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Sterne der Eiszeit

Ausnahmen", glaubt Renata Serelyte, "passen zu Litauen besser als Regeln, Mythen besser als die Wirklichkeit". In den Augen der jungen Heldin ihres ersten Romans "Sterne der Eiszeit" kommt das litauische Dorfleben einem Weltwunder gleich: Männer ähneln dort "bedecktsamigen Farnen", Pan und Sartyr sind Stammkunden am Kiosk, einfältige Nachbarinnen gebären "Böcklein mit geschecktem Fell" und der Mairegen kommt als Roggenschnaps daher. - Es ist eine von jeder Logik ferne Welt, die von einem "Dämon" beherrscht wird: Von der Großmutter des Mädchens, die als "zudringlicher Vogelknöterich" letzte Wahrheiten zu verkünden weiß: "Näher bei den Kühen - näher bei Gott."

Natascha Freundel | 29.11.2002
    "Ausnahmen", glaubt Renata Serelyte, "passen zu Litauen besser als Regeln, Mythen besser als die Wirklichkeit". In den Augen der jungen Heldin ihres ersten Romans "Sterne der Eiszeit" kommt das litauische Dorfleben einem Weltwunder gleich: Männer ähneln dort "bedecktsamigen Farnen", Pan und Sartyr sind Stammkunden am Kiosk, einfältige Nachbarinnen gebären "Böcklein mit geschecktem Fell" und der Mairegen kommt als Roggenschnaps daher. - Es ist eine von jeder Logik ferne Welt, die von einem "Dämon" beherrscht wird: Von der Großmutter des Mädchens, die als "zudringlicher Vogelknöterich" letzte Wahrheiten zu verkünden weiß: "Näher bei den Kühen - näher bei Gott."

    Meiner Meinung nach herrscht die Frau, wie es in einem Sprichwort heißt, über drei Ecken des Hauses und der Mann nur über eine; doch - die Zeiten haben sich natürlich geändert. In meiner Prosa aber hat die Mutter oder Großmutter nicht nur als Erzieherin oder Ernährerin der Familie Bedeutung, sondern sie ist auch die Bewahrerin einer besonderen Tradition, der historischen Erinnerung. Sie ist Hexe und Heilige zugleich, mystisch und sehr real - sie ist sehr vieldeutig.

    Beinah genau die Hälfte des Romans widmet sich dem Dorf, in das der Sozialismus höchstens am Totengedenktag, in schulverordneten "poetischen Montagen" eindringt und in dem die Romanheldin von einem tagträumerischen Mädchen zur trinkfesten Mitarbeiterin des schäbigen Kulturhauses herangewächst. Dann stirbt die Großmutter und die junge Frau verlässt das heimische Biotop.

    Aus den "Sternen des Wehrmuts", so der Titel des ersten Teils, werden expressionistische "Sterne des Asphalts" und aus der Dorfgöre eine großstädtische Redakteurin des dubiosen Boulevardblattes "Drei Pinguine". Renata Serelyte soll hier aus ihren eigenen Erfahrungen als Journalistin geschöpft haben - doch man kann sich nur schwer vorstellen, dass diese etwas schüchtern wirkende Frau wie ihre Heldin von Bar zu Bar zieht und ihren Büro-Kaktus wahlweise mit Vodka oder Metaxa aufpäppelt.

    Immer fragmentarischer und surrealer wird die Szenerie des Romans. Sein zweiter Teil präsentiert eine ganz eigene Geschichte: Eine orange Mappe mit "Texten des Sponsors" der "Drei Pinguine" entwickelt ein aufdringliches Eigenleben. Sie verfolgt die Redakteurin mit klugen Sprüchen und stark an Kafka erinnernden Prosatexten. Sie fordert ihre Leserin zu Diskussionen über dichterische Wahrheit heraus, vor denen diese in finstere Cafés flüchtet.

    ..."Kindchen, jetzt herrschen andere Zeiten." - Andere Zeiten mit Neonaugen, die dich weder in der Nacht noch bei Tag sehen. Modische Bars, in denen es nach Mandeln duftet, nach Äther und Vanille. Männer, die keine Frauen mehr begehren, sondern ihre Imagination, und Frauen, die ihre Imagination lieben. - Das Gespenst der Imagination geht um in Litauen. - Gottes blaue Tränen in einem Glas an der Bar. - "Was soll's... dann trinke ich eben mit", murmelte ich...

