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Sterbehilfe
"Selbstbestimmung ist Kern der Menschenwürde"

Der Bundestag debattiert heute über die Liberalisierung der Sterbehilfe. Bundestags-Vizepräsident Peter Hintze (CDU) ist dafür - unter bestimmten Umständen. Im DLF sagte er: "Zum Kern der Menschenwürde gehört für mich die Selbstbestimmung." Viele Abgeordnete sähen das bei der Sterbehilfe allerdings anders.

Peter Hintze im Gespräch mit Peter Kapern | 13.11.2014
    Peter Hintze, Bundestagsvizepräsident
    Peter Hintze, Bundestagsvizepräsident (dpa / Karlheinz Schindler)
    Im Bundestag stehe ein Großteil der Abgeordneten dieser Selbstbestimmung bei der Sterbehilfe längst nicht so offen gegenüber wie die Bevölkerung, sagte Hintze. Am Donnerstag wird in einer "Orientierungsdebatte" über Parteigrenzen hinweg über eine Liberalisierung der Sterbehilfe diskutiert. Unter den Abgeordneten gebe es unterschiedliche Auffassungen, so Hintze. Diese basierten auch auf "religiösen Vorstellungen".
    "Was muss der Staat regeln, wo muss er sich raushalten?"
    Bei der Diskussion um die Frage "Wie wertvoll ist uns das Leben?" müsse man im Auge behalten, dass es "bei einer zum Tode führenden Erkrankung nicht um das 'Ob' des Sterbens gehe, sondern um 'Wie'." Die entscheidende Frage sei: Was muss der Staat regeln und wo muss er sich raushalten? "Ich finde, in dieser sehr persönlichen Situation sollte sich der Staat weitestgehend raushalten, einige Kollegen sehen das anders."
    Hintze sprach sich gegen gemeinnützige Vereine zur Sterbehilfe aus. Man müsse die Palliativmedizin und das Hospizwesen stärken. Zudem sollten Ärzte und Angehörige Verantwortung übernehmen, da diese die Patienten am besten kennen.
    "Rechtssicherheit für Ärzte schaffen"
    Hintze will für Ärzte Rechtssicherheit schaffen, da die derzeitige Unsicherheit zu Lasten der Patienten gehe. Das Strafrecht schütze die Ärzte, doch das Berufsrecht der Ärztekammern habe unterschiedliche Regelungen. Ärzte überlegen, ob sie ihre Approbation verlieren könnten. "Deswegen schlagen wir vor, eine zivilrechtliche Grundlage zu schaffen, die die Gewissensfreiheit für Ärzte auf eine Grundlage stellt und Ärzten und Patienten Rechtssicherheit gibt."

    Das Interview in voller Länge:
    Peter Kapern: Der Bundestag verabschiedet Gesetze, meistens jedenfalls. Manchmal aber, wenn er es gerade nicht tut, dann gehört das, was sich im Bundestag dann abspielt, zu den Sternstunden des Parlaments. Heute könnte wieder eine solche Sternstunde stattfinden: Eine, die gleich viereinhalb Stunden lang dauern wird. Eine Orientierungsaussprache steht an, in deren Verlauf ein halbes Hundert Abgeordnete das Wort ergreifen wollen. Kein Wunder, denn es geht um etwas wirklich Wichtiges: um das Thema Sterbehilfe.
    Bei uns am Telefon ist nun Bundestags-Vizepräsident Peter Hintze von der CDU, der gemeinsam mit anderen die Sterbehilfe in Deutschland, ich sage mal, in Grenzen liberalisieren will. Guten Morgen, Herr Hintze.
    Peter Hintze: Guten Morgen, Herr Kapern.
    Kapern: Herr Hintze, das gewählte Parlament soll ja eigentlich ein möglichst getreues Abbild der Wählerschaft sein. Bei der Frage der Sterbehilfe muss man aber eine tiefe Kluft zwischen Gewählten und Wählern feststellen. In vielen, vielen Umfragen hat sich eine klare Mehrheit der Bundesbürger für eine deutliche Liberalisierung der Sterbehilfe ausgesprochen; im Bundestag ist das Gegenteil der Fall. Gibt Ihnen das zu denken?
