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Steigende Corona-Infektionszahlen
Virologin: Wir haben gelernt, die Risikogruppen zu schützen

Die Zahl der Corona-Neuinfektionen in Deutschland steigt, doch es gibt derzeit nur wenige Todesfälle. Wie zu Beginn der Pandemie steckten sich vor allem junge Leute an, sagte die Virologin Ulrike Protzer im Dlf. Anders als im Frühjahr sei heute ein Übergreifen auf ältere Menschen besser zu verhindern.

Ulrike Protzer im Gespräch mit Daniel Heinrich | 17.09.2020
Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der TUM und am Helmholtz Zentrum München
Ulrike Protzer, Direktorin des Instituts für Virologie an der TUM und am Helmholtz Zentrum München (dpa/Sven Hoppe)
Deutschlandweit steigen die Corona-Infektionszahlen wieder an. In mehreren Landkreisen ist die als kritisch definierte Marke von 50 Neuinfektionen pro 100.000 Einwohner innerhalb der vergangenen sieben Tage überschritten worden, weitere Kreise kratzen an dieser Marke. Das Infektionsgeschehen nähert sich immer mehr demjenigen im Frühjahr an. Anders als damals kenne man das SARS-CoV-2-Virus nun aber besser, sagte die Direktorin des Instituts für Virologie an der TU München, Ulrike Protzer, im Gespräch mit dem Dlf. Man habe gelernt, wie die gefährdeten Mitglieder der Gesellschaft geschützt werden können. Falls die Infektionszahlen weiter anstiegen, müsse auch wieder über eine Verschärfung von Schutz-Maßnahmen nachgedacht werden.
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Daniel Heinrich: Die Zahlen der Neuinfektionen mit dem Coronavirus haben in Deutschland den höchsten Stand seit April erreicht. Wie besorgniserregend ist das?
Ulrike Protzer: Schon ein bisschen. Ich denke, wir haben alle damit gerechnet, dass zum Herbst hin die Infektionen wieder ansteigen, aber eigentlich ist es noch ein bisschen zu früh. Wir sind ja noch nicht im Herbst, wir sind ja noch im Spätsommer letztendlich, und eigentlich die richtige Erkältungswelle und die typische Zeit, die kommt noch, die steht noch vor uns. Was uns jetzt sicherlich im Moment Probleme macht ist, dass einfach um uns herum in Europa doch eine sehr hohe Corona-Aktivität ist und dass wir einiges haben, was durch Reiserückkehrer mit zu uns gebracht wurde.
Gefahr für exponentielles Wachstum ist da
Heinrich: Könnte man nicht sagen, das ist alles halb so wild, weil wir inzwischen einfach mehr wissen über das Virus?
Protzer: Absolut, das ist sicherlich eine andere Situation als das, was wir im Frühjahr hatten, wo wir ja so gar nicht wussten, was auf uns zukommt, wie mit dem Virus umgehen. Aber die Gefahr, dass es wieder zu einem exponentiellen Wachstum kommt, ist natürlich schon da. Das heißt, wenn jetzt die Zahlen wieder doch relativ hoch sind, heißt das nicht, dass wir jetzt in Panik verfallen müssen, aber einfach, dass wir uns klarmachen müssen, das Virus ist nicht weg und wir müssen weiter aufpassen.
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Es gibt derzeit sehr viele Tests auf SARS-CoV-2. Dabei wird auch über die Frage diskutiert, ob eines der besonders empfindlichen Testverfahren eventuell auch bei Patienten anschlägt, die nicht mehr ansteckend sind.
Heinrich: Wenn wir uns die Infektionszahlen angucken, dann sind die vergleichbar mit den Zahlen im Frühjahr. Ein Fakt, der mir aufgefallen ist bei der Vorbereitung: Wenn man sich die Todeszahlen ansieht, dann sind die nicht vergleichbar mit dem Frühjahr. Woran liegt das?
Protzer: Im Frühjahr war die Situation so, dass wir zunächst sehr geringe Todeszahlen hatten. Da waren es hauptsächlich die Skifahrer, die zurückkamen aus Italien, aus Österreich, das Virus mitgebracht haben. Das waren junge, meist doch relativ fitte Menschen, und wir hatten geringe Todeszahlen. Dann hat es übergegriffen auf die ältere Bevölkerung, auch auf gefährdetere Menschen, und dann stiegen die Todeszahlen an.
