen, das waren Positionen, die zu weit gehen und die mit der Tradition der SPD deutlich brechen. Aber das Parteigericht hat anders entschieden, und insofern ist jetzt auch Gelegenheit, wieder über das zu diskutieren, was Sarrazin im Buch eben auch geschrieben hat.

    Müller: Und als Schlussfolgerung könnte man den Schluss ziehen, in der SPD kann man fast alles sagen?

    Steg: Nein. Ich denke, wir sollten es positiv wenden. Meinungsfreiheit ist in Deutschland ein hohes Gut, und Meinungsfreiheit deckt sehr vieles ab – bei Karikatur, in der Kunst und so weiter, das wissen wir. Und das sollte auch beibehalten bleiben. Und ich glaube, dass man bestimmte Meinungen und Einstellungen nicht verbieten kann. Das eigentliche Drama ist doch dahinter, welche Massenwirkung Thilo Sarrazin mit seinem Buch erreicht hat: 1,5 Millionen, fast 1,5 Millionen verkaufte Exemplare. Dass es Tumulte gegeben hat bei seinen Lesungen, dass Kritiker beschimpft und bepöbelt wurden bei Lesungen. Und wir sollten uns vielleicht in Deutschland sehr intensiv mit bestimmten Thesen auseinandersetzen und mit der Wirkung dieser Thesen. Wenn es ein Mann wäre, der noch charismatisch ist, der ausstrahlungsfähig gewesen wäre, dann wäre es durchaus möglich, dass mit so einem Mann und mit diesen Thesen eine Partei am rechten Rand entstehen könnte in Deutschland. Und ich finde, das ist das eigentliche Thema, über das wir weiterdiskutieren müssen.

    Müller: Der frühere Vize-Regierungssprecher Thomas Steg, jetzt Kommunikations- und Politikberater in Berlin, vielen Dank für das Gespräch und auf Wiederhören!

    Steg: Wiederhören!