    "Sterne der Eiszeit" ist ein Roman über ein Land und ein Leben im Übergang - von der "ersten Eiszeit" des Realsozialismus zur "zweiten Eiszeit" des Realkapitalismus, vom brutal bodenständigen Leben auf dem Lande zum zwielichtig surrealen Überleben in den neuen Städten, vom sagengesättigten litauischen Katholizismus zur gespenstischen Leere der Postmoderne. Ausnahmen und Mythen sind Renata Serelytes bevorzugte Wege, um die Regeln und die Wirklichkeit dieser Wandlungen aufzuspüren. Weit davon entfernt, linear zu erzählen, überbieten sich die Kapitel ihres Buchs geradezu darin, den Leser auf die falsche Fährte zu locken. Motive des Aberglaubens verzahnen sich unmittelbar mit nahezu mikroskopischen Aufnahmen der Umgebung, Bemerkungen zu literarischen und psychoanalytischen Wegmarken der Moderne von Nikolaj Gogol über Dostojewskij und Faulkner bis C.G. Jung mit Parodien des sozialistischen Realismus. Ohne Scheu vor Kitsch oder Altklugheit verwandelt die 32jährige Autorin ihre Erinnerungen an die Kindheit auf dem litauischen Dorf in ein Panorama der alkoholgetränkten Rückständigkeit. So heißt es:

    Die Trinker ... schweben langsam hoch in die wässrig-milchige Luft und schwimmen hin und her, von unsichtbaren Strömungen getragen, während sie ohnmächtig mit den Pfötchen schlagen und zu sprechen versuchen, doch ihren grünen Schnauzen entschlüpft bloß ein heiseres "Krr...Krr..." Die Unterwasserströmungen tragen sie nach Hause und lassen sie auf dem Dach liegend zurück; von dort aus gesehen klafft der Hof wie ein furchtbar weit entfernter Raum auf, in dem die einzelnen Familienmitglieder umherirren. Dazu Renata Serelyte:

    Ich mag eben diese Tradition der dörflichen Prosa nicht sehr, wo das Dorf so ein "Aha" darstellt, so einen Fluchtort von dieser schrecklichen Welt, irgendein Arkadien, ein ruhiges schönes Plätzchen, wo alles gut ist und alle gut sind. Das ist natürlich alles andere als objektiv, denn auch auf dem Dorf geschieht alles mögliche. Was für mich am allerschwierigsten war, ist diese Trägheit, dass sich niemand verändert, dass alles seinen gewohnten, phlegmatischen Gang geht. Von der einen Seite ist das auch gut so, das Dort schützt sich ja gewissermaßen mit seiner Konservativität. Aber wenn man jung ist, dann will man doch eher ein stürmisches Leben, will etwas bewegen, verändern. Das ist schwer, in so einer grauen Umgebung.

    Auf die Frage, wo sie denn am liebsten schreibe, gibt Renata Serelyte die Küche an: Denn im Wohnzimmer spielen die beiden Kinder und im Schlafzimmer schreibt man nicht. Und "Sterne der Eiszeit" erinnert ein bisschen an einen Eintopf, an dem alle Zutaten der Literatur ausprobiert worden sind. Der üppigen Kapitel nicht genug, folgt beiden Teilen des Buchs ein kreativ zusammengestellter aber manchmal schwer verdaulicher Nachtisch aus Prosastücken und Gedichtfetzen, die - naturgemäß - unregelmäßig numeriert sind und nach postmoderner Manier noch den letzten Rest eindeutiger 'literarischer Aussage' ad absurdum führen.

    Serelyte sucht in ihrem Roman nach einem eigenen Ton, der in Windeseile alle literarischen Neuerungen bewältigt, die der litauischen Kultur immer wieder verwehrt gewesen sind. Sie findet eine so vielschichtige wie überbordende Dichtung, die die romantizistische literarische Tradition Litauens weit hinter sich lässt :

    Bei uns wird dieser Tradition manchmal mehr Bedeutung zugemessen, als ihr eigentlich zukommt. Und von dieser etwas übertriebenen Bedeutung möchte ich, zum einen, mich selbst befreien und auch sie selbst - irgendwie möchte ich, dass die litauische Literatur nicht so toternst, so traurig ist; dass sie nicht nur eine ironische, sondern einfach auch eine helle Seite hat. Wie vielleicht bei dem Franzosen Rabelais, irgend so etwas.