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Sten Nadolny: "Das Glück des Zauberers"
Fliegen, Verkleinern, Unsichtbarmachen

Kommt ein Magier einfacher durchs Leben? Wie weit reicht seine Macht? In "Das Glück des Zauberers" nimmt der Held den Leser mit durch sein Leben - von 1906 bis in die Gegenwart. Sten Nadolny geht in seinem neuem Roman auf die Suche nach dem magischen Moment in einer entzauberten Welt.

Von Cornelius Wüllenkemper | 07.09.2017
    Der französische Magier Fred Chi Poque während eines Auftritts auf dem First Golden Magic XXI International Festival of Magicians in der Moskauer Crocus City Hall.
    In Nodolnys Geschichte dürfen sich Zauberer nur unter ihresgleichen zu erkennen geben, normale Menschen wären sonst verwirrt, zumal man sich als Zauberer "schnell zum Feind staatlicher Autorität macht". (picture alliance / dpa / Vitaliy Belousov)
    Sten Nadolnys Helden sind stoische Beobachter, kritische Außenseiter. Schon der Polarforscher John Franklin in Nadolnys Hauptwerk "Die Entdeckung der Langsamkeit" zeichnet sich dadurch aus, dass er langsamer denkt und reagiert als andere, so aber zugleich dadurch aber einen neuen, tieferen Bick auf die Welt gewinnt. Gleiches gilt für Nadolnys neuen Helden, einen Zauberer namens Pahroc.
    "Mein Vater John war ein richtiger Indianer. Er konnte ohne Sattel reiten, mit dem Bogen Pfeile verschießen und tanzen wie ein Gott, aber wohlgemerkt nicht zaubern! Dass ich es konnte, oder irgendwann mal können würde, war mir als Kind nicht klar, und es gab auch zunächst niemanden, der es mir sagte. [...] Ich merkte nur, dass ich kein normales Kind war, und ich litt darunter."
    Wie man durch das tumultuöse 20. Jahrhundert kommt
    Mit diesen Worten richtet sich Pahroc, der 1906 in Berlin das Licht der Welt erblickt, im Alter von über 100 Jahren an seine Enkelin Mathilda, auch sie eine Zauberin. In zwölf Briefen, die der Großvater bis zu seinem Tode im Frühjahr 2017 an seine Enkelin schreibt, berichtet Pahroc davon, wie er als Zauberer durch das tumultuöse 20. Jahrhundert gekommen ist. Er gibt ihr Ratschläge und Anleitungen, wie man Zauberfähigkeiten trainiert, und warnt auch vor deren Gefahren. Zauberer müssen erst auf ihre Fähigkeiten gestoßen werden, brauchen einen Zauberlehrer. Im Pahrocs Fall übernimmt das sein Nachbar in Berlin-Pankow, ein gewisser Herr Schlosseck.
    "Erkannt hatte er mich schon als Säugling über die Straße hinweg - er konnte mich in meiner Wiege auf dem Balkon beobachten. Ihm war aufgefallen, dass ich im Halbschlaf ein langes Ärmchen machte und im Blumenkasten Petunien abriss, die kein normales Kind hätte erreichen können. Er nahm sich dann in den folgenden Jahren meiner an und zeigte mir, als ich schon ein paar Sachen konnte, Proben einer eigenen großen Kunst."
    Zauberer dürfen sich nur ihresgleichen zu erkennen geben
    Beim Nachbarn Schlosseck, einem "echten Philosophen", lernt der Nachwuchszauberer das Schweben in der Luft, das Ändern der eigenen Gestalt, das "Schönersein" und "Andersein", Ausstrahlung, Lächeln und das Mädchengewinnen. Später dann wird Pahroc durch Wände gehen können, sich blitzschnell in ein Wesen aus Stahl verwandeln, sich verkleinern, vervielfachen oder unsichtbar machen. Und sogar Geld kann Pahroc herbeizaubern. Aber Vorsicht! Zauberer dürfen sich nur unter ihresgleichen zu erkennen geben, denn die normalen Menschen würden sonst verwirrt, zumal man sich als Zauberer schnell zum Feind der staatlichen Autorität macht. Über eine geheime Zaubererkonferenz am Fantasieort Polykarp Anfang der 1930er Jahren heißt es:
    "Die Polykarper Gespräche drehten sich zu allererst um die gefährliche Lage. Sie erforderte ein Zusammenhalten der guten Zauberer gegen die bösen. Wir wollten gemeinsam handeln und Menschen unserer Sorte beistehen, sie nötigenfalls befreien und beschützen. Staaten sind ohnehin immer gegen Zauberer gewesen, aber in diesem Deutschland herrschten Hass und Rohheit eine nirgends und niemals zuvor."