Coronavirus
Übersicht zum Thema Coronavirus (imago / Rob Engelaar / Hollandse Hoogte)
Im Moment sind wir jetzt wieder in der Situation, dass sich doch vermehrt die Jüngeren anstecken, und die erkranken einfach deutlich seltener schwer und die sterben auch ganz selten daran. Ich glaube, so kann man das erklären. Was die große Hoffnung ist, ist, dass wir es jetzt durch das, was wir gelernt haben, schaffen, dass es nicht mehr auf die ältere Bevölkerung überspringt. Ich glaube, die Menschen schützen sich besser, aber auch wir haben mehr Schutzkleidung und einfach besser gelernt, wie wir die gefährdeten Mitglieder unserer Gesellschaft schützen können.
Übertragung in der präsymptomatischen Phase als große Gefahr
Heinrich: Bringen Sie uns doch auf den neuesten Stand. Was wissen wir denn darüber, wie das Virus genau übertragen wird?
Protzer: Das Virus wird auf jeden Fall über die Atemluft übertragen. Da gibt es zwei Möglichkeiten. Da gibt es die Tröpfchen. Das ist, wenn man hustet oder niest. Und dann gibt es die Aerosole. Das sind im Prinzip nichts anderes als kleine Minitröpfchen, vielleicht zehn oder 20mal kleiner als ein Tröpfchen. Das Fiese an den Aerosolen ist: Die sinken nicht so schnell zu Boden. Die sind nicht so schnell wieder weg aus der Atemluft.
Christian Drosten ist Direktor am Institut für Virologie der Charité Berlin
Drosten: "Im Alltag eher aufs Lüften konzentrieren als auf ständiges Desinfizieren"
Die Übertragung des Coronavirus durch Aerosole, also Schwebeteile in der Luft, gerät immer mehr in den Fokus. Sie könnte gleichbedeutend mit der Tröpfchenübertragung sein, sagte der Virologe Christian Drosten.
Das muss man sich ein bisschen vielleicht vorstellen wie der Rauch einer Zigarette oder einer E-Zigarette. Da sieht man das ja ganz schön, wie das durch die Luft wabert, und da können die Viren mitfliegen und da können sie auch andere infizieren, und das ist natürlich das, was gefährlich an diesem Virus ist oder unberechenbar, sagen wir mal so. Denn man sieht es nicht und es geht dadurch doch eine ganze Weile in der Luft spazieren, wenn man es nicht schafft, den Raum zu durchlüften und einfach die Luft auch wieder auszutauschen.
Heinrich: Korrigieren Sie mich, wenn ich da falsch liege. Ich habe bei der Vorbereitung des Interviews gelesen, dass diese Teilchen Stunden bis Tage in der Luft schweben können. Müsste ich dann nicht die ganze Zeit innen eine Maske tragen?
Protzer: Stunden ja; Tage halte ich jetzt für etwas übertrieben, denn ein bisschen Luftzug ist natürlich in jedem Raum und dann löst sich – auch das weiß man, wenn man den Rauch anguckt, der da ist – das doch auf. Aber über viele Minuten bis hin zu Stunden kann es schon da bleiben. Und dann ist natürlich die Frage, wie hoch ist die Virusdichte, wenn jetzt jemand infiziert ist. Da ist es leider so: Bevor man Symptome bekommt, in der präsymptomatischen Phase, hat man doch sehr viel Virus auf den Schleimhäuten und kann es da auch über einfaches Ausatmen oder vor allem, wenn man dann lauter spricht oder vielleicht singt oder so, in größerer Menge in diesen Aerosolen in die Luft abgeben. Da besteht dann letztendlich auch die Gefahr.
Das heißt natürlich nicht, dass man jetzt ständig mit Maske herumrennen muss, denn es ist ja auch nicht ständig jemand im Raum, der infiziert ist. Aber in Bereichen, wo man das gar nicht abschätzen kann und wo viele Menschen sind, da macht es schon absolut Sinn.
