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Stephen Greenblatt
"Die Geschichte von Adam und Eva"

Adam und Eva bleiben wirkmächtig. Davon ist der US-Literaturwissenschaftler Stephen Greenblatt überzeugt. Die Geschichte von Adam und Eva ist für ihn der mächtigste Mythos der Menschheit. Sein Buch kann Leser nicht nur klüger machen, sondern auch zu besseren Menschen, findet unser Rezensent.

Von Andreas Main | 09.07.2018
    Buchcover Stephen Greenblatt: Die Geschichte von Adam und Eva
    Stephen Greenblatt: "Die Geschichte von Adam und Eva" (Siedler Verlag / picture-alliance / David Ebener)
    Ganz am Anfang - auf Seite 12 - schlägt Stephen Greenblatt jenen Ton an, der sich durch sein ganzes Buch zieht. Es ist ein Ton, den der Leser - wenn überhaupt - nicht so schnell vergessen wird:
    "Wir Menschen können nicht leben ohne Erzählungen. Wir umgeben uns damit, erfinden sie im Schlaf, wir erzählen sie unseren Kindern, zahlen sogar dafür, dass uns Geschichten erzählt werden. Manche von uns haben aus dem Geschichtenerfinden einen Beruf gemacht. Und dann sind da noch einige wenige, mich eingeschlossen, die ihr ganzes Erwachsenenleben damit verbringen, Erzählungen zu ergründen, ihre Schönheit, ihre Macht, ihren Einfluss."
    Stephen Greenblatt ist Professor für Englische und Amerikanische Literatur und Sprache an der Elite-Universität Harvard in Boston. Er ergründet jene Erzählung, die aus seiner Sicht die Welt verändert hat: die Erzählung von Adam und Eva, die Schöpfungsgeschichte.
    Schlange, Apfel, Sündenfall
    Wenn Stephen Greenblatt ergründet, dann mit einer Tiefe, wie es sich für einen Wissenschaftler gehört - zugleich aber auch mit einer Leidenschaft, die einen in den Bann zieht:
    "Mein Leben lang blieb ich fasziniert von den Geschichten, die wir Menschen erfinden im Versuch, unserer Existenz einen Sinn zu verleihen, und mir wurde klar, dass es jämmerlich unpassend ist, von 'Lüge' zu sprechen, wenn es um solche Erzählungen geht, mögen sie noch so phantastisch sein."
    Schlange, Apfel, Sündenfall - jeder kennt diese Geschichten. Und doch tut sie manch einer ab, was aus Sicht des Autors ein Fehler ist. Denn auch wenn man - wie Stephen Greenblatt - sich nicht als religiös versteht, hat der Mythos von Adam und Eva Wirkung.
    Ursünden-Theologie
    "Nur wenige Erzählungen waren derart weit verbreitet, nur wenige haben sich im Lauf der Weltgeschichte als derart haltbar erwiesen, als derart beharrlich, als derart betörend real."
    Diese Wirkungsgeschichte erzählt Stephen Greenblatt, indem er von Menschen erzählt, denen Adam und Eva so wichtig waren wie ihm selbst. Er porträtiert etwa den Theologen Augustinus aus Tagaste im heutigen Algerien oder den englischen Dichter John Milton aus dem 17. Jahrhundert oder schließlich den Evolutionsforscher Charles Darwin. Sie alle haben unser Bild von diesem Mythos geprägt - in je unterschiedlicher Weise und durchaus konträr zueinander.
    Was all diese Denker allerdings verbindet: Sie hätten diese These Stephen Greenblatts wohl unterschrieben:
    "Die Erzählung von Adam und Eva spricht uns alle an, sie handelt davon, wer wir sind, woher wir kommen, warum wir lieben, warum wir leiden. Drei großen Glaubenswelten dient sie als einer ihrer Grundsteine. Sie stellt dar, auf welch seltsame Weise sich unsere Gattung zu Arbeit, Sex und Tod verhält - zu Grundtatsachen des Daseins, die wir mit allen anderen Tieren gemeinsam haben; sie macht diese zum Gegenstand von Spekulation."
    Wer Stephen Greenblatt liest, muss nicht gläubig sein. Er sollte sich aber dafür öffnen können, dass theologisches Denken längst vergangener Zeiten bis heute relevant sein kann. Sonst wird die Lektüre schwer fallen. Denn es ist natürlich einfach zu sagen: Was hat das mit mir zu tun, was vor rund 1600 Jahren ein Mann geschrieben hat, der offenbar ein problematisches Verhältnis zu seiner Mutter hatte, was dann zu seiner Ursünden-Theologie geführt haben mag.
    Aber eben dieser Augustinus beschäftigt seitdem so viele große Denker. Oder anders gesagt: Wir kommen aus der Augustinus-Nummer niemals raus.
    Lust- und Frauenfeindlichkeit
    Das mag sich schwer und akademisch anhören. Und dieses Buch zeichnet sich durch Tiefe aus - aber eben gerade auch durch Leichtigkeit. Stephen Greenblatt wagt sich an diesen Augustinus so, dass dessen Lebens- und Denkgeschichte zu einem Krimi wird.
    Stephen Greenblatt macht Augustinus - aber auch anderen Denkern des frühen Christentums - diesen zentralen Vorwurf: Während in jüdischer Tradition die hebräische Schöpfungsgeschichte Adam und Eva ekstatisch feiert, ebenso die Ehe, das Zusammenleben von Mann und Frau sowie die Fortpflanzung, deuten vor allem Augustinus und Hieronymus diese Geschichte massiv um.
