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Stephen Parker: "Bertolt Brecht. Eine Biografie"
Der Wasser-Feuer-Mann

Brechts "chronische Herzinsuffizienz" war Ursache seiner bislang unterschätzten hohen Sensibilität. Ohne sie sei sein Werk nicht zu verstehen, meint der britische Germanist Stephen Parker. Er macht Brechts Überempfindlichkeit zum Leitbild einer Lebensdarstellung, die neue Maßstäbe setzt.

Von Michaela Schmitz | 15.07.2018
    Buchcover: Stephen Parker: "Bertolt Brecht. Eine Biografie"
    Buchcover: Stephen Parker: "Bertolt Brecht. Eine Biografie" (Cover: Suhrkamp Verlag, Hintergrundfoto: imago)
    "Wer immer es ist, den ihr sucht: Ich bin es nicht." Antwortet der Autor in seinem postum veröffentlichten Psalm auf die Frage "Was erwartet man noch von mir?" Und präsentiert sich in seiner Gebetsparodie schon mit zwei kurzen Versen als der geborene Dialektiker. Wer immer es ist, der da spricht. Er beherrscht die rhetorische Kunst der Rede und Gegenrede und ist ein Provokateur. Sein Name steht für einen Dichter der Widersprüche: Bertolt Brecht.
    Eugen Berthold Friedrich Brecht - der geborene Dialektiker
    Schon der kleine Berthold Eugen Brecht ist offenbar eine dialektische Naturbegabung. Situativ Dinge aufzugreifen und sie wortgewandt umzudrehen, um sich selbst damit in den Mittelpunkt zu rücken - dieses ästhetische Verfahren scheint einem früh erlernten Verhaltensmuster zu entsprechen. Für seine vorlaute Angriffslust war der empfindsame Eugen, wie er als Kind gerufen wird, schon als kleiner Junge berüchtigt. Diesen Eindruck jedenfalls hinterlässt das kurze Vorspiel, das Stephen Parker seiner über eintausend Seiten langen neuen Biografie Bertolt Brechts voranstellt. Eine Spielkameradin erinnert sich:
    "Eines Tages fing der kleine Anton Niederhofer an zu heulen, weil er sich in die Hosen gemacht hatte. Im Nu rief Eugen: 'Der Antonius von Padua / scheißt lustig über d’Wada rah'. Es war Unsinn, es war grausam und es war witzig. Der arme Anton, der mit seinen vollen Hosen um Hilfe rief, erinnerte Eugen an den Heiligen Antonius, und aus dem Gottesdienst wusste er, dass man den anrufen konnte, wenn man etwas verloren hatte. Und Anton hatte bestimmt etwas verloren. Doch einige der älteren Kinder, hauptsächlich Jungens wie Georg Eberle, fanden Eugen nicht besonders witzig: 'Seine Art war so, daß er immer den Ton angeben, immer jemanden kommandieren wollte.' Sie wollten einfach nur spielen und nicht Spielball eines Spinners sein. Sie spielten ihr eigenes Spiel: '[E]r wurde von uns öfters verprügelt.'"
    Brechts Leben - ein Drama in fünf Akten
    Im Spiel mit Kameraden und Zinnsoldaten wird Eugen Berthold seine Formulierungs-Taktik auch militärstrategisch ausbauen. Und aus den ihm eigenen Widersprüchen aus Sensibilität und Angriffslust seine ganz persönliche Überlebensstrategie entwickeln. Ein ausgefeiltes Verfahren, das der Dichter Bertolt Brecht - als Dichter schreibt Bertolt sich mit zwei "t" - später zur ureigensten künstlerischen Methode ausarbeiten wird, so Parker.