    Parallelrealität an der verbrieften Geschichte des 20. Jahrhunderts
    In "Das Glück des Zauberers" entführt Sten Nadolny seine Leser in eine Parallelrealität, die er an der verbrieften Geschichte des 20. Jahrhunderts spiegelt. Bald ergreift eine "alleinregierende Partei" die Macht. Pahrocs Zauberlehrer Schlosseck verschwindet von heute auf morgen, dafür steigt Pahrocs ehemaliger Schulkamerad Schneidebein, ebenfalls Zauberer, zur Parteigröße auf. Pahroc selbst tarnt sich als Küster einer Kirchengemeinde in der Uckermark, später als Betreiber eines Elektrogeschäfts in Bayern, überhaupt betätigt er sich als Erfinder, Pyrotechniker und später als Privatpilot, Fluchthelfer und Psychoanalytiker. Nadolny durchläuft die Zeitgeschichte, vom Kampf um Berlin über den Hungerwinter, bis zu den Tabus der jungen Bundesrepublik, von den Versprechen des Sozialismus bis zum Selbstfindungstrip der Hippies, vom Mauerfall bis zu den Kriegen und Flüchtlingsbewegungen unserer Tage. Voller Humor aber mit der scheinbaren Ernsthaftigkeit eines echten Zauberers besieht sich Nadolnys Erzähler die sonderbaren Begebenheiten der Geschichte und hilflos wirkenden Verhaltensweisen der Menschen, die sie bewohnen. Über die 68er Generation heißt es etwa:
    "Führung war über Nacht zu einem Unwort geworden, weil es den Studenten nach Bevormundung klang. Alles sollte jetzt von allen diskutiert und dann gemeinsam beschlossen werden. [...] Kein Führer sollte mehr Entscheidungen treffen, nur noch "die Basis". Die, die das am energischsten verkündeten, waren natürlich doch irgendwie Führer, aber sie hätten sich niemals selbst als solche bezeichnet, denn sie waren jetzt streng antiautoritär."
    "Außenseiter kommt auf waidwunde Zivilisationskritik"
    Dass Sten Nadolny einer der ganz großen deutschsprachigen Erzähler und noch dazu ein begnadeter Stilist ist, daran kann nach der Lektüre dieses Romans kein Zweifel bestehen. Nur: Was verbirgt sich hinter dieser Erzählhaltung, hinter diesem kritisch distanzierten, warnenden Zauberer? Der "Autor Weitling", so heißt es in Nadolnys autobiografischem Vorgänger "Weitlings Sommerfrische", sei ein "Spezialist für die Neuformulierung von Binsenweisheiten". Das gilt potenziert für den Zauberer Pahroc. Als unerkannter Zauberer und selbst gewählter Außenseiter kommt er am Ende seiner Briefe an die Enkelin immer wieder auf eine waidwunde Zivilisationskritik. Das endet dann zuweilen leider in esoterisch anmutenden Zaubersprüchen wie:
    "Die Erziehung von Kindern ist eines der schwersten Kunststücke überhaupt, kaum jemand kriegt das richtig hin."
    Über das Glück heißt es:
    "Glück [... ] ist das Gefühl, dass man dem großen Zusammenhang des Lebens auf der Spur ist und dass man mit ihm im Einklang ist oder immerhin bald sein wird."
    Oder:
    "Liebe widerstrebt listig der Frage nach dem Warum (und lässt sich daher auch nicht digitalisieren). Wer beschreiben will, warum er jemanden liebt, gerät ins Stammeln."
    Und über die Weisheit erfahren wir:
    "Die meisten Einsichten kommen durch Scheitern zustande, deutlich mehr als durch Erfolge."
    Zauberei bedeutet letztlich, sich den kindlichen Blick auf die Welt, den Mut zum Träumen zu bewahren, es ist die "Abwesenheit von Strategie", wie es einmal heißt. Der Hang zu einfachen Wahrheiten wirkt im Epilog des Romans dann endgültig überdreht. Denn als Pahrocs Enkelin Mathilda im Jahre 2030 die Briefe ihres Großvaters liest, ist die Welt längst zu einem gänzlich entzauberten, bösen Ort geworden. Hätte man Pahrocs warnende Briefe nur früher gelesen! So viel Pathos gegenüber dem eigenen Werk ist ärgerlich. Das ändert freilich nichts daran, dass Sten Nadolny immer dort, wo er sich nicht zur ganz großen Welterklärung aufschwingt, mit unbändiger Fantasie und großer sprachlicher Könnerschaft vorführt, wie einfach Literatur verzaubern kann.
    Sten Nadolny: "Das Glück des Zauberers"
    Piper Verlag München, 1. September 2017, 316 Seiten