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Sterbehilfe
"Da wurde juristisches Neuland betreten"

Das Bundesverwaltungsgericht erlaubt Schwerstkranken in extremen Ausnahmefällen den Zugang zu Medikamenten, mit denen sie sich selbst töten können. Ist damit das beschlossene Gesetz von 2015 zum assistierten Suizid schon wieder überholt? Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates, sagte im DLF: "Es wird auf jeden Fall eine neue gesellschaftliche Debatte geben."

Peter Dabrock im Gespräch mit Benedikt Schulz | 07.03.2017
    Eine ehrenamtliche Helferin hält die Hand einer sterbenden Bewohnerin, die in ihrem Bett im Christophorus Hospiz in München liegt
    Eine ehrenamtliche Helferin hält die Hand einer sterbenden Bewohnerin, die in ihrem Bett im Christophorus Hospiz in München liegt (picture-alliance / dpa/Tobias Hase)
    Benedikt Schulz: Im November 2015 hatte der Deutsche Bundestag nach intensiver Debatte eine Entscheidung getroffen, die den assistierten Suizid gesetzlich zu regeln versuchte. Eine Entscheidung, um die die Parlamentarier lange gerungen haben und die nichtsdestotrotz weiterhin strittig ist. Vor dem Bundesverfassungsgericht sind derzeit mehrere Beschwerden dagegen anhängig. Am vergangenen Donnerstag ist vor dem Bundesverwaltungericht Leipzig eine Entscheidung gefallen zum Thema aktive Sterbehilfe, deren Folgen noch nicht absehbar sind, die aber – so viel ist sicher – Folgen haben wird.
    Geklagt hat ein Mann, dessen Frau nach einem Unfall querschnittsgelähmt war und die ihrem Leben eine Ende setzen wollte. Die zuständige deutsche Behörde, das ist das Bundesinstitut für Arzeinimittel und Medizinprodukte, gestattete den Eheleuten den Erwerb einer tödlichen Dosis eines Betäubungsmittels nicht, weswegen sich die Frau mit Unterstützung eines Vereins in der Schweiz das Leben nahm. Geklagt hatte der Mann gegen diese Entscheidung der Behörde durch mehrere Instanzen. In Leipzig hat er nun Recht bekommen. Für viele kam das überraschend. Die Begründung des Urteils liegt im Detail noch nicht vor, aber in einer Erklärung des Gerichts heißt es, dass in extremen Einzelfällen der Staat den Zugang zu den Betäubungsmitteln nicht verwehren darf. Das Gericht spricht von "unerträglichen Leidenssituationen". Über dieses Urteil spreche ich jetzt mit Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates. Herr Dabrock, hat das Gericht in Leipzig aus Ihrer Sicht korrekt entschieden?
    Peter Dabrock: Wir warten ja noch auf die genaue Urteilsbegründung.
    Herr Schulz, lassen Sie mich ganz kurz noch vorweg sagen zu Ihrer Anmoderation: Wir sind in einer Debatte um die Zulässigkeit der Suizidassistenz und sind nicht im Themenbereich aktive Sterbehilfe. Wir haben in Deutschland keine Debatte über aktive Sterbehilfe, das will, glaube ich, niemand. Aber es geht darum, ob hier der Staat ermöglichen muss, dass ein Patient einen Zugang zu einem todbringenden Betäubungsmittel erhält. Das ist das Entscheidende. Wenn ich dann auf die Frage eingehe, ob das Gericht richtig entschieden hat oder nicht, dann wird jeder erst einmal sagen müssen, - Sie haben den Fall, den Peter Hintze berichtet hat vorhin noch einmal aufgegriffen -: Wer da nicht bewegt ist, wer da nicht sagt: "Mensch, das ist fürchterliches Leid", der macht sich was vor. Das müssen wir erst einmal berücksichtigen, dass wir nicht von einer hohen moralischen Warte über Einzelschicksale reden. Und doch müssen wir andererseits auch schauen, wie die Gesellschaft Regelungen finden, so dass auch Menschen – sogenannte "verletzbare Menschen und Gruppen" – weiter geschützt werden. Da hat das Leipziger Urteil, jedenfalls gegenüber dem von Ihnen genannten Beschluss vom November 2015, Neuland betreten.
    Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates
    Peter Dabrock, Vorsitzender des Deutschen Ethikrates (picture alliance/ dpa/ Rainer Jensen)
    Schulz: Inwiefern Neuland?
    Dabrock: Es hat Neuland betreten, weil es anders als dieses Gesetz, das die geschäftsmäßige Sterbehilfe verbietet und damit sagt, es sollen keine Einzelpersonen oder Organisationen die Möglichkeit bieten, dass der Suizid zu einer Normalioption des Lebens wird, hat hier zwar nicht (in einem anderen Sinne) das Gericht geschäftsmäßige Suizidhilfe untersagt, aber es verpflichtet eine Behörde, genau zu prüfen, ob in Einzelsituationen nicht ein Recht auf einen Zugang zu einem Medikament – entgegen dem Betäubungsmittelgesetz doch gewährt werden muss. Das ist etwas, was wir bisher in Deutschland nicht hatten.
    "Ich weiß nicht, wie eine Behörde das in jedem Einzelfall prüfen will"
    Schulz: Gilt nun, dass ein Rechtsanspruch auf Sterbehilfe besteht?
    Dabrock: Das ist schwierig, wir müssen die Urteilsbegründung noch abwarten. Bisher heißt es, dass der Staat den Zugang zu einem Betäubungsmittel nicht verwehren darf. Ob das jetzt ein Abwehrrecht ist, also dass derjenige nur einen Erlaubnisbrief bekommt und er damit zur Apotheke gehen kann und dann kriegt er das Betäubungsmittel, oder ob damit auch ein Leistungsrecht verbunden ist, dass er das auf Krankenkassenkosten bekommt, das wird die Zukunft bringen, darüber nachzudenken. Aber Tatsache ist, dass der Gesetzgeber mit dieser neuen Situation umgehen muss, dass er auf der einen Seite im privatrechtlichen Bereich die strikte Zurückweisung einer geschäftsmäßigen Suizidassistenz hat, dass er gleichzeitig aber erlaubt, dass Menschen sich töten dürfen und dass auch die Beihilfe zum Suizid nicht verboten ist. Das ist im privatrechtlichen Bereich. Und dass jetzt im staatlichen Bereich eine Behörde jedes Mal prüfen muss, ob ein solcher extremer Ausnahmefall vorliegt. Ich weiß nicht, wie eine Behörde das jedesmal prüfen will im Einzelfall.
    Schulz: Das würde ich jetzt mal fragen. Es ist das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte, das nun – für die Beschäftigen dort vielleicht auch überraschend – diese Verantwortung zugeschoben bekommen hat. Ganz naiv gefragt: Können die so etwas entscheiden?
    Dabrock: Die Frage stellt sich zunächst einfach von den Kapazitäten. Was für mich als Ethiker noch wichtiger ist: ob die das von der Sache her können. Was heißt eigentlich extremer Ausnahmefall? Zum einen wird gesagt: Klar, es soll frei verantwortlich sein. Da kann man sich vorstellen, dass das ein Psychologe oder ein Arzt attestiert. Aber was heißt von der Sache her "extremer Ausnahmefall"? Gibt es dafür objektive Kritikerien? Ich glaube, das kann niemand sagen, dass es objektive Kriterien gibt. Also wird das Ganze doch abhängig sein von der jeweiligen subjektiven Einschätzung. Da kann für den einen eine extreme Ausnahmesituation sein, was es für den anderen noch längst nicht ist. Man wird also von daher auf die subjektive Wahrnehmung zurückgeworfen werden. Dann hat man vom Rechtstaat keine Möglichkeit, diesen jeweiligen Anspruch zu regulieren. Ich fürchte ein bisschen, das das Ganze ähnlich wie bei der Pränataldiagnostik von statten geht. Da haben wir am Anfang gesagt, das seien extreme Ausnahmesituationen und im Grunde ist es heute eine Regelversorgung geworden. Das sollte man im Bereich Sterben und Tod so nicht einfach angehen. Da brauchen wir auf jeden Fall noch eine gesellschaftliche Debatte und da brauchen wir auf jeden Falle eine gesetzliche Regelung, die nicht einfach durch eine Behördenentscheidung getroffen werden kann.