    Stephen Parkers Vorspiel bildet den amüsanten Auftakt seiner über eintausend Seiten starken, monumentalen Lebensbeschreibung Bertolt Brechts. Es ist kein Zufall, dass Parker mit dem fünfteiligen Aufbau seiner Biografie der Struktur des klassischen Dramas folgt. Jenem Theater, das der junge Brecht revolutionieren wollte. Parker markiert mit der traditionellen Form die Gegensätze, die Person und Werk Bert Brechts aus seiner Sicht kennzeichnen. Auch inhaltlich pendelt Parker zwischen Empathie und Distanz. Mit dem von Brecht adaptierten Verfahren will Parker seine Darstellung gegen einseitige Parteinahme immunisieren. Eine Methode, die den Leser selbst in die Lage versetzen soll, seine eigenen Schlüsse zu ziehen. Mit seiner Arbeit soll, so Stephen Parker...
    "(…) ein zugleich verletzliches wie auch ein sich gegen seine Verletzlichkeit abschirmendes künstlerisches Empfindungsvermögen erforscht werden. Dieses Verhältnis ist ähnlich paradox wie die Komplexität, die Idiosynkrasie und der reine Widerspruchsgeist, die Kritiker bei Brecht immer wieder festgestellt haben. Als junger Mann gebrauchte er den Begriff 'melancholerisch' und wollte damit ein Spiel der Extreme zwischen finsterem Grübeln und überschwänglichen Exzessen einfangen. Entsprechend zeichnete ihn sein Freund Caspar Neher als Hydratopyranthropos, als Wasser-Feuer-Mann, der die extremsten Gegensätze in sich verkörperte. In seinen Werken strebte Brecht nach gleichnishafter Klarheit, die er sodann in ironischer Inversion und mit sarkastischer Provokation zu untergraben suchte. Asketentum und Hedonismus existierten nebeneinander wie Draufgängertum und die obsessive Kontrolle von Gefühlen."

    Parker kritisiert die ideologische Brille, durch die Literaturkritiker Brecht bislang meist betrachtet hätten. Wie die marxistisch geprägte Biografie des DDR-Literaturwissenschaftlers Werner Mittenzwei 1986 oder die Enthüllungsbiografie des amerikanischen Literaturprofessors John Fuegi 1994. Mit vielen alten Vorurteilen räumt schon die 2012 erschienene Biografie des Karlsruher Brecht-Forschers Jan Knopf auf. Der Mitherausgeber der 1998 abgeschlossenen großen, kommentierten Brecht-Ausgabe kann in seiner Arbeit erstmals auf vor dem Mauerfall unzugängliche Archive zugreifen. Während der "Insider" Jan Knopf sich selber zur "Brecht-Mafia" zählt, nähert sich der Germanist aus Manchester Stephen Parker dagegen Brecht eher von außen. Im Rahmen seiner Forschungen zur Kultur und Geschichte der DDR in der Nachkriegszeit stößt er in Archiven und der Ostberliner Literaturzeitschrift "Sinn und Form" auf wichtige Quellen, die im Widerspruch zum Bild vom klassischen sozialistischen Autor stehen.
    Brecht schreibt gegen sein Herzleiden an
    Parker ist überzeugt: Die Erkenntnisse seiner fünf Jahre dauernden archäologischen Recherche in Archiven und Krankenhausakten werden das komplexe Bild von Bertolt Brecht noch einmal verändern. Er findet brisantes Material, das es laut Parker notwendig macht, nicht nur Brechts Einstellung zum Kommunismus, sondern auch seinen Gesundheitszustand sowie die Ursache seines Todes neu zu bewerten. Parker zieht dazu auch einen Arzt und einen Medizinhistoriker zurate. Aus heutiger Sicht stehe fest, …
    "(…) dass die wiederkehrenden bakteriellen Infektionen eine Karditis erzeugten, eine entzündliche Erkrankung des Herzens, die sich mit der Zeit zu einer chronischen Herzinsuffizienz ausweitete. In der Folge wurden die Herzklappen angegriffen und die Aortenklappe beschädigt. Eine damit zusammenhängende Komplikation war die Erweiterung des Herzens, das sich überdehnte, um seine Schwäche zu kompensieren. Die spätere Diagnose des kardiogenen Schocks meinte im Wesentlichen dasselbe Phänomen."