    Greenblatt belegt im Detail, ohne sich in diesem zu verlieren, wie sich etwas ändert. Lustfeindlichkeit setzt sich durch. Die Misogynie hält Einzug in unser Denken oder besser: Die Frauenfeindlichkeit der Antike kommt zu neuer Blüte - durch die Denker dieser sich erfolgreich ausbreitenden Religion namens Christentum.
    Die Frauenverachtung steigert sich im Laufe der Jahrhunderte - bis hin zur Hexenverfolgung, der allerdings auch Männer zum Opfer fielen. Doch die Ideologen der Menschenverachtung beriefen sich immer wieder auf Augustinus.
    "Augustinus hatte sein Prinzip durchgesetzt, die Ereignisse im Garten Eden würden fortan als buchstäblich wahr aufgefasst. Das Beharren darauf, dass das Gespräch zwischen Eva und der Schlange tatsächlich stattgefunden habe, eröffnete Hexenjägern den Raum, den sie für ihre Machenschaften brauchten, und ihre Behauptungen wurden verstärkt durch in Massen produzierte, immer wirkmächtigere Bilder der schicksalsschweren Szene im Garten Eden."
    Um keinen falschen Eindruck zu erwecken: Um Augustinus geht es in diesem Buch nur in zwei Kapiteln auf rund 50 Seiten. In weiteren 14 Kapiteln zeichnet Stephen Greenblatt chronologisch die Rezeptionsgeschichte jenes Mythos nach, der ihn seit Jahrzehnten beschäftigt.
    Studie über Religion und Aufklärung
    Stephen Greenblatt erzählt, erzählt, erzählt. Ganz leicht. Ganz einfach. Und doch von Gewicht, was zu einer langsamen Lektüre führt. Dies ist kein Sachbuch für den Strand, es ist eines für den Balkon oder die Terrasse. Für den einen oder anderen Abend ohne Ablenkung und Stress. Ein Buch, das klüger machen kann.
    Und ein Buch, das aus dem lesenden Menschen einen besseren Menschen machen kann, der in Religionsfragen fortan nicht mehr in Schwarz-Weiß-Kategorien denkt, der Bibel- oder Koran-Texte nicht mehr wortwörtlich nimmt, sondern sich von der ihnen innewohnenden Energie bestrahlen lässt oder auch diese sogenannten heiligen Texte reflektiert ad acta legt.
    Dieses Buch lässt sich aber auch so lesen: Es ist eine erhellende, aufklärende Studie über die Aufklärung und ihren Beitrag, Licht zu bringen in unsere Mythenwelt. Eine Studie, wie der Buchstabenglauben zertrümmert wurde von mutigen Männern vor 300, vor 200, vor 100 Jahren - egal ob in Frankreich oder in den jungen Vereinigten Staaten von Amerika.
    Menschen, die mit Worten, mit Büchern viel, manchmal ihr Leben riskierten und jene Institutionen schwächten, die Fragen und Zweifel so erfolgreich unterdrückt hatten. Stephen Greenblatt beleuchtet besonders Pierre Bayle, Voltaire, Mark Twain - und: Darwin.
    "Für die Bibel ist die nie endende erschöpfende Arbeit, die Menschen verrichten müssen, um genügend zu essen zu finden, die Quittung für Ungehorsam und Übertretung; Darwin sieht darin notwendige Leistungen und Errungenschaften. Wenn die Schmerzen, die Menschenfrauen bei der Geburt erleiden, für die Autoren der Genesiserzählung zu jenem Fluch gehören, der Eva wegen ihrer Sünde traf, so erkennen Evolutionsbiologen darin einen erfolgreichen Ausgleich; genauer: den Preis, den wir dafür zahlen, dass die für einen aufrecht gehenden Zweibeiner maximale Größe des Beckens zusammengeht mit der minimalen Größe des Schädels eines Neugeborenen, die es unserer Art erlaubt, ein außergewöhnlich großes Gehirn zu haben."
    Urfragen der Menschheit
    Ein Denker, der sich als nicht-religiös versteht, denkt in einer Intensität über Religion nach, wie es nur selten geschieht - über all die Ur- und Grundfragen von Unschuld und Schuld, von Geburtsschmerz und Vergänglichkeit, von Paradies und Überforderung, die wir Hominiden seit Millionen Jahren erleben.
    Die Geschichten über Adam und Eva sind für Stephen Greenblatt Literatur. Aber weil sie so wirkmächtig sind, ist diese Literatur, die vor einigen tausend Jahren entstanden ist, politische Literatur - vermutlich so lange es Menschen gibt.
    Und auch wenn Stephen Greenblatt solche Schlüsse selbst nicht explizit formuliert - der Leser fragt sich zwischen den Zeilen: Müssen wir das, was über so riesige Zeitspannen entstanden ist und worüber in so vielen Kulturen und Religionen nachgedacht wurde - nennen wir es mal Schöpfung - in so kurzen Zeitspannen zerstören?
    Erst wenn das Zerstörungswerk an ein Ende gebracht würde und sich die Spezies in Wohlgefallen auflöste, erst dann hätte das Nachdenken über Adam und Eva ein Ende.
    Stephen Greenblatt: "Die Geschichte von Adam und Eva. Der mächtigste Mythos der Menschheit"
    Siedler Verlag, 448 Seiten, 28 Euro