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Sterbehilfe in Belgien
Noch kein aktives Verlangen eines Minderjährigen nach dem Tod

Seit zwei Jahren gibt es in Belgien das liberalste Sterbehilfegesetz der Welt. Es gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Minderjährige, das allerdings nur unter bestimmten Bedingungen. An dem Gesetz entzündet sich weiterhin Kritik - Kritiker sehen eine Art Patientenentsorgung und Belgien vor einer gesellschaftlichen Krise.

Von Karin Bensch | 11.04.2016
    Zwei Hände halten sich umschlossen auf einem Laken. Die Linke Hand trägt einen Ehering.
    Gegner der Sterbehilfe in Belgien fordern stattdessen bessere Ärzte und mehr Geld für die Palliativmedizin. (imago stock & people)
    Sie werden uns doch helfen, wenn gar nichts mehr geht? Diese flehende Frage von Eltern unheilbar kranker Kinder hat Doktor Joris Verlooy schon öfter gehört.
    "Yes, I had these requests",
    sagt der Arzt mit Bart und Brille ganz ruhig. Doktor Verlooy arbeitet auf der Kinderkrebsstation im Universitätskrankenhaus Antwerpen. Aber auch junge Patienten hätten ihn bereits um Sterbehilfe gebeten. Er erinnere sich an eine 13-Jährige, sagt der Arzt. Es sei klar gewesen, dass sie nicht mehr gesund wird. Sie hatte einen Hirntumor.
    Bei vielen Krebspatienten sei der Schmerz das größte Problem. Die einzige Möglichkeit, ihnen die starken Schmerzen zu nehmen, sei eine Sedierung, sagt Doktor Verlooy. Das bedeutet: Die Patienten bekommen Schmerzmittel und Medikamente, die sie in eine Art Dämmerzustand versetzen. Diese Methode wird in der Palliativmedizin angewendet. Doch manche der jungen Patienten möchten nicht den ganzen Tag lang weggetreten sein. Sie wollen entweder voll wach und schmerzfrei sein oder nicht mehr leben, sagt Doktor Verlooy.
    Der Wunsch nach einem Mitspracherecht
    Die meisten unheilbar kranken Patienten seien seit vielen Jahren in Behandlung. Sie hätten bereits einen langen Leidensweg hinter sich und wüssten, dass sie sterben werden. Deshalb möchten sie ein Mitspracherecht haben, sagt der Kinderarzt.
    Seit zwei Jahren gibt es in Belgien das liberalste Sterbehilfegesetz der Welt. Es gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch für Minderjährige. Allerdings nur dann, wenn die Patienten unheilbar krank sind, unerträgliche Schmerzen haben, und alt genug sind, um die Tragweite ihrer Entscheidung einschätzen zu können. Eine Expertenkommission aus Ärzten und Psychologen und die Eltern müssen zustimmen. Bislang hat es in Belgien offiziell noch keinen Fall gegeben, in dem ein Kinder oder Jugendlicher die Tötung verlangt hat.
    Mehr finanzielle Mittel für Palliativmedizin und für gute Ärzte gefordert
    Wir brauchen keine aktive Sterbehilfe, weder für Erwachsene noch für Minderjährige, sagen die Gegner des Gesetzes. Dazu gehören Konservative, Kirchenvertreter, Ärzte und Ethiker. Was wir brauchen sind mehr finanzielle Mittel für eine gute Palliativmedizin und für gute Ärzte, fordert Carine Brochier vom Europäischen Institut für Bioethik in Brüssel.
    In Belgien, einem Land mit elf Millionen Einwohnern, gebe es in Krankenhäusern gerade einmal knapp 400 Betten für unheilbarkranke Patienten. Dass es so wenige seien, liege daran, dass Palliativmedizin sehr teuer sei. Sterbehilfe sei günstiger und einfacher, kritisiert Carine Brochier. Ein Nadelstich reiche.
    Wenn die Kranken und Schwachen nicht mehr bis zu ihrem Tod versorgt, sondern vorher entsorgt werden, stürze das die Gesellschaft in eine Krise. Schon jetzt ist Sterbehilfe dabei, die gesamte Gesellschaft gedanklich zu töten, meint Carine Brochier.
    Das Gesetz ist wichtig, weil es Ärzten und Familien Rechtssicherheit gibt, sagt die sozialdemokratische Politikerin Carine Lalieux, die dafür gestimmt hatte. Es gehe nicht darum, jemandem die aktive Sterbehilfe aufzudrängen. Vielmehr solle unheilbar kranken Kindern ermöglicht werden, ihre Qualen abzukürzen, sagt Lalieux.
    Eine wirklich schwierige Entscheidung
    Sterben, wenn der Tod kommt. Oder selbst entscheiden, wann es soweit ist. Eine wirklich schwierige Entscheidung. Für die unheilbar kranken Kinder und Jugendlichen. Aber auch für ihre Eltern und Geschwister, für alle Angehörigen. Die Diskussion über den Sinn oder Unsinn der Sterbehilfe für Minderjährige - sie wird in Belgien weiter gehen. Die einen, wie die Politikerin Carine Lalieux, sehen in dem Gesetz eine Möglichkeit.
    Für die anderen ist die Tötung auf Verlangen eine Gefahr für die Gesellschaft. Gegner, wie Carine Brochier vom Ethik-Institut fürchten, dass in Zukunft nicht nur Erwachsene, sondern auch unheilbar kranke Kinder und Jugendliche davon Gebrauch machen, weil die Gesellschaft die Sterbehilfe mehrheitlich akzeptiert – als einen "guten Tod".
    La bonne mort: Sterbehilfe – ein wirklich guter Tod?