    Dass Brecht ein schwächliches Kind mit Herzproblemen war, ist bekannt. Carl Pietzcker nahm bereits 1988 in seinem Buch "Ich kommandiere mein Herz" eine Herzneurose an, gegen die Brecht geradezu aggressiv angeschrieben habe. Parker geht über Pietzckers psychoanalytischen Ansatz weit hinaus. Parkers Diagnose: Brecht litt "an chronischem Herzversagen", mithin an einem organischen Leiden. Und: Dieses Herzversagen sei auf eine Krankheit in Brechts Kindheit zurückzuführen, die man heute eindeutig als "rheumatisches Fieber" identifizieren könne. Ursache der ganz eigenen künstlerischen Sensibilität des Dichters, schlussfolgert Parker. Eine Überempfindlichkeit, die ohne Brechts Krankengeschichte nicht zu verstehen sei. Diese Diagnose dient Parker als Leitfaden für die Erhellung von Brechts Werk - auch für die Erfindung des "epischen Theaters".
    Erster Akt. "Lyrisches Erwachen"
    Exposition des fünfteiligen Dramas. Die mit der Geburt des Eugen Berthold Friedrich Brecht am 10. Februar 1898 in Augsburg als erster Sohn des kaufmännischen Angestellten und späteren Direktors der Haindlschen Papierfabrik Berthold Friedrich Brecht und seiner protestantischen Frau Sophie beginnt. Und mit dem im Jahr 1917 im Königlichen Realgymnasium abgelegten Notabitur und nachfolgendem Kriegshilfsdienst des ältesten Sohnes endet. Brecht wächst in einem gutbürgerlichen Elternhaus auf. Der schmächtige, anfällige Junge wird im Glauben der dauerkranken Mutter erzogen; erst im Barfüßerkindergarten, dann in der Volksschule der Gemeinde.
    "Es entsteht das Bild eines kränklichen, überempfindlichen Kindes, von den Gleichaltrigen isoliert und voll und ganz beschäftigt mit seinen Krankheiten und seiner Poesie, die ihm bald half, seinen konfusen Gefühlen auf eine sehr eigene Weise Ausdruck zu verleihen. Anfangs war das Schreiben ein Refugium, aber dem Heranwachsenden diente es als ein Medium, sich zu behaupten. Sein einzigartiges Talent bewies sich in Liedern und Gedichten von magnetischer Anziehungskraft. Vor dem Hintergrund des Krieges schufen Brecht und seine Freunde eine jugendliche Gegenkultur von außerordentlicher künstlerischer Vitalität, produzierten sie erstaunliche Synthesen von Instinkt und Genuss im Stil ihrer Idole Frank Wedekind und Nietzsches Zarathustra."
    Die Literatur ist das optimale Spielfeld für die Kraft- und Mutproben des Heranwachsenden. Brecht kann in seinen Liedern zur Gitarre als Held seiner selbst erfundenen Abenteuer vor Freunden wie Caspar Neher, Georg Pflanzelt oder Hanns Otto Münsterer auftrumpfen. Der Augsburger Jahrmarkt wird für den jungen Brecht zum Abenteuerspielplatz seiner ausgeprägten Fantasie. Jahrmarktschreier und Bänkelsänger auf dem heimischen "Plärrer" haben es ihm angetan. Besonders die Schiffschaukeln hätten ihn immer wieder magisch angezogen, betont Stephen Parker. Kein Zufall: Scheint die Schiffsschaukel doch das perfekte Trainingsgerät für angewandte Dialektik. Und für den angehenden Dialektiker Brecht ein doppelter Spaß: Beim lustvollen Schaukeln mit Mädchen kann er sich nicht nur theoretisch in der Beherrschung der dialektischen Schiffsschaukel, sondern gleichzeitig praktisch im Liebesspiel üben, schmunzelt Parker. Eine Disziplin, die der nicht eben attraktive Gymnasiast Bert Brecht schon früh beherrscht. Erfolg hat der Dichter bei den jungen Damen vor allem mit seinen Liedern und Balladen zur "Klampfe", so Parker. Einige nimmt Brecht später in seine "Hauspostille" mit auf.