    "Für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft steht viel auf dem Spiel"
    Schulz: Sehen Sie durch das neue Urteil den Gesetzgeber in der Pflicht, seinen eigenen Konsens von 2015 zu überarbeiten? Wird sich der Entschluss vom November 2015 überhaupt noch halten lassen?
    Dabrock: Es wird auf jeden Falle eine gesellschaftliche Debatte geben, die hat ja schon begonnen. Man sieht, dass diejenigen, die damals andere Positionen vertreten haben jetzt mit den Hufen scharren und sagen: "Seht ihr, dieses Urteil zeigt, dass wir viel stärker die Selbstbestimmung des Einzelnen beachten müssen." Das sind die Vorwürfe gegenüber dem Gesetz, die nun auch in die Verfassungsklagen eingehen. Das Problem ist, dass die Gesetzgebung von 2015 sich alleine auf den privatrechtlichen Bereich bezog. Das, was das Urteil des Bundesverwaltungsgerichtes nun in den Blick genommen hat, sind Fragestellungen des Verhältnisses des Staates zu einzelnen Bürgern. Da zeigt sich jetzt an diesem Urteil, da greift die Gesetzgebung von 2015 so nicht direkt. Obwohl, wie ich versucht habe darzulegen, der Geist des Gesetzes von 2015 in Frage gestellt wird. Deshalb wird sich der Gesetzgeber überlegen müssen, ob er an der Stelle die Einheitlichkeit der Rechtsordnung wahren will und deswegen noch ein ergänzendes Gesetz braucht.
    Schulz: Aber man muss doch zumindest sein Verhältnis als Staat zum assistierten Suizid klären. Offensichtlich ist nun eine staatliche Behörde in der Pflicht, dazu Entscheidungen zu treffen.
    Dabrock: In der Tat. Und ich glaube, dass es unserer Zivilgesellschaft, unserer Demokratie und unserem Rechtsstaat nicht gut ansteht, wenn wir eine so wichtige Entscheidung, die jeden Einzelnen betreffen kann, sei es für einen alleine, sei es für Angehörige, nicht abhängig machen darf von einem Gerichtsurteil und einer Behördenentscheidung. Dafür steht für das Selbstverständnis unserer Gesellschaft zu viel auf dem Spiel. Und ich glaube, wir sind aufgerufen. Ich glaube, wir sind aufgerufen von den ganz unterschiedlichen Positionen, die es dazu gibt, noch einmal zu überdenken, wie wir mit Sterben und Tod verantwortlich umgehen, so dass wir einerseits Leiden mindern, Selbstbestimmung wahren, aber eben auch die Selbstbestimmung und die Autonomie von verletzbaren Menschen im Blick behalten.
    Schulz: Jetzt auf der Ebene der Gesetzgebung, man kann es ja drehen und wenden, wie man will: Offensichtlich lässt ja jedes Gesetz oder jedes Urteil eine weitere Lücke oder auch eine grundsätzliche Lücke offen. Diese Dilemma-Situation assistierter Suizid lässt sich das überhaupt gesetzlich lösen? Geht das überhaupt?
