Dienstag, 23. April 2024

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Sterbehilfe-Debatte im Bundestag
"Ausdruck einer entsolidarisierten Gesellschaft"

Heute wurde im Bundestag das Thema Sterbehilfe diskutiert. Der Medizinethiker Giovanni Maio sagte im DLF, wir müssten eine Gesellschaft schaffen, in der niemand auf die Idee komme, sich lieber zu verabschieden, als weiter unter uns zu leben. Insofern sei diese Vehemenz, mit der die Beihilfe zum Suizid gefordert werde, Ausdruck sozialer Defizite.

Medizinethiker Giovanni Maio im Gespräch mit Dina Netz | 13.11.2014
    Im Vordergrund eine Rose, im Hintergrund ein Krankenbett mit einer alten Frau und einer jüngeren am Bett.
    Eine sinnvolle Diskussionsgrundlage sieht anders aus, ein tragfähiger Gesetzentwurf erst recht. (Picture-alliance / dpa / Sebastian Kahnert)
    Dina Netz: Für viele gibt es ja wenig Langweiligeres als Parlamentsdebatten. Sie gleichen oft Theaterstücken, in denen jeder brav seine Rolle spielt. Der Regierungspolitiker verteidigt das geplante Gesetz, die Oppositionspolitikerin kritisiert es. Heute ist diese starre Routine einmal durchbrochen worden. Fünf Stunden lang wurde im Bundestag über Sterbehilfe diskutiert, und zwar nicht nur über das Für und Wider des Verbots von Sterbehilfevereinen - darum soll es nämlich in dem Gesetz gehen, das in ungefähr einem Jahr beschlossen werden soll. Heute war erst mal der Moment, emotional und persönlich über das eigentliche Thema zu diskutieren, nämlich darüber, was das eigentlich ist, ein würdiges Leben und Sterben. Ich habe Giovanni Maio, Professor für Medizinethik in Freiburg, gefragt: Wie ist Ihr Eindruck nach dieser Bundestagsdebatte? Sind die wichtigsten ethisch-moralischen Fragen diskutiert worden und sind sie Bestandteil der vorliegenden Positionspapiere?
    Eine neue Kultur des Sterbens ermöglichen
    Giovanni Maio: Nun, wie politische Debatten es an sich haben, ist es ja so, dass Polarisierungen vorgenommen werden. Auch in dieser Debatte: die Polarisierung zwischen einerseits leben um jeden Preis und auf der anderen Seite Freigabe der Beihilfe zum Suizid. Ich finde, gerade das Sterben ist etwas, wo wir in diesen Polaritäten nicht denken dürfen und wir eher fragen müssen, wie können wir in der Gesellschaft eine neue Kultur des Sterbens ermöglichen, die den Menschen eben nicht Angst macht vor dem Sterben. Darum muss es gehen.
    Netz: Auffällig ist ja nun der breite Konsens im Parlament, dass alle organisierten Angebote der Sterbehilfe untersagt werden sollen. Trifft sich das mit der gesellschaftspolitischen Diskussion, oder verläuft die parlamentarische Debatte da anders?
    Maio: Nun, dass man eigentlich die Vereine verhindern möchte, das ist ja mehr oder weniger Konsens. Aber man spricht sehr wenig darüber, warum die Menschen eigentlich glauben, dass der Suizid eine mögliche Lösung des momentanen Problems sein kann. Man müsste sich viel mehr für die Gründe, für die Suizidgründe interessieren und weniger fragen, wie können wir den Suizid ermöglichen, erleichtern, strukturell begünstigen, sondern viel mehr fragen, was treibt diese Gesellschaft um, dass so viele Menschen an Suizid denken. Und das hat etwas mit den gesamtgesellschaftlichen Strömen zu tun. Es hat etwas mit der Pflege zu tun, das hat etwas mit der Situation der schwerkranken Menschen in den Pflegeeinrichtungen und in den Krankenhäusern zu tun und dort muss man ansetzen, damit wir nicht glauben, wenn wir später schwer krank sind, dass wir da unseren Wert verloren haben und anderen nur noch zur Last fallen, weil die Strukturen nicht da sind.
    Suizidwünsche haben mit sozialen Verhältnissen zu tun
    Netz: Was wäre denn das, Herr Maio, für eine Debatte, die Sie vermissen? Eine über die Qualität von Pflege?
    Maio: Na ja, wir müssen anerkennen, dass die Suizidwünsche etwas mit den sozialen Verhältnissen zu tun haben. Die Suizidwünsche sind ja nicht einfach nur private Wünsche von Einzelpersonen, sondern sie resultieren aus gesellschaftlichen Verhältnissen und sie resultieren daraus, dass heute viele Menschen glauben, bevor sie am Ende ihres Lebens vollkommen entwertet sind, sie lieber vorher sich verabschieden. Und wenn wir dann sagen, na ja, jeder, der sich verabschieden möchte, soll das auch ermöglicht bekommen, dann ist das eine Resignation, weil wir müssen hier eine Gesellschaft schaffen, in der kein Mensch auf die Idee kommt, dass er lieber sich verabschiedet, als weiter unter uns zu leben. Insofern ist im Grunde diese Vehemenz, mit der die Beihilfe zum Suizid gefordert wird, Ausdruck sozialer Defizite, die wir nicht verklären und verkennen dürfen, meine ich.
    Netz: Nun scheint mir aber die Forderung nach einer Gesellschaft ohne den Wunsch nach Suizid auch in gewisser Weise eine Illusion zu sein. Das hat es schließlich immer gegeben.
    Diskussion nicht ganz an Differenziertheit gewonnen
    Maio: Ja natürlich! Aber wenn wir schauen, wie heute der Suizid und der Wunsch danach begründet wird, und viele Menschen, denken sie an den Fußballer Konietzka, denken Sie an andere, die dann sagen, ich möchte den Suizid wählen, weil ich anderen nicht zur Last fallen will als ein wesentlicher Grund, dann ist das natürlich Ausdruck einer entsolidarisierten Gesellschaft. Je mehr wir den assistierten Suizid jetzt liberalisieren in dem Sinne, dass wir ihn strukturell ermöglichen, desto mehr sorgen wir dafür, dass die Menschen noch mehr denken, na ja, heutzutage ist es eigentlich vernünftig, dass man sich vorher verabschiedet, bevor man den anderen zur Last wird.
    Netz: Was ist denn insgesamt Ihr Eindruck? War die Diskussion auf der Höhe ihres Themas?
    Maio: Na ja, ich fand schon, dass die Diskussion nicht ganz an Differenziertheit letztlich gewonnen hat. Wenn wir sagen, es gehört zur Autonomie dazu, dass wir helfen, dass jemand sich töten kann, dann ist das, meine ich, zu weitgehend, weil Autonomie bedeutet letzten Endes auch, einen Umgang zu finden mit den Angewiesenheitsverhältnissen, damit zu finden, dass man später im Alter auf Hilfe angewiesen sein wird. Und wenn wir diese Hilfe von Dritten komplett ablehnen und nur so lange uns als würdig wahrnehmen, wie wir ohne Hilfe Dritter leben können, dann ist das eine sehr einfache Form von Autonomie, die man so nicht unterstützen kann.
    Netz: ..., sagt Giovanni Maio, Medizinethiker in Freiburg, zur Diskussion über Sterbehilfe.
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.