    Hintze: Sie sagen da ein wahres Wort. Ich hoffe sehr, dass die große Mehrheit in der Bevölkerung für Selbstbestimmung im Sterbeprozess auch eine Mehrheit im Deutschen Bundestag findet, und ich wünsche mir, dass das Ergebnis der Debatten und Beratungen ist. Aber sicher darüber kann man nicht sein.
    Kapern: Haben Sie eine Idee, warum das so ist, dass der Bundestag in dieser Frage offensichtlich ganz anders tickt als die Deutschen?
    Hintze: Ja, es ist immer so ein Konflikt, was soll der Staat regeln und was sollen die Menschen selbst entscheiden. Für mich gehört zum Kern der Menschenwürde die Selbstbestimmung und gerade auch die Selbstbestimmung in der kritischsten Phase des Lebens, die ein Mensch überhaupt je hat, nämlich in der Phase seines Sterbens. Darüber gibt es unterschiedliche Auffassungen, da gibt es auch religiöse Vorstellungen, die dahinter stehen, über den Wert und die Bedeutung des Lebens, die ich alle teile. Nur die Schlüsse daraus sind sehr unterschiedlich.
    Ich will mal einen ganz wichtigen Punkt nennen. Wenn es um die Frage geht, wie wertvoll ist uns das Leben in dieser Diskussion, dann wird ja immer unterschätzt, dass es bei einer zum Tode führenden schweren Erkrankung ja nie um das Ob des Sterbens geht, sondern immer um das Wie des Sterbens, und da sind halt die Kollegen sehr unterschiedlicher Auffassung, und vielleicht ist dann auch der große Wunsch, etwas moralisch Starkes zu leisten, und bei dem Wunsch kann man manchmal auch das moralisch Starke verfehlen.
    Diskussion um die Rolle Staates im Sterben
    Kapern: Jetzt muss ich noch mal nachfragen, weil ich ja gefragt hatte nach der Diskrepanz zwischen Wählern und Gewählten. Halten sich die Gewählten für moralischer als die Wähler?
    Hintze: Na ja, das will ich keinem unterstellen. Aber es sind halt unterschiedliche Perspektiven. Die entscheidende Frage ist: Was muss der Staat regeln und wo muss sich der Staat raushalten? Ich finde, in dieser sehr persönlichen Situation, im Prozess des Sterbens, sollte sich der Staat weitestgehend raushalten. Andere Kollegen sehen das anders, und darüber müssen wir uns austauschen.
    Kapern: Gleichwohl sind ja auch Sie dagegen, die sogenannte organisierte Sterbehilfe zum Beispiel durch gemeinnützige Vereine, die keinerlei finanzielle Interessen verfolgen, zu untersagen. Warum das?
    Hintze: Ich finde es schon sehr wichtig - und das ist auch die Grundlage unserer Regelung -, dass ein Mensch, der in einer solchen kritischen Situation ist, wirklich die bestmöglichste Begleitung bekommt. Deswegen sind wir ja für den Ausbau der Palliativmedizin, für den Ausbau des Hospizwesens. Deswegen wollen wir aber auch diese Frage, auch nach dem Wie des Sterbens, in die Verantwortung der Menschen und der Ärzte legen, die den Sterbenden begleiten, weil sie kennen ihn, sie können einschätzen, ob seine Haltung, seine Einstellung wirklich eine dauerhafte ist, sie können die Schwere seiner Krankheit beurteilen. Das ist, glaube ich, gut, dass wir diesen Bereich aus einer Grauzone herausholen und hier rechtliche Sicherheit schaffen.
    Kapern: Aber viele Sterbende wollen vielleicht ja gerade vermeiden, ihre engsten Angehörigen mit solchen Fragen zu konfrontieren und zu belasten, und wollen lieber darüber mit Menschen reden, die sehr viel Erfahrung in solchen Fragen haben, die beispielsweise in solchen Vereinen tätig sind.
    Hintze: Ja, das Argument ist nicht vollkommen von der Hand zu weisen. Das werden wir jetzt auch diskutieren. Wir sind ja erst am Anfang dieses ganzen Prozesses, das ist schon ganz klar. Für mich ist jedenfalls wichtig, dass der einzelne Mensch auch in dieser kritischen Phase seines Lebens seine Selbstbestimmung behält und dass wir uns aus der Politik da weitgehend zurückhalten.