    Dabrock: Ich glaube, da sprechen sie einen wichtigen Punkt an, Dietrich Bonhoeffer, der evangelische Theologe hat einmal den wirklich wichtigen Satz geprägt: "Verantwortung ist die Bereitschaft, Schuld zu übernehmen". Ich glaube, in solchen Dilemma-Situationen merken wir, dass wir mit einem puren und rechtlichen Regelungsregime an unsere Grenzen kommen. Das heißt, jeder muss auch vor seinem Gewissen verantworten, was er tut und trotzdem sollte jeder auch eine Sensibilität dafür haben, dass der Staat dennoch eine Rahmenordnung schaffen muss, um den einzelnen in seiner Würde zu schützen, aber auch gleichzeitig dabei den Blick auf die Schwächsten der Gesellschaft richten muss. Diese schwierige Balance muss der Staat finden und - das hat schon die letzte Sterbehilfedebatte gezeigt - jeder hat Verständnis dafür. Wenn Sie in die Rechtsprechung der letzten Jahrzehnte zurückschauen: Es gibt Einzelfälle, die man rechtlich nur ganz schwer handhaben kann, und es sind beispielsweise in den letzten Jahrzehnten keine Ärzte verurteilt worden, die dann im Einzelfall sich entschieden haben, einen ihm wohl bekannten Patienten auch in den Tod, in dessen Suizid mit zu begleiten.
    "Suizid ist immer ein schreckliches Geschehen"
    Schulz: Sie sprechen jetzt diesen Konflikt an zwischen Normen, die gesamtgesellschaftlich gelten oder Geltung beanspruchen, und dem individuellen Schicksal. Wie viel Überzeugungskraft hat denn so eine moralische Argumentation, die aus Normen hervorgeht, für das betroffene Individuum? Offensichtlich nicht so viel: Wenn man Leute nämlich fragt: "Was halten Sie von assistiertem Suizid?", werden viele vermutlich antworten: "Für mich selbst ziehe ich das in Erwägung und finde das gut und möchte, dass das liberalisiert wird."
    Dabrock: Ja, das sind ja durchaus auch Normen, das wären eben hier die Normen, die sagt, für mich ist die Selbstbestimmung das wichtigste. Die Selbstbestimmung, die sich dann häufig in so Sätze bringen lässt 'Mein Sterben bestimme ich selber' oder 'Mein Sterben gehört mir'. Wobei man da sagen muss: Natürlich sind beim Sterben immer auch die Angehörigen mitbetroffen und man sollte, gerade wenn man so verantwortlich selbstbestimmt handeln will, im Blick haben, dass man die Welt so zurücklässt, dass diejenigen, die trauern über einen Verstorbenen dennoch das Gefühl haben, dass es - angesichts dessen, dass der Tod immer ein Bruch ist - doch ein guter Tod war. Das ist das eine. Also es gibt Normen in der Sache. Andrerseits, das scheint mir ganz wichtig zu sein: Wir müssen offensichtlich noch stärker deutlich machen, dass wir Institutionen brauchen und noch weiter ausbauen müssen, die den Gedanken an einen Suizid möglichst weit zurückdrängen. Denn Suizid ist, glaube ich, nie eine feine Sache, sondern Suizid ist immer ein schreckliches Geschehen und deswegen Institutionen zu schaffen, das hat der Deutsche Ethikrat auch in seiner Stellungnahme zur letzten Gesetzgebung angemahnt, die Suizidprävention stärken, die Palliativmedizin wirklich noch intensiver ausbauen, das sind die Maßnahmen, an denen es sich zeigt, ob der Wunsch, der jetzt vielleicht wieder angesichts des Leipziger Urteils hochkommt, dass der Wunsch nach einer Selbsttötung weiter um sich greift oder ob Menschen zunehmend erkennen, dass genau in Hospiz- und Palliativversorgung doch auch Möglichkeiten stecken, das Leben, das man verlassen muss, auf eine gute Art und Weise zu verlassen.
    Schulz: Ein Urteil des Bundesverwaltungsgerichts zum Thema Sterbehilfe und die Folgen, darüber habe ich gesprochen mit Peter Dabrock, dem Vorsitzenden des Deutschen Ethikrates, Herr Dabrock, herzlichen Dank.
    Dabrock: Vielen Dank, Herr Schulz.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.