    Zweiter Akt. "Der Bilderstürmer auf der Bühne"
    Dramatische Steigerung. In der Brecht sich im Wintersemester 1917/18 zum Medizinstudium in München einschreibt. Stattdessen aber hartnäckig den Plan verfolgt, der größte Dramatiker zu werden. Es wird der Beginn einer steilen Karriere, die Brecht nach Berlin zieht, wo sie mit dem monumentalen Erfolg der Uraufführung der "Dreigroschenoper" am Theater am Schiffbauerdamm am 31. August 1928 ihren ersten Höhepunkt erreicht. Für Brecht der Durchbruch als Theaterautor. Auch aufgrund der eingängigen Songs von Kurt Weill. Begonnen hat Brechts steile Karriere, mit seinem Theaterstück "Baal". Als Gegenstück zum expressionistischen Drama "Der Einsame" des von Brecht angefeindeten Rivalen Hanns Johst.
    "Sein Talent konnte mit allen Vorlagen arbeiten, solange sie ihn nur ansprachen, egal ob populär, modern oder uralt. Sein unersättlicher Verbrauch und seine Wiederverwertung allen nur irgendwie geeigneten Materials unterschieden ihn von der überreflektierten Avantgarde, die nur das Neuartige als wertvoll anerkannte. (…) Dieser Expressionismus ist furchtbar. (…) Man wird mich ausstoßen aus dem Himmel dieser Edlen und Idealen und Geistigen, aus diesen Strindhügeln und Wedebabies (…). Und ich stelle mich auf meine Füße und spucke aus und habe das Neue satt und fang mit dem Arbeiten an und dem ganz Alten, mit dem 1000mal Erprobten und mache, was ich will, auch wenn ich Schlechtes will. Und ich bin Materialist und ein Bazi und ein Proletarier und ein konservativer Anarchist."
    Brechts dialektisches Verhaltensmuster hat sich jetzt auch auf dem Theater als künstlerisches Verfahren bewährt. Grund genug für den Dichter, aus seinem Temperament eine Methode zu machen. Frei nach dem Motto "Plagiat als Lebenskunst". Für seine Balladen greift er so deutlich auf Rudyard Kipling zurück, dass die Kritiker bald von "Rudyard Brecht" schreiben, berichtet Parker. Und auch Brechts berühmte "Dreigroschenoper" beruhe auf einem satirischen Singspiel von 1728. John Gays Stück "The Beggar’s Opera" wurde von Elisabeth Hauptmann vorher für Brecht übersetzt, berichtet Parker. Sie wird mit Margarete Steffin und Ruth Berlau Teil von Brechts perfidem "Mitarbeiterinnen-und-Geliebten-System". Parker zeigt, wie Brecht sein dialektisches Liebesspiel von Nähe und Distanz in der Parallel-Beziehung zu Paula Banholzer und Marianne Zoff schon als Student in München perfektioniert. Auch später die langjährige Ehe mit Helene Weigel und ihre gemeinsamen Kinder Stefan und Barbara werden an Brechts lebenslangen Affären nichts ändern.
    Dritter Akt. "Ein marxistischer Ketzer"
    Höhepunkt des Dramas. In der aus Brechts verstärkter Auseinandersetzung mit dem Marxismus Ende der zwanziger Jahre seine Lehrstücke wie "Die Maßnahme" hervorgehen. Und Brecht 1933 vor dem Nationalsozialismus ins Exil nach Dänemark flieht. Wo seine "Svendborger Gedichte" entstehen. Stephen Parker schildert die Jahre des skandinavischen Exils als äußerst produktive Zeit für Brecht. Und als entscheidenden Wendepunkt seiner künstlerischen Entwicklung.