    Kapern: Nun haben Sie eben das Stichwort Palliativmedizin genannt, Herr Hintze. Gesundheitsminister Gröhe hat gerade einen Plan präsentiert für eine flächendeckende palliativmedizinische Versorgung in Deutschland. Allen Menschen soll Zugang zu einer solchen Versorgung gewährleistet werden, damit das Sterben nicht zu einer furchtbaren Qual wird. Erübrigt das eine Regelung für die Sterbehilfe?
    Palliativmedizin und Sterbehilfe nicht gegeneinander ausspielen
    Hintze: Das wäre sehr schön und man muss schon sagen, dass die Palliativmedizin ein Segen ist, dass sie große Fortschritte gebracht hat. Die Palliativmedizin setzt ja da ein, wo die kurative Medizin, die heilende Medizin nicht mehr weiterhelfen kann. Aber leider ist es so, dass auch die Palliativmedizin an ihre Grenzen stößt und dass dann der Leidensdruck so groß wird, dass in wenigen Fällen - es sind nicht sehr viele, aber in wenigen Fällen - Menschen das nicht mehr aushalten können. Das sagen mir gerade auch Palliativmediziner. Herr Borasio, einer der ganz Großen, der Palliativmedizin in München und Lausanne lehrt, hat dazu ein eindrucksvolles Buch mit ganz vielen Beispielen, zum Teil auch sehr bedrückenden Beispielen geschrieben. Deswegen finden wir es so wichtig, dass wir Palliativmedizin und Sterbehilfe nicht gegeneinander ausspielen, sondern dass wir sagen, wir müssen alles tun, Menschen so liebevoll zu begleiten, dass sie auch zu einem Lebensrest noch ganz positiv Ja sagen können und dass das Ja zum Leben gestärkt wird. Aber wir müssen auch anerkennen, dass es Situationen gibt, wo Menschen das dann nicht mehr können, und da dürfen wir ihnen nicht irgendeine Moral Dritter vorschreiben, sondern da müssen wir sie selbst entscheiden lassen.
    Kapern: Da kann ich Sie in dieser Frage nicht ganz so einfach davon kommen lassen, Herr Hintze. Auch ich habe ein Zitat eines Palliativmediziners parat. Der heißt Lukas Radbruch und ist immerhin der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin. Und er wird zitiert mit dem Satz: „Es gibt keine Situation, in der die Palliativmedizin nichts mehr anzubieten hat." Kann sie also doch die Sterbehilfe ersetzen?
    Hintze: Na ja. Ich finde das, was Herr Radbruch sagt, wichtig. Die Palliativmedizin hat natürlich immer ein Angebot. Die Frage ist, ob dieses Angebot doch stark genug ist, oder ob es nicht einmal an dem Leiden des Patienten zerbricht. Und wenn es eines Tages mal so ist, dass wir jedem Menschen so helfen können, dass er friedlich entschlafen kann mit den Mitteln der Palliativmedizin, dann bin ich darüber sehr, sehr froh. Aber wir müssen halt sehen, dass es Grenzsituationen gibt, wo das nicht der Fall ist, und da, finde ich, haben die Menschen einen Anspruch auch, dass der Arzt ihnen beisteht, wenn sie sagen, ich möchte jetzt friedlich entschlafen und ich will den Leidensdruck nicht mehr aushalten.
    Kapern: Das tun Ärzte heute schon. Warum müssen Sie dieses Tun ausgerechnet durch ein Gesetz noch stärken?