Schutzmaßnahmen gegebenenfalls anpassen
Heinrich: Ich habe vor meinem inneren Auge gerade die Hochzeitsfeier vor Augen, die in einem geschlossenen Raum stattfindet. Österreich will ab der kommenden Woche private Feiern begrenzen auf zehn Personen. Das müsste ja nach Ihrer Logik oder Ihrer Logik folgend auch auf Deutschland übertragen werden, um diese Infektionszahlen gering zu halten, die Neuinfektionszahlen?
Protzer: Zehn Personen ist sicherlich eine relativ geringe Zahl. Das ist ja alles eine statistische Rechnung. Wie viele Menschen oder wie viele Neuinfektionen habe ich denn? Wenn ich jetzt diese magische Zahl von 100.000 nehme und ich habe die Grenze 50 von 100.000, dann ist es ja einer von 2000. Wenn ich mit zehn Leuten Feiern mache, dann können es schon 200 Feiern sein, bevor auf einer jemand ist, der infiziert ist. Wenn ich jetzt entsprechend 100 Menschen zulasse, dann sind es halt nur 20 Feiern und ich habe auf jeder 20. Feier jemand, der infiziert ist. Ich glaube, so muss man sich ein bisschen dieses Risiko versuchen, auch bildlich vorzustellen, und je nach Infektionsgeschehen dann einfach anpassen und sagen, okay, ein Risiko, dass auf jeder 100. Feier jemand ist, kann ich tolerieren, aber ein Risiko auf jeder 20. Feier ist mir dann zu viel. Ich glaube, auf Zahlen basiert muss man diese Entscheidung dann fällen.
Heinrich: Aber das ist ja eigentlich eine klare Ansage, wenn ich Ihnen folge, an die Politik. Ich meine, mich zu erinnern, in Bayern sind 100 Personen bei Hochzeiten innen ohne Abstand und Sicherheitsmaske erlaubt; in Nordrhein-Westfalen sind es 150. Das müsste doch dann eigentlich geändert werden, weil sonst das Risiko zu hoch wird.
Protzer: Wenn die Zahlen über diese 50 pro 100.000 ansteigen, dann denke ich schon, dass man darüber nachdenken muss, ob man auch da die Menge an Menschen, die ohne Schutz zusammen sind, in einem Raum zusammen sind, wieder anpasst. Draußen ist das ganze unkritischer, denn draußen habe ich zum einen im Moment natürlich sehr häufig noch schönes Wetter, ich habe UV-Strahlung, die die Viren schädigt, und ich habe einen ständigen Luftzug, so dass die Ansteckungsgefahr dort einfach viel geringer ist.
Das Risiko ist wirklich in geschlossenen Räumen, vielleicht auch noch, wenn man schlecht lüften kann. Da ist es dann ganz sicher empfehlenswert, entweder die Zahl der Personen einzuschränken, oder zumindest dafür zu sorgen, dass man sehr, sehr regelmäßig für Luftdurchmischung in den Räumen sorgt.
Schutz von Mund und Nase ist sinnvoll
Heinrich: Ich persönlich beobachte im öffentlichen Nahverkehr, auch im privaten Umfeld häufig Menschen, die diese Masken nur über dem Mund tragen, nicht über der Nase. Bringt das was?
Protzer: Es bringt schon was, aber es bringt natürlich viel weniger, als wenn ich sie über Mund und Nase trage. Wir wissen von diesem Virus, die höchste Vermehrung, die höchste Replikation, wie wir sagen – das ist die Virusvermehrung -, findet hinten in der Nase statt, im Nasen-Rachen-Raum statt, und natürlich wird es da über die Atemluft ausgeschieden. Es wird aber auch über die Atemluft aus der Nase ausgeschieden und deswegen ist das, was wirklich Sinn macht, schon ein Mund-Nasen-Schutz, der über beides geht.
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Joe Biden und Kamala Harris tragen sie, Donald Trump selten und widerwillig. Die Maske oder Mund-Nasen-Bedeckung ist mehr als nur ein Stück Stoff im Gesicht. Keine Zierde, aber ein Signal: ein politisches Requisit.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.