    "Die ersten Jahre des Exils in Dänemark, als die Moskauer Schauprozesse sein Engagement (…) konterkarierten, stellten einen harten Test (…) dar (…). 1938 behandelte Brecht seine diffizile Lage in verdeckter Form in Leben des Galilei (…), unverzichtbar für das Verständnis seiner Auseinandersetzung mit dem reaktionären Stalinismus in der Sowjetunion. Brecht sah sich gezwungen, einen unhaltbaren Leninismus gegen eine auf taoistischem Gedankengut basierende Überlebensstrategie einzutauschen. In dem großartig entworfenen Galilei, der Verkörperung von Vernunft und Appetit, entwirft Brecht die psychologische Desintegration des maßlos ehrgeizigen, unablässig innovativen Intellektuellen, dessen Wissensdurst keine Grenzen kennt und der in einem reaktionären Zeitalter nicht tragbar ist."
    Doch trotz aller Konflikte mit dem realen Kommunismus: Im dialektischen Marxismus hat Brecht ein gesellschaftspolitisches Erklärungsmodell für sich entdeckt, das wie der Schlüssel zum Schloss auf seine persönliche Weltsicht passt. Marx Theorie wird zum Türöffner für Brechts "episches Theater", das die Bühnenwelt mit einer neuen Technik revolutioniert: dem "Verfremdungseffekt". Brechts bewährter dialektischer Trick: Künstliche Distanz soll das Spiel als Spiel, und das dargestellte Verhalten damit als veränderbar zeigen. Das Ziel: Theater zum Instrument dialektischer Verhaltenstherapie und die Bühne zum Ort politischer Erziehung zu machen. Mit diesem "V-Effekt" gelingt es Brecht, sein dialektisches Verhaltensmuster auf den Zuschauer zu übertragen und seine persönliche Überlebensstrategie zur ureigensten Kunstform zu entwickeln. Einen Triumph für sein neues episches Theater feiert Brecht 1938 in Paris mit der Uraufführung von "Furcht und Elend des Dritten Reichs".
    Vierter Akt. "Kleinlaut, aber am Leben"
    Im schwedischen Exil schreibt Brecht 1938/39 sein wohl berühmtestes episches Bühnenstück: "Mutter Courage und ihre Kinder". Davon ist in Teil 4 die Rede. "Kleinlaut, aber am Leben" übertitelt Parker das retardierende Moment von Brechts Lebensdrama. Das seine Flucht über Schweden und Finnland 1941 in die USA beschreibt. Wo den vom FBI überwachten "enemy alien" außerordentlich magere Jahre für seine Kunst erwarten, so Stephen Parker. In den USA läuft das "dialektische System Brecht" in die Leere. Er bemüht sich in Hollywood immer wieder um Filmprojekte. Und versucht vergeblich, sein Publikum am Theater zu finden. Stephen Parker berichtet:
    "Im Frühjahr und Sommer 1944 arbeitete Brecht am Kaukasischen Kreidekreis. (…) Nur der Broadway-Vertrag bereitete ihm Unbehagen: 'Interessant, wie viel diese Schere "Auftrag" und "Kunst" zerstört. Ich dramatisiere mit Unlust in diesem leeren, wunschlosen Raum.' (…) Das Arbeiten mit einem kommerziellen Vertrag bestätigte seine Ansicht, dass die USA ein unfruchtbarer Boden für Innovationen auf dem Theater seien, es war, 'als schreibe man ein Stück für die Tungusensteppe'. Er bekam Besuch von seinem alten Anhänger Max Gorelik und dem amerikanischen Schriftsteller und Produzenten von Republic Pictures George Auerbach. (…) Zum Abschied sollen sie gesagt haben: 'Er wird nie einen Erfolg haben. Er kann keine Emotionen erzeugen, es kommt nicht einmal zur identification, daraus macht er dann eine Theorie, he is crazy and gets worse.' Brecht hatte nichts als Verachtung für sie übrig: 'Die Prostitution dieser "artists" ist komplett.'"