    Hintze: Das ist eine gute Frage. Wir haben heute eine Unsicherheit für Ärzte, die zulasten der Patienten geht. Nach dem Strafrecht ist Ärzten die Beihilfe zum selbstverantworteten Sterben erlaubt. Nach dem ärztlichen Berufsrecht ist das in den deutschen Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt, ganz seltsam bei mir in Nordrhein-Westfalen, weil wir hier zwei Ärztekammern haben. Die Ärztekammer Rheinland sagt nein, das ist verboten, die Ärztekammer Westfalen sagt, das ist in bestimmten Extremsituationen erlaubt, also in Düsseldorf verboten, in Dortmund erlaubt. Das ist eine Unsicherheit für Ärzte, die wollen wir ihnen nehmen. Sie werden zwar nicht vom Strafrecht bedroht, aber von ihrem Standesrecht. Sie überlegen, ob sie ihre Approbation verlieren könnten, und dann kann es sein, dass es den Beistand, der von ihnen erwartet wird und den sie nach ihrer eigenen Gewissensentscheidung auch geben wollen, nicht gibt. Deswegen schlagen wir mit Kollegen aus der CDU, der CSU und der SPD vor - und ich denke, dass auch Grüne und andere dazustoßen -, eine zivilrechtliche Grundlage zu schaffen, die die Gewissensfreiheit für Ärzte praktisch auf eine gute Grundlage stellt und die Patienten und Ärzten hier Rechtssicherheit gibt.
    Kapern: Aber, Herr Hintze, weder in Düsseldorf, noch in Dortmund, noch sonst wo in Deutschland hat jemals ein Arzt seine Approbation verloren, weil er eine Sterbehilfe geleistet hat. Wollen Sie etwas regeln, was überhaupt kein Problem ist bislang?
    Ärzte vor Prozessen schützen
    Hintze: Es ist so, dass die Ärzte, mit denen wir auch sprechen, sagen, für uns ist Sicherheit wichtig. Wir wollen gar nicht in die Situation kommen, dass wir in einen Prozess hineinkommen, dass die Staatsanwaltschaft gegen uns ermittelt. Das hat es schon gegeben. Es ist zwar so, dass die Gerichte regelmäßig dann den Ärzten recht gegeben haben, aber ein Arzt will gar nicht in so ein Prozessrisiko reingeraten. Das finde ich auch von der Gesellschaft richtig, das können wir nicht auf ihren Schultern abladen. Es ist ja so, dass auch führende Repräsentanten der Kirchen dann sagen, was ich einerseits sehr tröstlich finde, es gibt Extremsituationen, gut, die sind halt jenseits des Gesetzes, dann muss der Arzt gucken, ob er das mit seinem Gewissen verantworten kann. Aber ich will auch die rechtlichen Folgen für ihn wirklich überschaubar machen und ich will ihm Rechtssicherheit geben, und ich finde, das sind wir unseren Ärzten schuldig, gerade solchen, die mit schwerstkranken und sterbenden Menschen arbeiten, die sie begleiten, die ihnen versuchen zu helfen, die das Ja zum Leben stärken, dass sie auch das Ja der Politik bekommen, dass sie einen rechtssicheren Grund für ihre Gewissensentscheidung haben.
    Kapern: Herr Hintze, kurz noch zum Schluss: Wie weit wird die heutige Debatte tragen?
    Hintze: Ich glaube, dass die Debatte einen Wert an sich hat, weil wir nämlich damit einen tabuisierten Bereich des menschlichen Lebens, das menschliche Sterben aus dem Schweigen herausholen, weil wir dann darüber sprechen, was geschehen muss, zum Beispiel mit unserem Abrechnungssystem bei den Ärzten, dass ein Arzt, ein Hausarzt oder eine Hausärztin, die bereit sind, einen Sterbenden zuhause mehrfach zu besuchen, ihn wirklich zu begleiten, ihm Sicherheit und Ruhe zu geben, dass das auch im Abrechnungssystem unserer Kassen sich wiederfindet, dass die Palliativversorgung nicht nur Leuchttürme hat in verschiedenen Bereichen, wo sie gut funktioniert, sondern dass sie flächendeckend angeboten wird, dass wir miteinander darüber sprechen, dass die Begleitung eines Sterbenden die wichtigste menschliche Zuwendung überhaupt ist, die wichtigste Form der menschlichen Zuwendung. Dass darüber gesprochen wird vor dem Forum des Deutschen Bundestages, damit über die Medien, das, finde ich, ist ein großer Wert an sich.
    Kapern: ..., sagt der CDU-Bundestagsabgeordnete Peter Hintze heute früh im Deutschlandfunk. Herr Hintze, danke, dass Sie Zeit für uns hatten. Ich wünsche Ihnen einen guten Tag.
    Hintze: Bitte schön!
    Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.