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Sterbehilfe in Frankreich
Darf Vincent Lambert sterben?

Ganz Frankreich kennt Vincent Lambert: Seit Monaten sorgt das traurige Schicksal des Koma-Patienten für Schlagzeilen. Jetzt muss ein Gericht über Leben oder Tod des 38-Jährigen entscheiden. Seit Abschaffung der Todesstrafe ist es das erste Urteil dieser Art, schreibt die Zeitung "Le Monde".

Von Bettina Kaps | 25.02.2014
    Im Krankenhaus hält eine Krankenschwester in der einen Hand eine Spritze, die andere Hand ist an einem Tropf.
    Sterbehilfe kann zum Beispiel durch die Verabreichung von Medikamenten geleistet werden. (picture alliance / dpa / Foto: Sami Belloumi)
    Der junge Mann war vor fünf Jahren mit dem Motorrad verunglückt und liegt seitdem im Koma. Vincent Lambert bewegt zwar die Augen, ist schmerzempfindlich. Aber mit ihm zu kommunizieren, ist trotz zahlreicher Therapieversuche nicht möglich.
    Der Patient wird auf der Palliativabteilung der Universitätsklinik in Reims gepflegt. Im Januar folgte das Ärzteteam dem Wunsch seiner Frau und sieben weiterer Familienmitglieder: Es stellte die künstliche Ernährung ein. Die Ehefrau betont, dass sich ihr Mann – ein ehemaliger Krankenpfleger – vor seinem Unfall gegen lebensverlängernde Maßnahmen um jeden Preis ausgesprochen hatte, aber einen schriftlichen Beweis dafür gibt es nicht.
    Die Eltern des Verunglückten sind überzeugte Katholiken aus traditionalistischen Kreisen. Sie reichten Klage ein. Die Justiz gab ihnen in erster Instanz recht: Die Klinik musste die Ernährung wieder aufnehmen. Der Rechtsanwalt der Eltern begrüßte die Entscheidung:
    "Vincent Lambert ist kein Gemüse. Er hängt an keiner Maschine. Vincent Lambert ist querschnittsgelähmt. Das Einzige, was er braucht, ist künstliche Ernährung über eine Magensonde."
    Eine der Schwestern vertritt die entgegengesetzte Meinung:
    "Was ist grausamer: Vincent sterben zu lassen oder ihn in einem Zustand zu halten, in dem er weder tot noch lebendig ist? Sein Anblick ist verwirrend: Er ist schön und jung und muss noch nicht einmal beatmet werden. Aber dieses Erscheinungsbild täuscht, denn er ist nicht mehr wirklich unter uns."
    Neues medizinisches Gutachten gefordert
    Die Ehefrau und die Mediziner gingen in Berufung. Jetzt liegt der Fall beim französischen Staatsrat. Das höchste Verwaltungsgericht des Landes hat zunächst ein neues medizinisches Gutachten angefordert, auf dessen Grundlage es innerhalb von zwei Monaten entscheiden will. Der Sprecher der französischen Bischofskonferenz Bernard Podvin begrüßt dieses Vorgehen.
    "Der Staatsrat handelt sehr weise, indem er sagt: wir müssen genau und kollegial nachdenken, über die Beendigung eines Lebens können wir nicht leichtfertig entscheiden. Die französische Bischofskonferenz hat erst im Januar zum Thema Sterbehilfe Stellung bezogen. Den Fall Vincent Lambert kommentieren wir allerdings nicht. Wir hoffen, dass der Patient so gut und so menschlich wie möglich begleitet wird. Das ist unsere Lösung. Aber wir mischen uns nicht ein und wollen diesen Fall nicht instrumentalisieren."
    Passive Sterbehilfe in Frankreich erlaubt
    Seit 2005 gilt in Frankreich ein Gesetz, das passive Sterbehilfe erlaubt, aktive Sterbehilfe bleibt aber eine Straftat. Das Gesetz verbietet es, unheilbar kranke Menschen mit Therapien um jeden Preis zu traktieren. Eine Expertenkommission stellte jedoch fest, dass viele Ärzte die Wünsche ihrer todkranken oder sterbenden Patienten immer noch ignorieren und sie stattdessen mit allen Mitteln am Leben erhalten wollen.
    Heute wünschen immer mehr Franzosen, dass man ihnen beim Sterben hilft, falls das Altern oder das Siechtum vor dem Tod unerträglich wird. Erst im November hatte sich ein 86-jähriges Ehepaar in Paris auf spektakuläre Weise das Leben genommen: Mann und Frau wurden in einem Pariser Luxushotel aufgefunden, mit Plastiktüten über den Köpfen. In ihrem Abschiedsbrief forderten sie das Recht auf Beihilfe zur Selbsttötung. Mitte Januar hat Staatspräsident François Hollande eine Gesetzesinitiative zur Legalisierung aktiver Sterbehilfe angekündigt.
    Kein Geistlicher im Ethikkomitee
    Die Bischofskonferenz reagierte empört. Das moralische Gebot "Du sollst nicht töten" gelte auch dann, wenn ein Schwerstkranker um Sterbehilfe bitte, heißt es in ihrer Erklärung. Wer seinen Lebenswillen verloren habe, brauche Solidarität, nicht Hilfe zum Sterben. Bernard Podvin:
    "Es wäre sehr schlimm, wenn Beihilfe zum Suizid legalisiert würde. Es darf auch nicht dazu kommen, dass ein Lager glaubt, mit einem solchen Gesetz trage es einen politischen Sieg davon. Ein derart schwerwiegendes Thema muss von der ganzen Gesellschaft getragen werden. Unserem Parlament ist es 2005 gelungen, das Gesetz zur passiven Sterbehilfe einstimmig zu verabschieden. Das lässt sich nicht im Handumdrehen erzielen. Diese Einheit herzustellen, das ist eine große politische Verantwortung, die weit über die fünfjährige Amtszeit eines Präsidenten hinausgeht."
    Es ist allerdings fraglich, inwieweit Staatspräsident Hollande die Ansicht der katholischen Kirche berücksichtigen wird. Im nationalen Ethikkomitee zum Beispiel ist kein einziger Geistlicher mehr vertreten: Bei der jüngsten Neubesetzung ließ das Präsidialamt einen Pastor und einen Rabbiner durch Laien ersetzen.
    Der Fall Vincent Lambert macht den Franzosen auch deutlich, wie wichtig es sein kann, den persönlichen Willen schriftlich festzuhalten. Das Gesetz zur Sterbehilfe enthält präzise Regelungen für die Ärzte: Sie dürfen die Behandlung unheilbar Kranker in solchen Fällen einstellen. Aber das Gesetz ist auch neun Jahre nach seiner Verabschiedung in Frankreich noch weitgehend unbekannt.