    Fünfter Akt. "Streitsüchtig und umstritten"
    Dramatisches Finale. In dem Brecht nach Kriegsende seine Rückkehr nach Europa vorbereitet. Und Ende 1947 am Broadway mit Charles Laughton als "Galilei" doch noch Erfolge feiert. Kurz bevor er nach der Anhörung vor dem "Untersuchungsausschuss für unamerikanische Aktivitäten" nach Paris flieht. Ab 1948 baut er in Ost-Berlin das "Berliner Ensemble" auf. Hier findet Brecht schnell sein Publikum wieder. Und genau das macht ihn für die Kulturfunktionäre im Ost-Teil der Stadt gefährlich. Denn Dialektik hört für die SED genau da auf, wo ihre Parteidoktrin beginnt.
    "Die erneuten Anstrengungen der orthodoxen Kommunisten, den Ketzer unter Druck zu setzen und zu bekehren, kulminierten in äußerst heftigen und ausufernden Wortgefechten um den Aufstand vom 17. Juni 1953, aus denen Brecht, so unwahrscheinlich es klingt, als Sieger hervorging, fast wie ein traditioneller Theaterheld. In seinen letzten Jahren war es Brecht vergönnt, sein Lebenswerk als das Theater der Zukunft verkündet zu sehen, der Anstoß zur Brecht’schen Transformation des Welttheaters war getan."
    Am 14. August 1956 stirbt der dialektische Lebenskünstler Brecht an einem Herzinfarkt. Stephen Parker entdeckt im Brechtarchiv Berlin ein Dokument der Berliner Charité vom Anfang der 50er-Jahre. Es bestätigt, dass Brechts Herz "links etwas vergrößert erschien". Frühzeitig behandelt, hätte Brecht noch einige Jahre länger leben können, resümiert Parker.
    Brecht, ein dialektischer Überlebenskünstler
    Stephen Parkers Brecht-Biografie erinnert an die Vermessung eines literarischen Gullivers mit tausend feinen Fäden. Parker bringt den Literaturriesen Brecht zum ersten Mal in vollem Umfang auf Augenhöhe mit dem Leser. Der Literaturwissenschaftler verfolgt dabei einen systemischen Ansatz. Trägt Tausende von Fakten aus Medizin, Psychologie, Geschichtswissenschaft, Politik und Soziologie zusammen. Um dann höchst überraschende Verbindungen zwischen scheinbar weit entlegenen Bereichen zu ziehen, die unsere Sicht auf den Autor grundlegend verändern. So stellt Parker Brechts Verfremdungseffekt in einen kausalen Zusammenhang mit seiner chronischen Herzkrankheit. Und erklärt die enge Beziehung des Autors zum dialektischen Materialismus aus Brechts Grundüberzeugung: Zwischen persönlichem organischen Leiden und dem jeweils herrschenden Regierungssystem bestehe ein Zusammenhang. So hätte sich seine Generation gegen die Kriegsgräuel schon früh mit Unempfindlichkeit impfen müssen, zitiert Parker einen Brief Brechts an seinen Sohn Stephan. Doch für die Kunst hatten sie den Preis der Verletzlichkeit zu zahlen. Dieses Dilemma, so Parker, sei der Schlüssel zu Brechts dialektischem Reaktionsmuster. Brechts universelles Denkmodell zur Analyse und Therapie von Missständen – sowohl auf körperlicher, geistiger wie politischer Ebene. Eine Dialektik, die, wie die Marx-Renaissance zeigt, heute wieder hoch aktuell ist.
    Stephen Parker: "Bertolt Brecht. Eine Biografie"
    Suhrkamp Verlag, Berlin. 1030 Seiten, 58 Euro.